Im Koffer die Welt
InterviewEva Zöllner im Gespräch

Hanna Fink: Eva, du spielst Akkordeon, seit du zehn Jahre alt bist. Die letzten zwanzig Jahre warst du Vollzeit als Musikerin in der zeitgenössischen Musikwelt unterwegs. Inwiefern hat sich das Repertoire für Akkordeon im Bereich zeitgenössischer Musik geändert oder gewandelt?
Eva Zöllner: Das Repertoire hat sich dadurch gewandelt, dass das Instrument an sich viel mehr akzeptiert und als „ernstes“ Instrument etabliert worden ist. In den 90er Jahren, musste man sich durch Solostücke wichtiger Komponist:innen für das Akkordeon erst einen Ruf erkämpfen. Als ich vor 25 Jahren angefangen habe, mich für Neue Musik zu interessieren, konnte man Akkordeonist:innen in dem Bereich an einer Hand abzählen. Um die Jahrtausendwende wurde dann das Potenzial des Instruments entdeckt, für Kammermusik wie auch im Orchesterbereich. In der Zeitspanne, in der ich das mitverfolge, ist sehr viel passiert, auch stilistisch. Es wurde experimentiert, mit Elektronik gearbeitet oder mit performativen Ansätzen. Selbst heute entdecken Komponist:innen immer noch neue Klänge, die das Akkordeon hervorbringen kann. Die Präsenz des Instruments im Musikleben hat sich in den letzten Jahrzehnten dadurch sehr verändert. Das ist ein noch nicht abgeschlossener Prozess und für mich ist es schön, ein Teil davon zu sein.
Welche Komponist:innen haben für Akkordeon komponiert?
Zu Beginn dieser Entwicklung in den 90er Jahren u.a. Toshio Hosokawa, Mauricio Kagel, Luciano Berio mit „Sequenza XIII“, auch Rebecca Saunders, und Olga Neuwirth zum Beispiel hat früh auch Musiktheater mit Akkordeon geschrieben. In Bezug auf die jüngere Komponist:innengeneration von heute könnte ich gar nicht alle Namen aufzählen.
Sofia Gubaidulina war eine der allerersten, die auch nach wie vor – finde ich – die besten Werke für Akkordeon komponiert hat. Das sind Stücke, die den Weg ins Repertoire gefunden haben. Sie hat das Instrument so unfassbar gut verstanden, diese Menschlichkeit, die das Akkordeon hat. „De Profundis“ (1978) von Sofia Gubaidulina ist meiner Meinung nach eines der stärksten Stücke für Akkordeon überhaupt, weil sie mit der Körperlichkeit des Instruments und der Interpretin oder des Interpreten gekonnt umgeht. Ich habe ihre Musik hunderte Male aufgeführt, sie wächst jedes Mal weiter und verändert sich.
Du bist viel auf Reisen. Was nimmst du selbst davon mit?
Das Akkordeon ist schon immer ein Reiseinstrument gewesen und hat in verschiedenen Regionen weltweit eine jeweils ganz eigene Musiktradition entwickelt. In Südamerika beispielsweise gibt es ganz viele Musikstile, in denen das Akkordeon sehr prominent ist, oder in Südafrika oder im Kaukasus. Vor allem gibt es Orte, in denen das Akkordeon viel mehr im Sozialleben als im Konzertsaal verankert ist. Das Akkordeon dort in einen neuen Kontext zu setzen, ist sehr spannend. Wie arbeiten Komponist:innen vor Ort mit dem Instrument? Und wie reagiert das Publikum? In Südafrika beispielsweise gibt es eine Konzertina-Tradition, die hierzulande fast unbekannt ist. Ich war total überrascht, dass es diese Subkulturen dort gibt, und es war interessant zu sehen, wie Komponist:innen – davon beeinflusst – mit meinem Instrument umgehen. In Mexiko und Kolumbien war ich sehr oft unterwegs und habe mit dortigen Komponist:innen gearbeitet. In beiden Ländern gibt es eine sehr große Nähe zum Akkordeon, weil es in der Popularmusik sehr präsent ist. Ich habe auf Basis meiner intensiven Beschäftigung 2023 auch eine CD mit zeitgenössischer kolumbianischer Musik herausgebracht.1 Die Verbindung von traditioneller oder eher: populärer Musik mit einer zeitgenössischen Stilistik ist interessant, weil es unerwartete Türen öffnet, und liegt mit dem Akkordeon auch nahe.

Du hast bereits viele Uraufführungen gespielt und viele der Werke sind explizit für dich geschrieben. Gibt es Komponist:innen, mit denen du immer wieder zusammenarbeitest?
Mir ist vor allem die zwischenmenschliche Komponente sehr wichtig. Ich achte bei der Auswahl für solche Zusammenarbeiten natürlich darauf, ob die Person gute Musik schreibt, aber ich orientiere mich auch am Gefühl, ob wir uns zwischenmenschlich etwas zu sagen haben. Über die Jahre sind mit mehreren Komponist:innen, hauptsächlich Frauen, tatsächlich sehr enge Freundschaften entstanden und auch der Wunsch, intensiver miteinander zu arbeiten oder die Arbeit nochmal auf ein neues Level zu heben; Georgina Derbez aus Mexiko ist da ein ganz gutes Beispiel. Mit ihr arbeite ich seit über zwanzig Jahren in verschiedenen Kontexten, vom Solostück bis zur Kammeroper.
Gibt es kompositorische Topoi fürs Akkordeon, die du nicht mehr hören kannst, und welche, die du immer wieder gerne siehst und spielst?
Ich kann echt keine Luftgeräusche mehr hören. Es ist wirklich nicht das Interessanteste, was man mit einem Akkordeon machen kann, aber man hat manchmal das Gefühl, in jedem neuen Stück muss irgendwie ein Luftgeräusch vorkommen … Spannend hingegen finde ich, wenn man das Rustikale und diesen ganzen „Ballast“, der dem Instrument anhängt, akzeptiert und damit spielt, wenn man zum Beispiel mit dem Standard-Bass-Manual (linke Hand, die beim Drücken eines Knopfes einen Akkord erzeugt) intelligente Musik im zeitgenössischen Kontext schreibt. In der Neuen Musik wird das Standard-Bass-Manual nicht so häufig benutzt, weil es aus einer harmonischen Tradition kommt, mit der wir eigentlich abgeschlossen haben. Aber man kann trotzdem interessante Dinge machen, wenn man sich einmal tiefergehend damit beschäftigt. Ich arbeite auch gern mit Elektronik, weil sie einen ganz anderen Klangkörper aus dem Instrument macht.
2015 hast du geschrieben:
„[…] All das fasziniert mich an meinem Instrument. Und das ist es, was ich weitertragen möchte, in die Musik von HEUTE. Es interessiert mich, was Komponist:innen meiner Generation in verschiedenen Teilen der Erde beschäftigt, wie sie auf die Welt von heute reagieren und wie ich einen Platz darin finden kann. Inwieweit kann ich als Interpretin Teil des kreativen Prozesses werden, Neues schaffen, Verbindungen knüpfen, Brücken zwischen Kulturen bauen, …? Ich möchte das Akkordeon erweitern und in neue Kontexte einbinden. Und ich möchte die Menschen berühren, inspirieren, zum Nachdenken anregen und nicht zuletzt auch unterhalten.“2
Würdest du das Statement heute nochmal genauso schreiben?
Ja, unbedingt. Aber ich würde es um das politische Verständnis meiner Arbeit als Musikerin, aber auch als Kuratorin und Organisatorin, die ich mittlerweile auch bin, ergänzen. Man trifft permanent Entscheidungen, mit denen man etwas bewirken kann: Welche Musik wird gespielt, mit wem, für wen, wo? Damit beziehe ich Position. Damit kann ich aber auch die Gesellschaft gestalten und Menschen sichtbar machen oder die Geschichten von Menschen sichtbar machen, die vielleicht (noch) nicht sichtbar sind. Das ist ein Thema, das sich bei mir durchzieht. Überhaupt ist in diesen ganzen Settings, in denen ich mich bewege, das Voneinander-Lernen wichtig für mich. In einem Kompositionsworkshop zum Beispiel profitiere ich selbst ganz viel, weil ich von Studierenden immer noch so viel lerne, über mein Instrument und auch über mich und meine Möglichkeiten als Performerin.
Du bist nun seit mehreren Jahren im Westerwald beheimatet und kuratierst eine Konzertreihe. Was sind deine Erfahrungen?
Ich habe zwanzig Jahre lang komplett freiberuflich als Akkordeonistin für Neue Musik gelebt. Da muss man auch selbst für Auftrittsmöglichkeiten und Finanzierung sorgen. Und ich denke mir gerne neue Projekte und Formate aus. Als ich vor acht Jahren hier in den Westerwald nach Rheinland-Pfalz gezogen bin, habe ich den Versuch gestartet, in der westdeutschen Provinz eine Reihe für zeitgenössische Musik zum Leben zu erwecken. Vor allem war und ist es mir ein Anliegen, mit dem Umfeld an meinem Wohnort das zu teilen, was mir im Leben wichtig ist. Alle haben die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, weil es doch irgendwie eine verrückte Idee war, aber ich habe es nicht bereut: Seit acht Jahren gibt es die Konzertreihe „Lauschvisite“ in Montabaur mit vier Konzerten im Jahr. Es ist eine Herausforderung, aber es ist wichtig. Und das Publikum weiß es zu schätzen, dass es hier im ländlichen Raum auch solche Kulturangebote gibt. Ich glaube, man darf den Leuten auf dem Land viel mehr zutrauen, als man denkt.
Rheinland-Pfalz ist ein Land, das Amateurmusik verstärkt fördert. Hier gibt es wirklich sehr viel qualitativ hochwertige Chor- und Orchestermusik. Aber in Rheinland-Pfalz gibt es nur eine Musikhochschule, nämlich in Mainz. Das heißt, es gibt hier gar nicht so viele professionelle Musiker:innen und sehr wenige, die das hauptberuflich machen. Es ist ein ganz schwieriges Pflaster für Musiker:innen, die selbst etwas auf die Beine stellen wollen, weil die Förderstrukturen für die Freie Szene im Land sehr schlecht sind. Die Konzertreihe habe ich oft über Bundestöpfe verschiedenster Art finanziert, weil es bei Land und Kommune schwierig ist. Vor allem im Bereich der zeitgenössischen Kunst gibt es in Rheinland-Pfalz viele sehr interessante Initiativen. Aber die Musik ist da aus irgendeinem Grund ein bisschen steckengeblieben.

Welche Rolle spielen Ensembles Neuer Musik für dich?
Ich spiele heute nicht mehr fest in einem größeren Ensemble mit, für mich machen kleinere Konstellationen mehr Sinn, mit Menschen, von denen ich lernen kann und mit denen ich gern zusammenarbeite. Das Schöne am Akkordeon ist, dass es mit so vielen Instrumenten gut funktioniert. Ich habe mehrere Musikerinnen, mit denen ich schon sehr lange zusammenarbeite, z.B. mit Kerstin Petersen (Orgel) oder Verena Wüsthoff (Blockflöten). Das Duo mit Heather Roche (Klarinette) ist mir sehr wichtig und begleitet mich seit mittlerweile zehn Jahren. Wir haben beide dieselben Ideen über die Composer-Performer-Relationship und interessieren uns sehr dafür, das Wissen über unsere Instrumente weiterzugeben und im Duo-Kontext damit wieder neue Dinge zu entdecken, die uns selbst überraschen.
Ich habe jetzt lauter Blasinstrumente im weitesten Sinne genannt. Aber ich hatte lange Zeit z.B. auch ein Duo mit Harfe oder Kontrabass. Das Akkordeon ist ein bisschen wie ein Chamäleon, es passt sich farblich an und ist vielseitig.
Welche Rolle spielt für dich Improvisation?
In den letzten Jahren ist sie für mich wichtiger geworden. Besonders während der Pandemie habe ich mich viel damit beschäftigt. Es ist ein Weg, mich authentisch auszudrücken. In meinem Selbstverständnis als Interpretin bringe ich natürlich einiges von mir selbst in die Interpretation eines Stückes ein. Aber bei der Improvisation geht es noch einen Schritt weiter. Dabei kann ich mein Wissen um das Instrument und seine Möglichkeiten in Echtzeit ganz anders einsetzen – wobei ich am liebsten mit anderen Leuten zusammen improvisiere. Dieser kommunikative Faktor ist mir auch hier sehr wichtig, ich habe beispielsweise ein Impro-Trio mit meinem Partner Stefan Kohmann (Vibraphon) und Ingo Weiß (Saxophon).
Gibt es einen Moment, einen Klang oder eine Erfahrung, die dich und dein Spiel außerordentlich geprägt hat?
Eine Tour in Ghana, bei der ich u.a. mit Musiker:innen und Tänzer:innen aus Westafrika zusammengearbeitet habe, hat mein Verständnis von Musik verändert und damit auch die Art, wie ich mit Musik arbeite. Für mich hat sich dabei vor allem die Wahrnehmung verändert, wie ich mit meinem Instrument arbeite und wie ich damit in Interaktion mit anderen Menschen gehe. Ich denke seitdem z.B. sehr viel bewusster über Musik als Kommunikationsmedium nach und spüre das vor allem in der Improvisation. Ich bin sehr dankbar für diese Erfahrungen in Westafrika, wo zwei Welten in einem experimentellen Setting aufeinandergeprallt sind, die am Ende viel voneinander gelernt haben.
Was sind deine nächsten Projekte?
Nächstes Jahr feiert mein Duo mit Heather Roche zehnjähriges Jubiläum, dazu werden wir ein paar neue Stücke auf den Weg bringen. Und ich plane eine Reise nach Georgien, das Land hat eine wirklich spannende und reiche Musikkultur. 2026 ist das Akkordeon außerdem das „Instrument des Jahres“ der Landesmusikräte. Vielleicht bekommen wir in dem Zuge ein Ensemble aus acht improvisierenden Akkordeonist:innen zusammen, die durch Deutschland reisen und mit lokalen Amateur-Akkordeon-Orchestern spielen werden. Und ich arbeite an einem neuen Solo-Programm, bei dem es im weitesten Sinne ums Zuhören und Hören gehen soll, unter anderem mit einem neuen Stück von Elnaz Seyedi. Aufmerksamkeit ist heutzutage ein wichtiges Gut geworden. Es geht in dem Programm auch um eine gesellschaftspolitische Frage: Wem hören wir zu (oder wem hören wir vielleicht nicht zu), warum ist das so und wie können wir uns dafür sensibilisieren?
1 „voces, señales. Zeitgenössische Akkordeonmusik aus Kolumbien“, GENUIN 2023.
2 https://www.eva-zoellner.de/profil.
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