Häutung der Zwiebel
BerichtDas Musiktheaterexperiment „Mensch Masse Macht“ beim Taschenopernfestival Salzburg

Beim Taschenopernfestival gehen Text, Musik und Theater stets neue Allianzen ein. Dieses Mal sollte die übliche Arbeitsfolge von Libretto, Vertonung und Inszenierung vertauscht und ein Chor gleichsam als Orchester szenisch agierende Schauspieler:innen anstelle von Gesangssolist:innen begleiten. Der Autor und Dramaturg Hans-Peter Jahn schrieb hierfür das Theaterstück „Masken des Bösen“ in Anlehnung an Thomas Manns „Mario und der Zauberer“. Auf diese Novelle sollten sich auch die vier neuen Chorwerke beziehen, ohne allerdings diesen oder irgendeinen anderen Text zu vertonen. Einzig Elena Mendoza setzte sich über das Konzept hinweg und vertonte Günter Kunerts thematisch verwandtes Gedicht „Der Zauberkünstler“. Die Auftragswerke wurden von der Ernst von Siemens Musikstiftung gefördert und bereits ein Jahr im Voraus vom SWR Vokalensemble in Stuttgart einstudiert und aufgezeichnet. Dadurch sollten Jahn und Regisseur Thierry Bruehl genug Zeit erhalten, um die bereits komponierte Musik nachträglich mit Jahns Text zum Musiktheater „Mensch Masse Macht“ zu verbinden. So experimentell das Konzept, so konfliktreich die praktische Erarbeitung und Uraufführung.
Weder Fisch noch Fleisch
Das Taschenopernfestival Salzburg wird seit 2005 als Biennale in den jeweils ungeraden Jahren von Klang21 veranstaltet. Im Vorstand des Trägervereins verantwortet Thierry Bruehl die künstlerische Leitung und Cay Bubendorfer als Präsidentin die Finanzierung und Kommunikation. In der Regel werden vier bis fünf Kurzopern zu einem von Hans-Peter Jahn als Autor und Dramaturg mitentwickelten gemeinsamen Thema in Auftrag gegeben und dann als Gesamtabend uraufgeführt und weitere drei weitere Male gegeben. Als Spielstätten dienten bisher Toihaus Theater, ARGE Kultur und SZENE Salzburg in der Altstadt. Diesmal war es erstmalig der Dorothea Porsche Saal des Odeïon im Rudolf Steiner Schulzentrum des benachbarten Mayrwies. Das ungewöhnliche Konzept sollte die alte Streitfrage: „‚prima la musica e poi le parole‘ oder andersrum?“ elegant aushebeln. Gegenüber dem traditionellen Opernbetrieb bot es den Vorteil, dass sich Theater und Musik mit speziellen Kräften besetzen und dadurch tatsächlich herausragende Leistungen erzielen ließen: hier exzellente Textverständlichkeit und schauspielerische Intensität, dort brillanter Chorgesang und höchste Konzentration auf die Musik. Nachteilig wirkte, dass Szene und Musik wenig bis nichts voneinander wussten. Statt sich gegenseitig zu kommentieren und dramatisch zu intensivieren, liefen sie meist lose nebeneinanderher oder störten sich gegenseitig: Die Textpassagen unterbrachen die Spannungs- und Formverläufe der Musik, die tranchierten Chorstücke zerstückelten umgekehrt die Handlung des Theaters. Musik und Text waren schlicht nicht füreinander gemacht und sollten dennoch ein Ganzes ergeben. Das Ergebnis war weder Theatermusik noch Musiktheater, weder Fisch noch Fleisch, eher Vitello tonnato.
Hinter den Kulissen war zu erfahren, dass sowohl das Theaterstück als auch die Chorkompositionen teils stark gekürzt wurden. Bei der Aufführung machte sich das insofern bemerkbar, als die angekündigte Kernfrage am Ende kaum mehr eine Rolle spielte: „Kann es Freiheit des Denkens und Handelns in einer solchen Gegenwart der proklamierten Gegensätze geben?“ Thomas Mann hatte in seiner Novelle 1930 den wachsenden Einfluss des aggressiven Nationalismus im faschistischen Italien auf eine zunehmend radikalisierte Gesellschaft beleuchtet. Doch anstatt seine zeitdiagnostische Parabel auf unsere politisch ähnlich polarisierte Gegenwart zu übertragen, handelte „Mensch Masse Macht“ bloß von Gewinnern und Verlieren des Massentourismus in dem von Mann beschriebenen ligurischen Badeort Torre di Venere. Der einflussreiche Padrone Luigi (Maarten Güppertz) kann nicht genug zahlende Badegäste und neue Hotelkomplexe bekommen. Der junge Kellner und Eisverkäufer Mario (Joshua Miro Ebsen) kritisiert dagegen Überfüllung, Verbauung, Meeresverschmutzung, Ignoranz der Touristen und die verlotterte Gastronomie in seinem Heimatdorf, wo man die Sepia alla griglia aus Namibia bezieht und als Salsiccia in Wirklichkeit russische Bockwurst verköstigt. Übertüncht wird die vom Overtourism zu bloßer Staffage ausgehöhlte Italianitá durch umso mehr Lokalkolorit. Bruehl inszeniert das sinnlich, unterhaltsam, detailverliebt und Jahns Text ist voll italienischer Redewendungen. Der Zauberer Cipolla genießt – von Mario bedient – ein mehrgängiges Menü in der Trattoria mit Panini, Insalata mista, Pasta, Vino bianco, Grappa … Dazwischen singt der „Salzburger Festspiele und Theater Kinderchor“ wunderschön Verdi-Chöre und Aida-Trompeten.

Madrigaleske Virtuosität
Je mehr Requisiten und Aktionen die Regie jedoch auf die Bühne bringt, desto mehr verliert sie sich in bunter Oberflächlichkeit, statt das von Mann beschriebene Verhängnis erlebbar zu machen: wie nämlich der dämonische Hypnotiseur Cipolla (Michael Günther) andere Menschen zu willenlosen Befehlsempfängern degradiert und auch Luigi und Mario zu Marionetten macht, die nach seinen Fäden tanzen müssen. Die nette Kinderschar mit der selbstbewussten Anführerin Giulietta (Hermine Schrattenecker) wird zwar vom Zauberer eingespannt und gelenkt, bleibt aber stets lieb, herzig, süß und schreit allenfalls frech nach dem nächsten Gelato. Mit einer von Demagog:innen und Populist:innen manipulierten, aufgehetzten sowie in Filterblasen eingesponnenen fanatisierten Masse, die andere Menschen ausgrenzt, bedroht, verfolgt, hatte das nichts zu tun. Immerhin schienen die Chorkompositionen gesellschaftspolitische Prozesse madrigalesk in wechselnden Verhältnissen nachzubilden, etwa im Gegensatz von verletzlichen Einzelstimmen und kollektiven Klangmassen. Im ersten Akt beginnt Vito Žurajs „IOMENA“ mit sanften Arabesken, die sich zu einem hypnotisch wogenden Gesamtklang überlagern. Der Schluss des Stücks zerfällt dann in gutturales Knurren der Männer- und helles Zischen der Frauenstimmen, was immerhin die beklemmende Gereiztheit und Bösartigkeit andeutete, die der Erzähler in Manns Novelle während der italienischen Sommerfrische registriert. Im zweiten Akt folgen Nikolaus Brass´ „Chorszenen für ein Musiktheater“ mit schlürfendem Ein- und keuchendem Ausatmen. Darüber legen sich klar gesungene Töne, die sich zu Kantilenen verzweigen und schließlich zu ekstatischen Glissando-Orgien überschlagen, bis alles wieder in ruhigen Wechseltönen ausschwingt, als sei nichts vorgefallen beziehungsweise alles spurlos unter den Teppich gekehrt worden.
Nach der Pause, im dritten Akt, sorgte Elena Mendozas „Über Zauberei“ für eine engere Verzahnung von Musik und Theater. Indem der Magier verschiedene Bücher auf- und wieder zuklappt, setzt jedes Mal kurz der Chor ein, als sprächen und sängen aus den Büchern eingesperrte Stimmen. Zur Hypnose von Luigi und Mario steigert sich die Musik zum rhythmisch-repetitiven Konsonanten-Rap „Ti-ke-ta-ke, Bu-tze-ke-be …“. Während Cipolla durch Hypnose Mario dazu zwingt, seinen Gegner Luigi zu küssen, steigert Mario den vielmals wiederholten Satz „Er nahm mein Gesicht und benutzte es als Maske“ aus Günter Kunerts Gedicht von apathisch geleiertem Sprechgesang bis zum Verzweiflungsschrei. Aus der Trance erwacht, ersticht Mario seinen Vergewaltiger und die Szene erstarrt. Ohne weitere Bühnenaktion folgt dann das furiose Chorstück „Massenkristall“ von Bernd Richard Deutsch. Das SWR Vokalensemble gestaltete mit packender Energie und Varianz effektvolle Wechsel von Frauen- und Männerchor, zwei- und dreihebigen Rhythmen, homophoner Pracht- und Machtentfaltung, schnellem Stakkato und Silben-Parlando, energetischem Klatschen, vielstimmigem Pfeifen, temporeichem Lachen, jubilierendem Jauchzen sowie am Ende einem sanft gleitenden Klagegesang. Mit faszinierender Virtuosität und Verführungskunst schien diese vielstimmige Chormusik die schillernde Hauptfigur wie eine Häutung der Zwiebel (ital.: Cipolla) ohne fasslichen Kern zu porträtieren. Und das vermittelte am Ende die Ahnung, das eigentliche Kraftzentrum des Geschehens sei von Anfang an der facettenreiche Chor gewesen und der Zauberer lediglich ein Katalysator des fatalen Dreischritts „Mensch Masse Macht“, heiße der Demagoge nun Cipolla oder Mussolini, Hitler, Stalin, Putin, Trump oder sonst wie.
Glücklicher Wahn
Die Größe und Strahlkraft des von Peter Rundel ebenso präzise wie gestisch sprechend geleiteten SWR Vokalensembles sprengte das beim Taschenopernfestival sonst übliche Format der Miniaturopern mit kleinem Instrumentalensemble und wenigen Vokalsolisten. Weil der Rundfunkchor ein reiner Konzertchor ist, war von vorneherein klar, dass die 28 Sängerinnen und Sänger nicht szenisch agieren würden. Mit Notenständern zuerst neben der Bühne und dann im Bühnenhintergrund platziert, bewältigten sie souverän die schwierigsten Partien, beteiligten sich aber nur vereinzelt mit wenigen Gesten an der Handlung. Auch deswegen ließ die Fülle des Gesangs schließlich die Kernfrage nach der Freiheit des Denkens und Handeln vergessen und das Publikum am Ende ähnlich ahnungslos zurück wie die Kinder nach der Vorstellung des Hypnotiseurs in Thomas Manns „Mario und der Zauberer“, die nicht verstanden, „wo das Spektakel aufhörte und die Katastrophe begann, und man hat sie in dem glücklichen Wahn gelassen, dass alles Theater gewesen sei“.
Unser Angebot ist kostenfrei. Warum? Weil wir der Meinung sind, dass Qualitätsjournalismus für alle verfügbar sein sollte. Mit dieser Einstellung sind wir nicht alleine: viele Leser:innen schätzen unser Engagement. Mit Ihrer Unterstützung können wir weitermachen. Nutzen Sie jetzt unser Spendenabo (schon ab 6 Euro) oder werden Sie Fördermitglied – und damit Teil unserer Community!