Musik als soziale Praxis
BerichtDie 78. Frühjahrstagung „zugehören” des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt
Wortspiele erlauben es, aufgrund der Mehrfachkodierung eines zentralen Begriffs disparate Diskursfelder miteinander zu verknüpfen. Genau dies war das Anliegen der diesjährigen Frühjahrstagung des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung (INMM) Darmstadt. Unter dem Titel „zugehören” sollten entsprechend der sozialen Dimension des Begriffs Fragen zur Inklusivität und Zugänglichkeit des öffentlichen Kulturbetriebs in Beziehung gesetzt werden mit solchen, die mit ästhetischen Prozessen, beispielsweise kompositorischer Auswahl oder selektivem Hören, zusammenhängen. Dabei wurde im Laufe der Tagung immer wieder deutlich, dass sich soziale und künstlerische Probleme selten unabhängig voneinander manifestieren, sondern gegenseitig bedingen und gelegentlich identische Lösungen – Stichwort „social composing“ – erfordern.
Im Themenblock „communities“ wurden drei Projekte vorgestellt, bei denen Menschen wieder mit ins Boot geholt werden sollten, die normalerweise vom kulturellen Regelbetrieb und/oder von musikpädagogischen Angeboten ausgeschlossen sind. Konkret handelte es sich um junge Wohnungslose, Senior:innen und Jugendliche mit Hörbehinderung. Heutzutage ist man sich durchaus bewusst, dass solche auf Inklusion abzielenden Maßnahmen nicht zwangsläufig als Bereicherung für die Beteiligten zu werten sind, sondern ebenso gut das exakte Gegenteil, nämlich Exklusion durch die Artikulation der Differenz von „normal“ und „inklusionsbedürftig“ hervorrufen können – insbesondere dann, wenn es sich um einmalige und quasi von oben herab verordnete Initiativen handelt.

Entsprechend skeptisch begegnete das Tagungspublikum dem Projekt „Lebenskunst“, vorgestellt von Renate Reitinger, Professorin für Musikpädagogik an der Musikhochschule Nürnberg. Für einen vorab festgelegten Zeitraum wurden Musikstudent:innen und gleichaltrige Wohnungslose zu gemeinschaftlichen kreativen Tätigkeiten vernetzt. Auch wenn die Organisator:innen, die das Projekt wissenschaftlich begleiteten, insgesamt eine positive Bilanz zogen, bleibt die Frage, ob die Teilnehmer:innen langfristig von der Erfahrung profitieren.
Deutlich nachhaltiger wirkte die in Graz ansässige „KLANGWELT 60+“, ins Leben gerufen und präsentiert vom Musikpädagogen Günter Meinhard. Ziel des Vereins ist die Vermittlung von professionellem Instrumentalunterricht an Senior:innen und darüber hinaus die Organisation einer Vielzahl von Aktivitäten, bei denen die Teilnehmenden eigenständig musikalische Formationen entwickeln und auch gemeinsam öffentlich auftreten. Besonders eindrücklich: die jährlich stattfindende „KLANGWOCHE 60+“, die Gelegenheit bietet, Orchestererfahrung zu sammeln. Gespielt wird klassisches Repertoire, für jede:n wird abhängig vom individuellen Niveau eine maßgeschneiderte Einzelstimme angefertigt.
Dass Inklusivität und künstlerischer Anspruch durchaus Hand in Hand gehen können, demonstrierte die Musikpädagogin Christine Löbbert am Beispiel der Komposition „the weight of ash“ von Mark Barden, einem Auftragswerk für das Bundesjugendorchester, das auf Basis von Beethovens „Heiligenstädter Testament“ neben der klassischen großen Orchesterbesetzung und einer solistischen E-Gitarre auch mehrere Perkussionsstimmen für hörgeschädigte Laienmusiker:innen vorsieht. Das Werk wurde im April 2023 in der Berliner Philharmonie uraufgeführt und richtet sich explizit an ein Publikum mit eingeschränktem Hörvermögen, indem es beispielsweise Klangereignisse an Lichteffekte koppelt.
Im Fokus der Tagung standen die beiden Komponist:innen Manuela Kerer und Hannes Seidl, deren Solostücke für Zither, Tuba und Doppeltrichter-Euphonium beim Eröffnungskonzert zu hören waren. Manuela Kerer erweiterte mit ihrem Vortrag „Zwischen Gletscher und Notenblatt“ den von sozialen Fragen geprägten Diskurs um das komplexe Verhältnis von Natur und künstlerischem Subjekt – die Paradoxie der biologischen Zugehörigkeit im Sinne eines unteilbaren Ökosystems bei gleichzeitiger Entfremdung des Menschen von seiner Umwelt. Naturphänomene dienen der Südtiroler Komponistin als Inspirationsquelle für Klangstrukturen, die das Bewusstsein des Publikums schärfen sollen, Naturphänomene wie Gletscher und Eiskristalle in ihrer Schönheit und Fragilität wahrzunehmen. Die jüngsten Arbeiten von Hannes Seidl hingegen beschäftigen sich verstärkt mit dem Verhältnis von Künstler:innen und Publikum und versuchen auf spielerische Weise, diese Differenz zu destabilisieren. Ausgehend von einer Analyse des bürgerlichen Konzertsaals als autoritäre Disziplinaranstalt im Sinne Foucaults, welche Zugehörigkeit über einen rigiden Verhaltenskodex reguliert, entwirft Seidl alternative Konzertsituationen, bei denen die Musik nicht notwendigerweise die volle Aufmerksamkeit der Rezipient:innen bündelt, sondern Teil eines Environments ist, innerhalb dessen Besucher:innen, wie der Komponist es formulierte, „einfach sein können“.

Zu einer regelrechten Dekonstruktion klassisch binärer Denkkategorien kam es in der fulminanten Solo-Performance „Anthropologies imaginaires“ (2014) des kanadischen Komponisten, Improvisators und Vokalakrobaten Gabriel Dharmoo. Gleichzeitig mit der Präsentation eines Dokumentarfilms, in dem sogenannte Expert:innen mit typisch westlicher Überlegenheitsattitüde über die zunehmend absurden Gesangstraditionen frei erfundener Völker referieren, exerzierte Dharmoo die daraus abgeleiteten experimentellen Vokaltechniken mit vollem Körpereinsatz und hyperexpressiver Mimik auf der Bühne. Hochgradig humorvoll und gleichzeitig tief berührend, dabei allerdings frei von Anklage und moralisch aufgeladener Empörung, lenkte die Performance den Blick auf Klischees der Ethnologie, innerhalb derer die koloniale Logik weiter ihr Unwesen treibt: eine Einladung, die artifizielle Trennlinie, die westliche Kunstmusik von jener im Ritus zweckgebundenen Musik indigener Kulturen absetzt, außer Acht zu lassen und stattdessen die Vielfalt der weltweiten Kreativität zu feiern.
Der zweite Tag sah ein recht vermischtes Programm vor: Nachdem Alicia de Bánffy-Hall von der Hochschule Düsseldorf (HSD) die Geschichte der Community Music mit Fokus auf ihrer in Deutschland erst in der letzten Dekade erfolgten Institutionalisierung nachgezeichnet hatte, analysierte der Musikhistoriker David-Emil Wickström die Rolle populärer Musik als Propagandamittel im Ukraine-Krieg. Es folgte ein Gespräch mit Hüseyin Köroğlu, Musiker und Produzent am Staatstheater Darmstadt, dessen transkulturelles Ensemble Soundkitchen diverse Musizierpraxen zusammenzubringen versucht, sowie die Buchvorstellung der Neuerscheinung „Wissensordnung des Künstlerischen“, einer empirischen Studie zu kooperativen Kompositionsprojekten an Schulen der langjährig mit der Frühjahrstagung verbundenen Musikpädagogen Matthias Handschick und Wolfgang Lessing.
Nach dem erfolgreichen Debüt bei der letzten Tagung fand auch dieses Jahr wieder ein „Parcours der Möglichkeiten“ statt: An verschiedenen Stationen in der Akademie für Tonkunst konnte man Ausstellungen von musikpädagogischen Projekten besichtigen und bei einer Jamsession selbst aktiv werden. Gerahmt wurde die Veranstaltung von Hannes Seidls lokalem Radiosender „Frühjahrstagung on Air“, den man in kleinem Umkreis um die Akademie mit ausleihbaren Empfängern verfolgen konnte.

Der Komponist führte Interviews mit Tagungsteilnehmer:innen und sendete Musik der anwesenden Künstler:innen. Da die Sonne schien und der Empfang draußen auch deutlich besser war, bildeten sich auf dem Vorplatz der Akademie kleine Hörgemeinschaften. Die lockere Struktur des Parcours stellte durchaus eine willkommene Abwechslung zum dicht getakteten Tagungsprogramm dar, fand aber bei einem Großteil der Besucher:innen anscheinend nur wenig Resonanz – vermutlich verleitete der fakultative Charakter des Ganzen viele dazu, die Zeit eher als Pause bis zum abendlichen Konzert zu nutzen.

Dieses Konzert wurde gestaltet vom Ensemble in residence Śabdagatitāra unter Leitung seines Gründers Sandeep Bhagwati. Neun Musiker:innen aus diversen europäischen und asiatischen Musiktraditionen agierten als improvisierendes Kollektiv. Die Konzepte für das Programm wurden erst in den vergangenen Tagen im Dialog mit Tagungsteilnehmer:innen erarbeitet, was der Darbietung eine erfrischende Spontanität und Lebendigkeit verlieh. Mal groovig, mal atmosphärisch verbanden sich Instrumente wie die chinesische zitherartige Guzheng, indische Tablas oder die in Zentralasien verbreitete, mit der Oboe verwandte Duduk zu einem verblüffenden Klangbild, in dem traditionelle Techniken sich gegenseitig informierten, miteinander kommunizierten und über sich hinauswachsen konnten. Bei der Abschlussdiskussion der Tagung stellte Bhagwati die Arbeit seines Ensembles in Relation zu seinem Konzept der „Native Aliens“ – Menschen, die einen festen Begriff von Heimat aufgeben, sich in verschiedene fremde Kontexte einpassen und gleichzeitig als kritische Beobachter:innen auftreten können: Die Musik von Śabdagatitāra sei als Kommentar zur Kontingenz musikalischer Signifikation in einem emphatisch anti-universalistischen Sinne zu lesen.
Die beiden letzten Vorträge verdeutlichten noch einmal die Komplexität der Diskurse über Zugehörigkeit: Dahlia Borsche stellte ihre Arbeit als Kuratorin des „Berliner Künstlerprogrammes“ vor, ein Residenzstipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes für herausragende ausländische Künstler:innen. Dabei wurde deutlich, dass im Auswahlprozess die künstlerische Bewertung der eingereichten Portfolios kaum von Identität und Herkunft der Künstler:innen abstrahierbar ist. Und der Musikethnologe Julio Mendívil demonstrierte am Beispiel des Charangos, einem gitarrenähnlichen Instrument aus der Andenregion, dessen Erfindung und Traditionslinien sowohl Bolivien als auch Peru für sich beanspruchen, inwiefern die dualistische Sichtweise, Gegenstände in „zugehörig“ und „nicht zugehörig“ zu einer bestimmten Kultur zu unterteilen, Identitäten konstruiert, die der zumeist von Hybridität und Ambivalenz geprägten Realität nicht angemessen sind.
Insgesamt lässt sich konstatieren: Auch wenn sich im Vergleich zum letzten Jahr ein gewisser Rückgang der Besucher:innenzahl verzeichnen lässt, minderte dies die Diskussionsfreudigkeit des Publikums keineswegs. Allerdings fanden die meisten Debatten gerade dann, als sie besonders spannend wurden, aufgrund des engen Zeitplans ein jähes Ende – wenn sie nicht sogar aus Zeitmangel komplett ausfielen. Hier wäre in Zukunft etwas mehr Flexibilität wünschenswert, insbesondere bei einem derart vielfältigen Programm wie dem diesjährigen, bei dem eine große Anzahl zunächst disparater Diskurse eröffnet wurde und sich vermutlich am ehesten in einem umfangreichen Austauschprozess verknüpfen ließe. Diesen Luxus sollte man sich definitiv gönnen.