Übung in Gemeinschaft

Bericht

Die 37. Edition des Festivals Wien Modern präsentierte „Neue Musik für Publikum“

Ende November wurde mit einem Konzert im Museum für angewandte Kunst Wien die 37. Ausgabe des vierwöchigen Festivals Wien Modern beendet. In diesem Jahr wurden in 55 Produktionen insgesamt 61 Ur- und Erstaufführungen unter dem Motto „Und jetzt alle zusammen“ präsentiert. Damit stand die Beziehung zwischen Aufführenden und Publikum im Mittelpunkt des Geschehens und wurde zumeist absichtsvoll, oft spielerisch und mit unterschiedlichen Wirkweisen beleuchtet. Festivalintendant Bernhard Günther zeigte sich überzeugt, dass das Klischee von der Unzugänglichkeit der zeitgenössischen Musik verabschiedet werden kann, und wurde auch in den Veranstaltungen nicht müde, das Zusammenbringen der Kräfte und das gemeinsame Agieren, das in der Partizipation weit über das Frontalhören auf uralten Konzertsaalstühlen hinauswies, als notwendig-lebendigen Akt zu beschreiben.

Dass in vielen Veranstaltungen die Lebendigkeit noch vor der Aufführung darin bestand, dem enormen Zuschauerinteresse (die Hälfte des Festivals war ausverkauft) durch spontanes Installieren zusätzlicher Stuhlreihen oder das Öffnen von Emporen und Stehplatzmöglichkeiten nachzukommen, zeigt, dass die Verortung der Kunst inmitten der Gesellschaft (auch wenn dies meist noch von den Kunstschaffenden selbst vorgenommen wird) richtig scheint. Es ist wohl ein verbreitetes Phänomen, dass Gedanken von Wertigkeit und Zusammenhalt erst bei dunklen Wolken am Horizont wieder aufgegriffen werden, wiewohl sich Wien Modern einer sicheren Unterstützung durch Stadt, Land und zahlreiche Förderer wähnen kann. Dennoch ist erstaunlich, mit welchen Höchstleistungen sich das kleine Team jedes Jahr aufs Neue vier Wochen lang die gesamte Stadt zum Spielort macht und alles ver- und einsammelt, was Wien und Österreich in zeitgenössischer Kunst zu bieten hat, und auch den Blick nach außen weitet.

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Foto: Markus Sepperer

Jubilar Schönberg

Dabei war der größte Impulsgeber selbst ein Wiener: Der Jubilar Arnold Schönberg wurde mit zahlreichen Aufführungen und vor allem kontextualisierten Annäherungen und Auseinandersetzungen geehrt (wobei die krankheitsbedingte Absage des Arditti Quartetts eine schmerzliche Schönberg-Lücke riss – die Nachholung wurde bereits zugesichert). Im Festival war Schönberg als facettenreicher Wegbereiter und Impulsgeber seiner Zeit latent oder offen präsent und wurde diskutiert und aufgeführt. Das Arnold Schönberg Center stand mit seiner Kompetenz und vielfältigen Angeboten als Partner zur Seite, nicht zuletzt mit einem Geburtstags-Symposium, das unter dem Titel „Digging Schönberg – Approaches in Popular Musics“ auch für die wissenschaftliche Rezeption neue Perspektiven eröffnete.

Exemplarisch für die Bildung von losen (aber nicht bedeutungslosen) Fäden zu Schönberg stand eine kleine Residenz des Komponisten Manos Tsangaris, der im dreiteiligen Zyklus „Arnold Elevators“ die Zuhörer:innen in einer Art Stationentheater auf Schönberg treffen ließ, dabei sehr ergebnisoffen die Räume von Secession, Musikverein und Konzerthaus erkundete und das Publikum in Kleingruppen zu musikalischen Ereignissen führte, die niemals völlig gleich und individuell erfassbar waren. Ohne den Zwölfton-Meister ständig im Hinterkopf haben zu müssen, schaute man einem „Arnold“ auf der Straße zu, der Passant:innen nach ihren Musikgewohnheiten fragte. Die Perspektiven weiteten sich sanft, und weniger als die Konstruktion standen Kreativität, hinterfragbare Genialität und Schöpfertum im Mittelpunkt.

Mihály, Šenk, Iannotta

Ein ähnlich phantasievolles Raumtheater gelang der Komponistin Julia Mihály in der musikalisch-dokumentarischen Begehung der Wiener Wohnung der Architektin Margarete Schütte-Lihotzky (1897-2000) mit Bezügen zur Hausbesetzerszene und zum roten Wien, aber auch zu der Frage, wie Menschen eigentlich leben und ihren Alltag gestalten wollen bzw. wollten. Im Festival gab es noch zwei weitere Komponist:innenschwerpunkte. Der Slowenin Nina Šenk wurden als Erste-Bank-Preisträgerin insgesamt vier Aufführungen zuteil, wobei ihr neues Werk „November Night“, uraufgeführt vom Klangforum Wien, ebenso wie das Tripelkonzert „Flux“ zwar Versiertheit in allen Spielformen der Neuen Musik zeigte, aber echte Berührung nur mit größter Vorsicht in zumeist langsamen Eckteilen der Stücke auslöste. 

Ganz anders ist das bei Clara Iannottas Werken, deren Emotionalität fast überbordend im Vordergrund steht und fast kathartisch-lösend durch ein Vergraben im Klangrausch und Untersuchen von unerhörten, er- und gefundenen Klängen wirkt. Pierre-Laurent Aimard, Elena Schwarz und die Wiener Symphoniker gestalteten im Musikverein eine herausragende Aufführung ihres 2024 entstandenen Klavierkonzerts. Leider kam ein „Composition Lab“ mit drei ausgewählten Kompositionen von Studierenden aus ihrer Wiener Kompositionsklasse an diese tiefen Schichten nicht heran, denn Yoko Konishi, Giuseppe Franza und Yuheng Chen übten sich alle drei in eifriger Geräuschbastelei. Das Experimentieren und auch teilweise Scheitern gehört aber zum Prozess in solch komplexen Welten dazu.

Belangloses und Überraschendes

Manchmal bekam man in Wien den Eindruck, dass die neuen Stücke selten über ein Abarbeiten an der selbstgestellten Aufgabe (etwa Bernhard Ganders Rhythmus-Explorationen im krachlauten Konzert des Ensembles Phace) hinauswiesen oder im Spektakel des Immer-mehr-immer-lauter (Marios Joannou Elias „Aima“ im Abbado-Konzert im Musikverein) die eigentliche Idee aus dem Auge geriet und ins Illustrativ-Belanglose abglitt. Dafür war John Luther Adams mit seiner Aquarienbegleitmusik „Become Ocean“ ein bedauernswertes Exempel bei der Festivaleröffnung, erst recht, weil im gleichen Konzert des ORF Radio-Symphonieorchesters Wien unter Ingo Metzmacher mit Iannis Xenakisʻ „Terretektorh“ ein zeitlos imponierendes Raumkunstmeisterwerk gegeben wurde. Neben das Motto „Und jetzt alle zusammen“ stellte sich im Laufe des Festivals so die Frage: „Worum geht es denn wirklich?“ – und das könnte ja durchaus auch ein Themenansatz für weitere Ausgaben sein bei aller Vielfalt, die Wien Modern ausstellt und die auch begeistert.

Doch es gab auch musikalische Überraschungen, etwa die „Musik für Kammerorchester“ des chinesischen Komponisten Shiqi Geng, der in Graz bei Beat Furrer studiert hat, uraufgeführt in einer Fassung für großes Orchester. Es ist ein eher seltener Fall, dass die vertikal-harmonische Ebene in den Mittelpunkt der kompositorischen Aufmerksamkeit rückt, und Geng bearbeitete die Klangwogen so subtil, dass das Orchester irgendwann wie ein von der Bühne heruntertropfender kaputter Wagner klang. Dem voraus ging im Abbado-Konzert die Uraufführung des Orchesterstücks „Ein Baum. Entwurzelt. Der ins Leere fällt …“ von Tanja Elisa Glinsner, die sich Schönberg in der Poesie der von ihm nicht vertonten Lieder aus dem „Buch der hängenden Gärten“ widmete. Die orchestrale Traumsequenz mit Windmaschinen und Sirenen lässt einen innig bitten, Orchestermusiker:innen doch nicht mehr sprechen zu lassen. Was hat dagegen gesprochen, hier (geschulte) Sprecher:innen oder Sänger:innen einzusetzen?

Furrer und Fluxus

Furrer wiederum wurde zu seinem 70. Geburtstag geehrt – mit einer von ihm selbst dirigierten Aufführung seiner Oper „Begehren“ im Wiener Konzerthaus mit dem von ihm gegründeten Klangforum Wien, das seinerseits eine luxuriöse Geburtstagsedition, eine Medien-Box mit 18 Werken, zwei Büchern und drei Filmen vorstellte. Glücklich der Komponist, dem zu Lebzeiten so etwas widerfährt. Auch dies ist aber nicht uneigennützig geschehen, denn Furrer dirigierte seine ausgewählten „Schlüsselwerke“ gleich selbst. Ein Lehrstück in Authentizität für kommende Generationen möglicherweise, die sich mit der heutigen Musik auseinandersetzen wollen.

In der Konfrontation mit den Fluxus-Ideen von Alison Knowles kam es etwa in der Mitte des Festivals zu einer etwas skurrilen Ehrung für Arnold Schönberg, als nach dessen „Kammersinfonie“ und „Begleitungsmusik zu einer Lichtspielscene“ im ehrwürdigen Rathaussaal das Orchester der Musik-Universität Wien zur partiturgerechten Zubereitung eines riesenhaften Knowles-Salats für alle Konzertbesucher überging. Beim Knabbern der Salatblätter konnte man in Ruhe darüber nachdenken, was vom gerade Gehörten oder Gesehenen bereits Klassiker war oder noch zum Skandal taugte. Dass in weiteren Konzerten Stücke von Mauricio Kagel („Finale“) und John Cage („Concert for Piano and Orchestra“) kaum für Begeisterung und schon gar nicht (mehr) für Aufruhr sorgten, ist ein interessantes Phänomen. Wir haben uns offenbar im 21. Jahrhundert von den damaligen Intentionen, Zuständen wie auch Reaktionen sehr weit entfernt, und die Prüfung durch Wiederaufführung, ob unter dem aktionistischen Mantel tatsächlich noch Leben vorhanden ist, fällt ernüchternd aus – was ganz sicher nicht an den Interpretationen lag. Denn der Salat war frisch.

Puppe und Poppe

Neben eher klassischen Neue-Musik-Veranstaltungen bezog Wien Modern die Spielarten von Club, Jazz, Performance und Improvisation auf selbstverständliche Weise ein, da ihre Akteur:innen sich in den Ensembles, Spielorten und Projektintentionen in Wien ohnehin überschneiden. Sogar für Klangskulpturen war Platz, diesmal mit wurmartig sich am Boden ringelnden Objekten des Schweizer Duos Cod.Act, die mit ihren Algorithmen an eine zukünftig mögliche KI-Ausgeburt denken ließen. Interessanterweise wurde dieses Thema aber zumeist nur gestreift und auf unterhaltsame Weise durch das sirene Operntheater in der neuen Produktion „Die Puppe“ (ein „Operoid“ mit Musik von Christof Dienz) vorgeführt.

Schlagstark ging es im Abschlusskonzert zu: Ausgerechnet zehn Drumsets konnten in Enno Poppes in Donaueschingen im Oktober uraufgeführtem Werk „Streik“ über fast eine Stunde Dauer eine Art akustischen Tauchgang ermöglichen, der Zeit und Raum aufhob, aber einen nur wachmachen konnte, weil die spannendsten Klangfetzen unmittelbar vor oder hinter einem Taktstrich oder bei einer querschießenden Trommel lauerten – kongenial dargeboten von zehn meisterlichen Schlagzeugern rund um Dirk Rothbrust.  Auch hier war das Gemeinsame präsent, vereinigten sich die zehn Spieler gar zu einem Instrument, während der Jubel im Publikum am Ende auch davon zeugte, dass man sich gemeinsam in diesen vier Wochen dem Neuen verschworen hatte.

Mit dem ersten Kapitel von Cornelius Cardews „The Great Learning“ wies Wien Modern bereits ins nächste Jahr. Mit vielen Laienensembles, Schulen und Institutionen wird eine Gesamtaufführung dieser außergewöhnlichen Sammlung vorbereitet. Etwas lernen, sich (wieder) annähern und vielleicht sogar (das zeigte Tsangaris in seinen Mikrotheatern) spielerische Freude und Spaß empfinden, das kann der heute erfundenen und heute aufgeführten Musik nur guttun.