Rolf Riehm reads the Odyssey and takes a coffee in a Venetian piazza

Essay

Gedanken zu Rolf Riehm

Jetzt ist – wie sonst auch – ein guter Zeitpunkt, um sich mit der Musik von Rolf Riehm zu beschäftigen. Rolf Riehm ist kürzlich achtundachtzig Jahre alt geworden. Seit Jahrzehnten agiert er als unerschrockener Beobachter der Welt, die ihn von zurückhaltendem Bedenken auch mal bis zur Weißglut gebracht hat – obwohl Protest in seiner Musik allgemein nicht lautstark geäußert wird, sondern eingebettet ist. Als er auf dem Höhepunkt der europäischen Avantgarde in Erscheinung trat (seine ersten veröffentlichten Kompositionen stammen aus dem Jahr 1961), erkannte er schnell, dass die radikalen Unsicherheiten der Zeit (Diskontinuität, entwurzelte Harmonie, marginale Klänge, elektronische Anpassungen) von – und zu – einer unruhigen Welt sprechen. Was muss die Kunst einer Zeit leisten, wenn die Zeit selbst aus den Fugen geraten ist? Seine Musik hat den englischsprachigen Raum nicht sonderlich durchdrungen. Vielleicht macht sie uns unruhig.

Es gibt aber Aufnahmen. In der jüngsten, 2023 bei Kreuzberg Records erschienenen, werden „Fremdling rede - Ballade Furor Odysseus“ (2002), eine kraftvolle Erzählung für Sprecher, Mezzosopran und großes Orchester, und das Stück „Double Distant Counterpoint“ (1994) für Kammerorchester und elektronische Zuspielungen, eine Betrachtung des Contrapunctus XI aus Bachs „Kunst der Fuge“, nebeneinandergestellt: „Fremdling rede - Ballade Furor Odysseus“ vertont die Geschichte von Odysseus beim Abendessen am Hof der Phaiaken und ist damit eines von mehreren Werken, die Riehm über die Erzählungen über Odysseus und die Sirenen schuf. Aus derselben Quelle sind zwei Opern entstanden: „Das Schweigen der Sirenen“ (1994), dem 1987 ein Konzertstück mit dem gleichen Titel vorausging, und „Sirenen – Bilder des Begehrens und des Vernichtens“ (2014), dessen Trailer noch immer auf der Website der Oper Frankfurt zu sehen ist (htpps://oper-frankfurt.de). 

Die Faszination der Sirenen-Geschichte liegt für Riehm weniger in der Musik selbst, sondern darin, dass sie das Paradoxon von Schönheit und Macht thematisiert. In einer Zeit, in der wir Ereignisse weder begreifen noch artikulieren oder ansprechen können, wie der Komponist in einem seiner Essays, dem Vorwort der Partitur von „Ciao, carissimo Claudio oder Die Steel Drums von San Marco“, bewegend formuliert, können uns die nacherzählten Verzweiflungen der Klassiker Trost spenden.

Riehms Musik, die typischerweise aus Signalen in ungleicher Abfolge besteht, sehr oft mit Wiederholungen, greift auf die ferne Vergangenheit zurück und stammt gleichzeitig aus keiner anderen Zeit als der unsrigen. Hier ein Beispiel aus „Fremdling rede - Ballade Furor Odysseus“, in dem Odysseus die Geschichte von Tantalus erzählt (abwechselnd und manchmal auch fast gleichzeitig gesprochen von einem Erzähler undgesungen voneiner Mezzosopranistin):

Auch den Tantalos sah ich, mit schweren Qualen belastet,
mitten im Teiche stand er, das Kinn von der Welle bespület,
lechzte hinab vor Durst und konnte zum Trinken nicht kommen.
Denn sooft sich der Greis hinbückte, die Zunge zu kühlen,
schwand das versiegende Wasser hinweg, und rings um die Füße
zeigte sich schwarzer Sand, getrocknet vom feindlichen Dämon.
Fruchtbare Bäume neigten um seine Scheitel die Zweige,
voll balsamischer Birnen, Granaten und grüner Oliven
oder voll süßer Feigen und rötlichgesprenkelter Äpfel.
Aber sobald sich der Greis aufreckte, der Früchte zu pflücken,
wirbelte plötzlich der Sturm sie empor zu den schattigen Wolken.

Das Orchester leitet diese Erzählung mit einem Kontrabassposaunen-Solo und einem kargen Streicherthema ein, das sich entsprechend auf die Mezzostimme auswirkt, ganz zu schweigen von den orchestralen Wiederholungen beider Ideen. Der Eindruck ist schwer und hart, ähnlich wie bei Galina Ustvolskaya. 

Am Ende des Stücks müssen die Sirenen, nachdem sie Odysseus nicht verführen konnten, auf göttlichen Befehl hin Selbstmord begehen. „Double Distant Counterpoint“ ist für Riehm also „die Musik vom Tod der Sirenen”. Es ist ein riesiger kreisförmiger Spiegel, verschmutzt vom Fett und Staub vergangener Jahrhunderte, über dem die Musik schwebt, manchmal Bereiche der (scheinbaren) Klarheit findend.

In einem Interview aus 2003, kurz vor der Uraufführung von „Fremdling rede - Ballade Furor Odysseus“ in Frankfurt, sagte Riehm: „Die Komposition ist konzeptionell und dann auch praktisch entstanden im zeitlichen Umfeld des Irakkrieges und der Umbrüche, die in Afghanistan vonstatten gingen, in denen wir uns immer noch mittendrin befinden und in denen wir nach wie vor, jedenfalls muss ich das von mir sagen, die Orientierung verloren haben.“ (Rolf Riehm in einem Interview mit Bernd Leukert am 25. November 2003)

Die Parenthese ist typisch für Riehm. Er fühlt sich dem Schaffen verpflichtet, als Zeuge und als er selbst. Eine Art schräge Autobiografie könnte sich auftun, wie in einem Solo-Klavierstück aus dem umfangreichen Repertoire, das er für einen der energischsten Interpreten der letzten Zeit komponiert hat, für Nicolas Hodges: „Ciao, carissimo Claudio oder Die Steel Drums von San Marco“ (2017). Hodges spielte die Uraufführung bei einem der Monday Evening Concerts in Los Angeles. Hier ein Zitat aus dem Vorwort des Komponisten zur Partitur von „Ciao, carissimo Claudio oder Die Steel Drums von San Marco“:

„In einer der linken Seitenkapellen der Frari [in Venedig] stieß ich zu Füßen einer pompösen Dogengedächtnisskulptur auf eine kleine Platteneinlassung: das Grab von Monteverdi, und als wir dann draußen einen caffè tranken, belebte ein Straßenmusiker den Platz mit seinen Steel Drums, alles eine ebenso zauberische wie verwirrend wehmütige Atmosphäre. Wir schlendern durch die Stadt. Das betörende Madrigal ‚Interrotte speranze a doi tenori‘ geht mir nicht aus dem Ohr. Ciao, Claudio, Gruß und Abschied.

Wir waren unlängst in Venedig. Monteverdi lebte ja lange Zeit als Kapellmeister des Markusdomes in der Stadt und starb auch in Venedig. Ich habe versucht, die starken und auch sehr widersprüchlichen Impulse dieser rätselhaften Stadt die kompositorische Erfindung bestimmen zu lassen: Ein vielgestaltiges Gemenge aus bunten Plätzen, intimen Gassen, aufdringliche wie zarte Gegenwart, immerzu das Bewusstsein von mythischer Umhegung des täglichen Lebens. (Monteverdi selbst hat ja Bilder aus den Mythen zur Darstellung der Belange seiner Zeit benutzt, etwa ‚Il ritorno d'Ulisse in patria‘.) Man schlendert durch verwinkelte Gassen, in denen es nach Essenszubereitung riecht und steht unversehens vor einer strahlend weißen klassizistischen Fassade mit der Aufschrift ‚Teatro la Fenice‘, das Theater des aufsteigenden Phönix. (Bei der Biennale 1969 wurde dort mein Stück ‚Leonce und und‘ aufgeführt, hoher Sopran, Tenor, Bariton und Orchester, Ettore Gracis dirigierte.) Und dann die virtuose Architektur der Paläste am Canal Grande! Und all dies übersteigernd der Dogenpalast, für mich geradezu die steingewordene Epiphanie der Aporie von brutaler Machtfülle (die riesigen Ausmaße! Sitz der Signoria und des Dogen) und unfassbarer Schönheit.

Und dort lebte Monteverdi. Eins seiner herzzerreißenden Madrigale, ‚Interrotte speranze‘, ist in die ästhetische ‚Schaumbildung‘ meines Stückes hineingezogen. Als einen fordernden Fingerzeig hatte ich es zudem aufgenommen, dass diese Steel Drum, die wir zufälligerweise beim caffé-Trinken hörten und mit dem Smartphone unserer Freundin aufnehmen konnten, in der Tonart auf d steht, wie das ‚Interrotte speranze‘! Diese beiden Sphären wölben sich, per Zuspielung, mal mehr, mal weniger in den Klaviersatz hinein. Und der Klaviersatz nimmt auf, was er hört, oder er sperrt sich vehement dagegen, weil er noch einiges aus dem Vorhergehenden genauer zur Geltung bringen wollte.
Ein Herzensanliegen war mir natürlich, in meiner Hommage an Monteverdi nicht nur den zurückhaltenden Ton der Ehrerbietung anzuschlagen, sondern auch der enormen Kontraste und Ausdrucksbreite seiner Musik inne zu sein.

Hommage, Threnodie (wenn die Klauseln Trauer tragen), aber auch eine Art Wahrnehmungsprotokoll von Monteverdis Musik, und dies alles in der Luft dieses irremachenden Venedigs (das Aroma herkömmlicher Harmonik schwängert die Gassen Venedigs) – auf ein solch komplexes Konglomerat habe ich versucht hinzuarbeiten.“

Logo
Sie schätzen Musikjournalismus?

Unser Angebot ist kostenfrei. Warum? Weil wir der Meinung sind, dass Qualitätsjournalismus für alle verfügbar sein sollte. Mit dieser Einstellung sind wir nicht alleine: viele Leser:innen schätzen unser Engagement. Mit Ihrer Unterstützung können wir weitermachen. Nutzen Sie jetzt unser Spendenabo (schon ab 6 Euro) oder werden Sie Fördermitglied – und damit Teil unserer Community!