recorded:
PlatteAsutenki: ひまわり画像 [Sunflower Images]

ひまわり画像 [Sunflower Images]
20 February 2019
Self-released
Signalwave, Broken Transmission, Easy Listening
Langformatige Kompositionen, Alben oder Werkreihen haben ein gewisses Etwas: Sie stellen die Zuhörenden vor die Herausforderung, die Musik in einem durchzuhören. Von Morton Feldmans „For Philip Guston“ und William Basinskis „The Disintegration Loops“ bis hin zu dem viral gegangenen „Everywhere at the End of Time“ von The Caretaker – diese ambitionierten Werke fesseln unsere Aufmerksamkeit sowohl durch ihren Inhalt als auch durch ihre beeindruckende Länge.
In Nischenkreisen der Vaporwave-Szene präsentiert der produktive japanische Produzent Asutenki (auch bekannt unter einer Vielzahl von Pseudonymen, darunter 暗い欲望 [Dark Desires], Matsuchi, NISEKO, Noryokun, Samasukuru, Virtual Polygon und 天気予報 [Weather Forecast], um nur einige zu nennen) mit seiner Veröffentlichung ein weniger zugängliches, ja eher monströses Projekt, das die Geduld ausreizt. Mit einer Spieldauer von über sechs Stunden und 360 Tracks entfaltet sich ひまわり画像 [„Sunflower Images“] als eine riesige Sammlung von Begleitgeräuschen aus Rundfunk, Fernsehwerbung, Jingles, Nachrichten-Bumpers, öffentlichen Bekanntmachungen, Hintergrundmusik von Wetterkanälen und anderen japanischen Medienresten. Das Ergebnis ist eine unheimliche, distanzierte Klanglandschaft, die eine seltsam universelle Nostalgie hervorruft, selbst für Medien, denen die Hörer:in persönlich noch nie begegnet ist.
Signalwave, auch bekannt als „broken transmission“, ist ein Subgenre des Vaporwave, das sich durch die Verwendung von Samples aus alten Fernseh- und Radiosendungen auszeichnet. Es entstand Anfang der 2010er Jahre aus dem experimentelleren Bereich des Vaporwave und präsentiert Samples als Ausgangsmaterial typischerweise unverändert und roh, anstatt sie zu neuen Kompositionen zu verarbeiten. „Sunflower Images“ ist jedoch keineswegs eine zufällige Sammlung von Samples. Dialog- und Musikschnipsel flirren neben Quasi-Eccojams (danke, Daniel Lopatin) hin und her und erzeugen einen surrealen, fieberhaften Rhythmus, der zum Weiterentdecken einlädt. Selbst die hier dargestellten Tagesphasen (vom Morgen bis zum Nachmittag, vom Sonnenaufgang bis zu ihrem Untergang und schließlich bis Mitternacht) werden mit einem unheimlichen Realismus wiedergegeben. Selbst wenn man die konzeptionelle Ambition des Albums leugnen mag, so kann man sicher nicht die Qualität der Umsetzung leugnen.
Wie eine Sonnenblume, die dem Lauf der Sonne am Himmel folgt, zeichnet das Album einen ganzen Tag in den japanischen Rundfunkmedien nach – was sich daran zeigt, dass viele Tracks schlichtweg die Uhrzeit zum Titel haben. Der erste Abschnitt (Broadcast Starts / Morning [Tracks 1-120]) widmet sich dem Aufwachen, dem Einschalten des Fernsehers, der Frühstückszubereitung und dem laufenden TV im Hintergrund; seine fröhlichen Jingles bieten eine Art Alltagsermutigung. Der zweite Abschnitt (Nachmittag / Sonnenuntergang [Tracks 121-240]) wechselt zu einem funky, aber dennoch gedämpften Ton, durchdrungen von der Wärme des Lichts, das am späten Nachmittag durchs Fenster fällt. Der letzte Abschnitt (Evening / Midnight [Tracks 241–360]) ist der verträumteste Part dieser Platte und fängt den Moment des Heimkommens ein: Man kommt nach Hause, merkt, dass der Fernseher noch läuft, und lässt sich von seinem fernen Schein in den Schlaf wiegen.
Aufgrund seiner Länge stellt „Sunflower Images“ eine Herausforderung dar. Wie bewertet man ein Album, das offenbar bewusst aus Füllmaterial besteht? (Und wo hat Asutenki wohl all die alten japanischen Werbemelodien gefunden, um fast sechs Stunden Musik zu füllen?) In gewisser Weise ist dieses Album tatsächlich nichts anderes als Füllmaterial; Asutenkis gesamte Diskografie lebt davon. 天気予報 [Wettervorhersage] ist als Konzept selbst Füllmasse: funktional, repetitiv und seltsam beruhigend. Es vermittelt den Geist einer Rundfunksendung, facettenreich und doch einfach zugänglich, die von einer Stimmung zur nächsten springt und dabei gleichzeitig Konsistenz bewahrt. Trotz seiner einschüchternden Länge erfüllt „Sunflower Images“ letztlich den Zweck von Hintergrundmusik. In diesem Sinne ist es vielleicht die wahrhaftigste Umsetzung von Brian Enos Definition von Ambient-Musik: „so ignorierbar wie interessant“.
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