Gegen Fortschrittsidealismusimplikationen

Rezension

Björn Gottsteins Buch „Der Klang der Gegenwart. Eine kurze Geschichte der Neuen Musik“

Eine Frage wird dem ehemaligen Leiter des ECLAT-Festivals und der Donaueschinger Musiktage sowie derzeitigem Sekretär des Kuratoriums der Siemens-Stiftung in Interviews immer wieder gerne gestellt: „Steckt die Neue Musik in einer Krise?“ Björn Gottsteins Buch lässt sich als eine Antwort darauf lesen, und diese lautet emphatisch: Keineswegs! Denn die Tatsache, dass das zeitgenössische Musikleben mit seinen vielfältigen internationalen Institutionen und Akteur:innen nur noch wenig Ähnlichkeit mit der konzentrierten Avantgardeszene der unmittelbaren Nachkriegszeit aufweist, dürfe nicht als Auflösungserscheinung interpretiert werden. Vielmehr spiegle dies lediglich die Dynamik einer Disziplin wider, die konsequent ihrem „Ethos“ folge, „Grenzen fortwährend zu überschreiten“, wie es im Vorwort lautet, und sich dabei nicht scheut, ihre Prinzipien und konstitutiven Kategorien immer wieder neu zu evaluieren. Wenn sich etwas in einer Krise befinde, dann doch nur der Begriff mit dem großen N, der seine Fortschrittsidealismusimplikationen im Sinne Adornos aufgegeben habe zugunsten einer offenen, eine Vielzahl an Formen, Genres und Subszenen umfassenden Definition. Dementsprechend stellt das Buch den Versuch dar, diese Öffnungs- und Transformationsprozesse des vergangenen Dreivierteljahrhunderts einem Konzertpublikum zu veranschaulichen, das sich nicht „hauptberuflich mit Neuer Musik befasst“.

Gottsteins Strategie dafür ist durchaus elegant und erfrischend: Statt einer langwierigen Chronik, die in ihrer hinteren Hälfte sich notwendig umständlich verzweigen müsste, um der fortschreitenden Pluralität des Gegenstandes gerecht zu werden, schreibt der Autor im besten Feuilletonstil 17 kurze Kapitel, die sich jeweils auf ein zentrales Paradigma konzentrieren, wie etwa Mikrotonalität, Konzeptkunst oder die New Yorker Szene. Dass diese Paradigmen äußerst heterogener Natur sind und mal eine bestimmte Kompositionstechnik, mal ein Diskursfeld oder ein soziokulturelles Milieu darstellen, trägt dazu bei, dass die Neue Musik als facettenreiches Möglichkeitsfeld erscheint, welches sich nicht (mehr) auf eindimensionale „große Erzählungen“ reduzieren lässt. Dass dies explizit verhandelt wird, wie im vorletzten Kapitel zur Postmoderne, bleibt insgesamt aber eine Ausnahme. Gottstein setzt Theorieeinschübe, philosophisch, musikwissenschaftlich oder soziokulturell, extrem spärlich ein und lässt stattdessen die Werke, ihre Autor:innen und Kontexte für sich sprechen. Hierin liegt allerdings auch die größte Schwachstelle des Buches. Vom löblichen Prinzip geleitet, möglichst viele Künstler:innen zu berücksichtigen, um auch die Diversität innerhalb der einzelnen Themenfelder zu verdeutlichen, lässt der Autor über weite Strecken eine enorme Anzahl an Beispielen auf kürzestem Raum vorbeirauschen. Entsprechend oberflächlich fällt dann die Beschreibung der Musik selbst aus, über deren Substanz man wenig erfährt. Das thematisch äußerst reizvolle dritte Kapitel „Musikalische Erfinder – Bastler, Tüftler und Zweckentfremder“ behandelt auf nur neun Seiten sage und schreibe 24 verschiedene Künstler:innen, beschränkt sich dabei aber weitgehend auf die Funktionsweise von deren personalisiertem Instrumentarium und geht nur selten auf die daraus folgenden kompositorischen und performativen Konsequenzen ein.

Die meisten Kapitel folgen einer ähnlichen Struktur: Sie beginnen mit einer unterhaltsamen Anekdote oder historischen Kontextualisierung, die elegant zum ersten, noch recht ausführlichen und auch in der Schilderung der musikalischen Qualitäten gelungenen Beispiel überleiten. Das ist etwa bei Helmut Lachenmann im Kapitel „Modelle des Erzählens“ oder bei Rebecca Saunders im Kapitel „Klangkunst“ der Fall. In der Folge verlieren die Beispiele dann allerdings mehr und mehr an Prägnanz und Zusammenhang, was ermüdend wirkt und längere Lesesessions unattraktiv macht. Mehr Experimentierfreude in den Erzählformen wäre in Anbetracht des Gegenstandes wünschenswert gewesen.

Ein wichtiger Akteur fehlt interessanterweise völlig: Björn Gottstein selbst. Dafür, dass der Autor als Festivalleiter über viele Jahre die Szene maßgeblich mitgestaltete und einige der erwähnten Werke, wie etwa das eingehend behandelte Klavierkonzert von Simon Steen-Andersen, im Rahmen der von ihm geleiteten Donaueschinger Musiktage uraufgeführt wurden, suggeriert seine Schreibweise eher die Perspektive eines außenstehenden Beobachters. Dabei wären gelegentliche Einblicke in kuratorische, dramaturgische, kulturpolitische oder auch wirtschaftliche Prozesse, die an der Genese von Musikwerken solcher Dimensionen einen nicht unerheblichen Anteil haben, für das Lesepublikum aufschlussreich gewesen. Da mag eine gewisse Bescheidenheit am Werk gewesen sein. Aber auch ganz grundsätzlich belässt das Buch mit seinem expliziten Fokus auf Komponist:innen und deren Werke alle anderen Akteur:innen des zeitgenössischen Musikbetriebes weitgehend im Hintergrund – selbst Interpret:innen kommen selten vor, und wenn, dann meist in der Doppelrolle des Composer-Performer. Auf diese Weise werden genau jene traditionellen Autorschaftskonzepte reproduziert, die das letzte Kapitel des Buches explizit kritisch diskutiert und mit alternativen Modellen kontrastiert.

Es versteht sich von selbst, dass bei einem Buch solchen Umfangs nicht jeder Aspekt der komplexen „Geschichte der Neuen Musik“ gleichermaßen zur Geltung kommt. Ungeachtet dessen wird der Autor seinem eigenen Anspruch, „dass man sich nach [der] Lektüre einigermaßen souverän über Neue Musik unterhalten und Werke im Konzertsaal auch einordnen kann“, insofern gerecht, als sich durchaus die gesamte Bandbreite der hierzulande angebotenen zeitgenössischen Musikformate, vom philharmonischen Konzert über Offspace-Klanginstallationen bis hin zum experimentellen Rock-Event, darin widerspiegelt. Und auch Profis und Kenner:innen der Szene werden bei der Fülle an diversen Beispielen garantiert etwas Neues entdecken.