Statt ins Irrenhaus in die Kunstgalerie

Bericht

Kirill Serebrennikow inszeniert Alfred Schnittkes „Leben mit einem Idioten“ im Opernhaus Zürich

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"Leben mit einem Idioten" am Opernhaus Zürich Foto: Frol Podlesnyi

Es ist kaum mehr als zwei Generationen her, dass Friedrich Dürrenmatt in seinem Stück „Die Physiker“ das Irrenhaus zum Weltmodell erhoben hat. Heute ist Dreh- und Angelpunkt solcher Gedankengänge nicht mehr die „Klapsmühle“ als ziviler Verhandlungsort, sondern ein schicker Glaskubus, der in einem Kunsttempel steht. Und darin erfolgt eine Performance nach allen Regeln der Kunst. Es geht um Gehirnaktivitäten und die menschliche Natur mit ihren furchterregenden, tierischen Elementen. Genau abgezirkelte Bewegungen des tanzenden Protagonisten sollen nach der Vorstellung von Regisseur Kirill Serebrennikow dies erahnen lassen, doch gleichzeitig erinnern sie auch an Exponate und die dokumentarischen Videos der Pionierin dieser Kunstgattung, Marina Abramović, der das nahe gelegene Kunsthaus Zürich derzeit eine grosse Retrospektive widmet. Zentrale Figur von Alfred Schnittkes erster Oper „Leben mit einem Idioten“ ist ein meistens nackt auftretender Protagonist, der ein eben solcher „Idiot“ ist.

Der Schriftsteller Viktor Wladimirowitsch Jerofejew, Urheber der gleichnamigen literarischen Vorlage und des darauf basierenden Opernlibrettos, taufte diese Figur auf den Namen Wowa, die Koseform von Wladimir. Bei der erfolgreichen Uraufführung in Amsterdam 1991 war das Stück noch eine Parodie auf die Absurdität des Banalen und alltäglichen Bösen im sowjetischen Leben: Ein Paar mittleren Alters ist wegen mangelnder Empathie dazu verurteilt, einen Idioten aus dem Irrenhaus bei sich aufzunehmen. Dieses Geschöpf kann sich nur mit verschiedenen Ächz-Lauten ausdrücken und entpuppt sich allmählich als Ausgeburt des Bösen. Es vergewaltigt zunächst die „Frau“ genannte Ehefrau, schwängert sie, danach wird abgetrieben. Dazwischen schlägt der Irre Mobiliar in Stücke, zerreißt Bände von Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, die Lieblingsliteratur der Frau, und verschmiert sich und die Wohnung mit seinen Exkrementen. Nach der Abtreibung schneidet der Idiot der Frau mit einer Gartenschere den Kopf ab. Da die Anspielung auf Lenin und Putin nicht direkter sein könnte, strich Regisseur Serebrennikow den Namen „Wladimir“. Denn erstens verstünde heute niemand mehr Andeutungen aus der Sowjet-Zeit und zweitens habe der derzeitige Präsident und Kriegsverbrecher es nicht einmal verdient, als Opernfigur erwähnt zu werden. Serebrennikow ersetzte den Namen wahlweise durch die Anreden „Schätzchen“ oder „Liebling“, um keine Zweideutigkeiten aufkommen zu lassen. Auch einige sowjetische Lieder fielen seinem Strich zum Opfer.

Das entfachte im Vorfeld der Premiere einiges an Blätterrauschen in den hiesigen Feuilletons. So fühlte sich die „NZZ am Sonntag“ bemüßigt, einen groß aufgemachten Zensur-Verdacht zu äußern. Sie konstatierte, dass im Stück viele russische Bezüge fehlen würden. Das Opernhaus beschwichtigte: „Für Serebrennikow, der 2018 bis 2020 unter fadenscheinigen Vorwürfen im durch das russische Regime verhängten Hausarrest in Moskau saß, wäre eine Lesart mit einer zu engen historischen Anbindung an die politische Zeit der Sowjetunion zu simpel gewesen.“ Der Regisseur selbst erklärte, dass es ihm um die Natur der Gewalt, die Zerstörung von Beziehungen, den Wahnsinn gehe. Der Idiot sei wie ein Fehler im System, er verkörpere den Wahnsinn der Hauptfigur; die Stimmen befänden sich im Kopf des „Ich“. Schriftsteller Jerofejew, der am Premierenabend in Zürich anwesend war, hatte sich offen für die Änderungen der Regie gezeigt. In der „Aargauer Zeitung“ präzisierte Serebrennikow, es gehe in dieser Oper um die Dämonen, die in uns kämpfen und oft gewinnen, um Liebe und Ekel, Hässlichkeit und die Ambivalenz des Schönen. Deshalb spiele die Handlung auch nicht im Irrenhaus, sondern in einer Kunstgalerie. Und zum besseren Verständnis werde auf Deutsch statt auf Russisch gespielt.

„Ich“ wird schließlich ebenso wie die „Frau“ durch den Idioten vergewaltigt, was ihm aber nicht den Tod, sondern ein Zusammenleben mit ihm beschert. Der offenkundigste Eingriff Serebrennikows betrifft die Rolle des Idioten. Der ist auf den in der Standardkleidung des Regisseurs mit Hoodie und übergezogener Kapuze gekleideten Tenor Matthew Newlin und den Schauspieler und Netflix-Star Campbell Caspary aufgeteilt. Caspary beschmiert sich mit Kot, bewegt sich wie ein Balletttänzer, stellt ikonische Kunst nach und verwandelt sich sogar zu einer Strahlenkönigin. Er genießt seine Nacktheit und lebt seine brutalen sexuellen Triebe am Ehepaar aus, bevor er alles in Schutt und Asche legt und sich ungestraft wieder aus dem Staub macht. Einzelne Handlungen wie die Vergewaltigung der Frau werden mehrmals durchgespielt. Ob er vergewaltigt oder die Frau sogar ermordet, erfährt das Publikum eigentlich nicht. Es ist ja sowieso alles Projektion …

Das Bühnenbild ist ebenso wie die Soutanen der Chorsänger:innen weiß gehalten (Bühnenbild und Kostüme von Serebrennikow). Ein großer Chor sitzt auf Stufen, was eine klerikal-akademische Stimmung verströmt. Der Chor nimmt alle sängerischen Klippen der tonalen und atonalen Vorlagen mit akkurater Bravour – es wird von einer anderthalbjährigen Probezeit unter der Leitung von Janko Kastelic, Johannes Knecht und Ernst Raffelsberger berichtet. Der Chor begleitet die Solist:innen eng und eindringlich wie in einer antiken Tragödie als Kommentator, Erzähler und Dialogpartner.

Getreu seiner Idee der Polystilistik stellt Alfred Schnittke völlig unterschiedliche Stile, Gesten und diverse Zeitschichten kompositorischer Entwicklung ohne Übergang nebeneinander. So ertönt plötzlich ein fantastischer Tango, gefolgt von überbordendem Lärm, dann verstummt die Musik fast völlig, um wiederum nahtlos von manchmal deklamierenden, manchmal in extremen Lagen singenden Gesangssolist:innen abgelöst zu werden. Schließlich taucht ein für Schnittke typisches Cembalo auf, danach ein Blasinstrument in extremster Lage. Die reichlich abgespeckte Philharmonia Zürich wird vom Dirigenten Jonathan Stockhammer souverän geleitet. Eine gelungene Idee war es, eine Weile Bläsergruppen ihre Akzente von den Rängen aus spielen zu lassen, da vor allem gegen Schluss der Klang von Chor, Sänger:innen und Orchester nicht in Balance waren. Der instrumentelle Part wirkt im Verlauf immer schwächer. Ob dies der ständigen Präsenz des wirkungsmächtigen Chors auf der Bühne zuzuschreiben ist oder gar Schnittke selber, dessen Kräfte wegen eines erneuten Hirnschlages zu schwinden drohten, als er den letzten Teil der Oper schrieb und den instrumentellen Teil merklich zurücknahm, lässt sich nicht entscheiden.

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"Leben mit einem Idioten" am Opernhaus Zürich Foto Monika Rittershaus

Während der gesamten Aufführungsdauer wechseln die Ereignisse zwischen Ich, Frau, dem Idioten und dem Anteil nehmenden Chor in einem irren Tempo ab. Der dänische Star-Bariton Bo Skovhus bringt die Zersplitterung der Identität des Ich mit grandiosem Furor auf den Punkt. Wie er am Schluss ratlos in sein Spiegelbild blickt, verursacht Gänsehaut, vermittelt existenzielle Angst und macht glauben, dass nun ein zweiter Idiot auferstanden oder entstanden ist. Ebenso überwältigend wirkt der hochdramatische Sopran von Susanne Elmark als Frau, der glasklar und eindringlich die höchsten Lagen erreicht und so das Unsagbare widerspiegelt. An den Schluss setzte das Regieteam einen guten Einfall, um das überbordende Spiel zu kontrapunktieren: Es erklang Schnittkes Chorstück „Herbst“ aus dem Film „Agonie“ von Elem Klimov. Anders als das Publikum von „Sancta“ in Stuttgart reagierten die Zürcher Bürger auf die entblößten und brutalen sexuellen Darstellungen abgeklärt. Nur wenige verließen den Saal vorzeitig. Der Rest spendete großen Applaus – sich selber für die eigene Aufgeklärtheit, den Protagonist:innen der Oper für das Wagnis.