Täuschung und Verführung
HervorgeholtRolf Riehms „Schweigen der Sirenen“
Das abonnierte Publikum der Opernhäuser gilt als konservativ und konventionell. Eine Oper wie Rolf Riehms „Das Schweigen der Sirenen“, die mit Opernkonventionen bricht, muss deshalb auf den Widerstand von Rezensenten treffen, die sich als der verlängerte Arm der Abonnenten und als ihr Sprachrohr in der veröffentlichten Meinung fühlen. Die Stuttgarter Tagespresse pflegt den guten alten Brauch der „Nacht-Notiz“. Das zwingt den Kritiker zur spontanen Meinungsäußerung über die Premiere, noch ehe über Nacht die Zensurmechanismen einrasten. Deshalb dürfte die Nacht-Notiz der "Stuttgarter Nachrichten" eine der sprechendsten Reaktionen auf Riehms Musiktheater sein. Sie lautete:
„Im Großen Haus ging gestern das teuerste Konzert der Stuttgarter Theatergeschichte über die Bühne: geschmackvoll-beliebige Bilder ohne Inhalt, Klänge ohne Bedeutung für die Szene. Rolf Riehms ‚Das Schweigen der Sirenen‘ sichert allenfalls Arbeitsplätze. Handlung: null. Verständnis: null. Bedeutung: abgrundtief. Wo war die Dramaturgie?“
Die Dramaturgie, sie lag in den Händen von Operndirektor Klaus Zehelein, hat an diesem Projekt schon sehr früh mitgearbeitet: Dies lässt sich einem Interview Riehms im Programmheft entnehmen. Sie stand zu einem Projekt, das dem Opernfreund die Opernhandlung, den „Plot“, an den er sich halten kann, vorenthält, ihm damit den einfachsten Zugang zum Verständnis des Werks abschneidet und ihm das sichere Gefühl vermittelt, hier gäbe es etwas zu verstehen, wenn er sich ein wenig anstrengt. Das aber, denkt der Rezensent, wäre zu viel verlangt, wenn schon nicht von ihm, so doch vom Publikum, als dessen Anwalt er sich fühlt. Zum Glück zu Unrecht. Rolf Riehms Oper „Das Schweigen der Sirenen“ wurde nach ihrer Uraufführung mit Ovationen bedacht. Sie war ein Publikumserfolg. Der rätselhafte Kafka-Text, der ihr, wenn man so sagen kann, als „Libretto“ dient, exponiert zwei Motive, von der Musik und Regie sich inspirieren ließen: das der Täuschung und das der Verführung. Riehms Partitur genügt beiden durch ihren klanglichen Reichtum und die Art, wie sie ihn einsetzt. Täuschung bereits auf der Ebene des Texts: Die fünf Sängerinnen und eine griechische Sprecherin benutzen die altgriechische Sprache, und der Hörer muss davon ausgehen, etwas aus der Odyssee zu hören.
Tatsächlich hört er die altgriechische Übersetzung der Erzählung von Franz Kafka. Dieser Sprachebene antwortet als zeitgenössischer Ausdruck einer vergleichbaren Fremdheit „Der Japaner“ auf Japanisch. Er steht dem Prinzip des Raumklangs entsprechend, das Riehm verwendet, auf einem Podest mitten im Publikum und ist in der zweiten Szene des ersten Bilds mit dem auf der Bühne postierten Solocello kombiniert. An ihm zeigt sich vor anderem die Virtuosität, auf die Riehms Komponieren zielt. Rolf Riehm versteht seine Oper „Das Schweigen der Sirenen“ als eine Reise in Franz Kafkas Text. Dieser wird zum Material unter anderen. Gleichzeitig verwandeln sich die Motive, die ihm zu entnehmen sind, in kompositionstechnische Vorgehensweisen.
Dabei generiert die Musik das optische Geschehen, der Regisseur Christoph Nel hatte sich mit Bühnenanweisungen in der Partitur auseinanderzusetzen wie „Stehende Farbe“, „Schwache Bewegung“ oder – den Bewegungen der Sirenen in Kafkas Geschichte entsprechend – „Strecken und Drehen“. In Analogie dazu gibt es zum Beispiel komponierte Phasen von „Akkordstarre“, die in Wellenbewegungen übergehen, inspiriert von der Tatsache, dass Odysseus sich den Sirenen übers Meer nähert. Nel übersetzte die Ohrentäuschungen des Tonsatzes, seine harmonische Ambiguität, in eine Folge von Augentäuschungen, die mit Hilfe von Projektionen und einer Videokamera ins Werk gesetzt wurden. Auf der einen Seite der Bühne etwa stehen die Sängerinnen in bunten Kleidern und üben ihre glissandierenden gesanglichen Sirenenkünste, auf der andern sind sie in Schwarz/Weiß zu sehen wie in einem alten Stummfilm. Trotzdem hat die Guckkastenbühne es schwer, mit der technischen Raffinesse und der farblichen Vielfalt des Komponierten Schritt zu halten. Völlig zu Recht galt deswegen der Premierenjubel zuerst dem Opernorchester und seinem Dirigenten Bernhard Kontarsky, die eine ungewöhnliche Leistung vollbracht hatten.
Hervorgeholt aus MusikTexte 57/58 (März 1995)
Die Veröffentlichung geschieht mit Genehmigung des Verlags MusikTexte Gisela Gronemeyer (Erben). Alle Rechte vorbehalten.
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