in memoriam Peter Ablinger

Hervorgeholt

Kunst ist das, was nicht (ganz) passt

Klangkunst-Fragebogen von Stefan Fricke
Antworten von Peter Ablinger

Was ist das: Klangkunst? (Versuch einer Definition)
Das kommt ganz darauf an, von wem der Ausdruck benutzt wird – oder auch wo. Das ist ähnlich wie mit dem Wort „experimentell“, respektive „experimental“. So wie die Amerikaner diesen Begriff benutzen, mache ich zum Beispiel „experimental music“ – aber ganz sicher nicht das, was im deutschsprachigen Diskurs als „experimentelle Musik“ bezeichnet wird!
Es wäre nett und bequem, den Begriff Klangkunst ganz ahistorisch, wertfrei für einen erweiterten Musikbegriff zu nehmen, als Ersatz für „Musik“. Aber das geht leider nicht. Der Begriff ist belegt. Und ich muss akzeptieren, den Begriff mit seinen historischen Wurzeln verknüpft zu sehen. Das bedeutet aber, dass die Klangkunst eben eine „Kunst“ und keine Musik ist, daher eine Verzweigung aus dem Stamm der bildenden Kunst, etwas, das vom Visuellen – und vor allem den visuellen Präsentationsformen – ausgeht, die den Klang – als Besonderheit, als Spezifisches – hinzunimmt.

Was ist keine Klangkunst?
Nach dem Kehrbild obiger Definition: dasjenige zum Beispiel, was vom Klang ausgeht und die mit der Klangentfaltung einhergehenden visuellen Konzepte miteinbezieht/mitgestaltet.

Bist du ein Klangkünstler, oder hast du eine andere Definition für dein Tun?
Ich nenne mich nicht Klangkünstler, sondern lieber Komponist. (Das beantwortet aber vielleicht nicht die Frage, was ich „bin“.)

Was kann der Klang, was sichtbare Materialien nicht können? Was kann das Sichtbare, was Klänge nicht vermögen?
Meine Güte! Das sind Fragen, die sind so riesig wie den Sinn des Lebens zu erklären! Und dann soll die Antwort vermutlich noch kurz sein, ja? Der Klang kann uns hören machen, oder weghören, oder taub. Das Sichtbare kann uns sehen machen, oder wegsehen, oder blind. Sehen und Hören sind verschiedene Weisen, sich auf die Welt zu beziehen. Und ihre Differenz kann erhellend sein – oder aufhören machen!

Wie würdest du deine eigene Kunst beschreiben?
Jaja, so einfach machen es sich heute die Herren Redakteure! Ich bin nicht dazu da, meine Arbeit zu definieren, ich bin eher dazu da, den Definitionen zu entgehen. Kunst ist für mich das, was nicht (ganz) passt, auch nicht in die vorhandenen Definitionen passt – alles andere ist Kultur.

Ist Klangkunst ein eigenständiges künstlerisches Genre oder eine Gattung?
Siehe meine Antwort auf die erste Frage.

Wo liegen deiner Meinung nach die ästhetischen Wurzeln der Klangkunst? Elektronik – Raumerweiterung (Environment) – Akustische Forschung?
Deine Aufzählung verrät deine eigene Definition von Klangkunst. Wie viele Zeitgenossen auch – insofern sie eher von der Musik als von der bildenden Kunst herkommen – möchtest du den Begriff aus der Geschichte der bildenden Kunst, wo er etwa in den späteren Sechzigern begonnen haben mag, herauslösen und ihn auch auf frühere musikalische Epochen anwenden, auf alles eben, was über einen herkömmlichen Begriff von Musik hinausgeht. Schön wär’s!

Wie kam dann die offensichtlich notwendige Verbindung von Auge und Ohr zustande?
... die ist ja beileibe keine Erfindung der Klangkunst! Ganz „abgesehen“ von Oper, Filmmusik, Ritual, Tanz ... könnte man hier etwa an die Anleitungen zur musikalischen Rhetorik des 18. Jahrhunderts erinnern, in denen sehr ausführlich die große Bedeutung der visuellen Komponente einer einfachen instrumentalen Aufführung abgehandelt wurden.

Wie entstand bei dir die Lust, Neugierde, Notwendigkeit, mit dieser Verbindung der Sinne zu arbeiten?
Schon als Kind hab ich gedichtet, gemalt, komponiert ...

Wie hat sich das dann in deinem Ausbildungsweg niedergeschlagen?
Klavierunterricht seit dem sechsten Lebensjahr ... gedichtet, gemalt, komponiert ... mit 15 eine Fachschule für Grafik besucht ... in Rockjazzbands gespielt ... mit 18 auf die Musikhochschule, Abteilung Jazz ... kleine Tournee mit eigener Band ... mit 20 Kompositionsstudium.

Erlebnis John Cage – andere wichtige musikalische Erlebnisse?
Ich frage mich fast, ob „musikalische Erlebnisse“ hier angemessen ist, ich frage mich, ob von Cage je ein Stück Musik als solches mich jemals in der Weise angeregt hat, wie das seine Schriften und Interviews getan haben ... der Markstein in meiner musikalischen Entwicklung war ein Cecil-Taylor-Konzert 1978. Bis dahin wusste ich nichts von einer neuen Musik im weitesten Sinn. Ich kannte weder Freejazz noch Schönberg noch Cage. Mit diesem Konzert begann bei mir eine neue Zeitrechnung!

Erlebnis Joseph Beuys – andere wichtige künstlerische Erlebnisse?
Nein, Beuys hatte in meiner Ausbildung noch keine Bedeutung für mich. Viele andere bildende Kunst dagegen sehr wohl. Aber wichtiger noch als die Bedeutung bestimmter Einzelfiguren ist der Anteil an visuellem Denken insgesamt, beziehungsweise das von Anfang an geübte Querdenken zwischen visuellen und klanglichen Erscheinungsformen. Aber auch Architektur spielte immer eine große Rolle. Und auch Nicht-Kunst: Natur, Stadt, Lärm, Autofahren ...

Viele Klangkünstler, also Installationsarbeiter, sind auch als Performer unterwegs und/oder arbeiten zeitweise ganz radiophon, manchmal grafisch kompositorisch ... Wie kommt es zu dieser Vielfalt, zu diesen Mischungen, sind sie der ökonomischen Situation geschuldet???
Die angesprochene Vielfalt liegt in der Natur der Sache. In einer Kunstform, die sich (zumindest teilweise) nach den Kriterien des Kunst- (im Gegensatz zum Musik-)betriebs lesen lassen will, hat methodische Originalität einen hohen – wenn nicht teilweise den höchsten – Stellenwert! In der klassischen Neuen Musik ist das ganz anders, kein Lachenmann, kein Sciarrino wird als unoriginell gescholten, weil er eine Violine benutzt. Aber natürlich spielt auch das Ökonomische eine wichtige Rolle, und noch viele andere Faktoren – eben zum Beispiel, dass der virtuose Sciarrino-Geiger keine Performance-Ausbildung bekommen hat ...

Muss Klangkunst immer die Verbindung von Auge und Ohr sein, von Hören und Sehen? Oder kann Klangkunst auch nur für das Auge sein oder nur für das Ohr? Geht das überhaupt, und wie oder müssen wir solche Arbeiten mit anderen Begriffen bekleiden?
Das rührt wieder an die Definitionsfragen von weiter oben. Um aber aus der Definitions-Sackgasse herauszukommen, werde ich – wenn auch nicht immer begrifflich zufriedenstellend – von Musik sprechen und ein Beispiel aus meiner Arbeit bringen: Es gibt ein Stück (eine Stückreihe), das aus Texten besteht, die frau allein zuhause lesen kann. Die Texte sind Geräuschprotokolle, die ich in konkreten Situationen in schmuckloser Prosa notiert habe, einfach das, was ich gerade hörte. Wenn frau das nun wieder liest, werden die aufgezählten Klänge und Geräusche in ihrer Vorstellung vielleicht eine Art akustischen Film erzeugen: Obwohl sie nur ein Buch liest, betrachte ich das als Musik!

Welche Phänomene und Begriffe gäbe es deiner Meinung nach im Feld der Klangkunst noch genauer zu beobachten, zu beschreiben, zu bearbeiten, die bislang von der Kunst-/Musikwissenschaft ausgespart geblieben sind?
Das führt wieder zurück in die alte Sackgasse, insofern wir uns nicht einig sind, was das „Feld der Klangkunst“ eigentlich ist. Um überhaupt noch weiter zu gehen mit deinem Fragenkatalog, bleibt mir nur, jeweils knapp an deiner Frage vorbei zu antworten.

Der Raum, seltener der Ort – davon ist immer wieder die Rede. Wieso ist er für die Klangkunst so wichtig?
Nicht nur der Raum ist wichtig. Der Raum ist nur eine der Bedingungen zur Entfaltung des Klangs. In meiner Arbeit sind auch viele andere, tendenziell alle Bedingungen des Klingens und des Hörens möglicher Teil der Auseinandersetzung: Institutionen, Interpret und Ausbildung, Notenpapier und Rolle des Komponisten, Aufführungsritual und Publikumserwartung, physische und psychische Voraussetzung des Hörens, Prozesse der Wahrnehmung, um nur einige zu nennen.

Sind die meisten Arbeiten wirklich situationsbezogen?
Das variiert von Arbeit zu Arbeit. Auch bei mir sind manche Stücke, die als ortsbezogene entstanden sind, schließlich übertragbar auf andere Orte, andere nicht, wieder andere sind beides, daher beinhaltet ihr Konzept die exakte Prozedur des an jedem neuen Ort neu zu Erstellenden.

Was ist mit Arbeiten für den White Cube oder die Black Box – also eine Arbeit als Carte blanche?
Auch das ist von Fall zu Fall verschieden. Ich kann den White Cube als White Cube nehmen, in welchem eben die individuelle Atmosphäre keine Rolle spielt, ich kann mich aber auch auf dieses (scheinbar) nicht Besondere beziehen ...

Die akustischen Anteile der Klangkunst sind zeitlich kaum länger als bloß ein paar Minuten strukturiert ... Loop? Eigenzeit?
Ich nehme diese Fragen mit den beiden folgenden zusammen: zeitliche Struktur und visuelle Erscheinung sind erstmal nur gegebene Parameter. Sie sind einerseits unvermeidlich, es gibt keinen Klang ohne Zeit, und auch keinen Klang ohne etwas, das ihn hervorgebracht hat.
[...] Zum Glück hat die bildende Kunst – mindestens seit Flaschentrockner und Schwarzem Quadrat – den Einspruch aufrechterhalten, der auch die Vermeidung, Umgehung der Gestaltungsimperative oder aber die Vereinfachung, Abstraktion, Verweigerung zur möglicherweise entscheidenden Kategorie erhob.

Technik, Design, Lautsprecher – spielt das eine Rolle?
Viele Arbeiten der Klangkunst sind bemerkenswert schön, entsprechen Vorstellungen des Designs. Selten sind sie sowohl in Bezug auf den Klang als auch in Bezug auf die visuelle Gestaltung ruppig, schroff, widerborstig, kantig, zeigen kaum Gebrauchsspuren, sondern präsentieren sich meist wohlfeil, gesetzt schön, hübsch, mithin harmlos ...

Welche Bedeutung haben Kataloge für die Klangkunst?
Katalog hab ich dir gerade einen geschickt. Sie sind dazu da, dass wir – nach Durchsicht – besser weiterreden können. Filme sind in meinem Fall auch kein generelles Allheilmittel. Trotzdem begrüße ich, dass es außer der physischen Ausführung eines Stücks auch solche Medien gibt wie Katalog, Internet, Publikationen, Filme.
Letzten Endes betrachte ich diesen „Hintergrund“ – im Gegensatz zum erscheinenden und gemachten – als das „eigentliche“ Werk!

Wie müsste die Gesellschaft mit der Archivierung von Klangkunst umgehen?
Musealisierung? Wahrscheinlich wird sich das auf die Dauer nicht vermeiden lassen ...

Zukunft der Klangkunst?
Die Dinge, die mich in der Vergangenheit beschäftigt haben, werden das vermutlich auch in der Zukunft tun. Oder anders gesagt, die Zukunft ist zu einem bedeutenden Teil „nur“ die Entschlüsselung der eigenen, bereits (ge- oder) ver-gangenen Pfade. Eine generelle Aussage über all die Köpfe hinweg, denen du diesen Fragenkatalog schickst, scheint mir unpassend. Die Zukunft ist genau die Gegenwart dessen, was all diese Köpfe in diesem Moment tun oder denken!

Mit der Wahrnehmung die Wahrnehmung widerlegen

Peter Ablinger im Gespräch mit Rainer Nonnenmann

Die teils rein auditiven, teils audio-visuellen Arbeiten deiner Serie Weiss/Weisslich (1980 bis 1998) sind keine Kompositionen im herkömmlichen Sinne, sondern versuchen – wie der Titel schon sagt –, die Aufmerksamkeit des Hörbetrachters auf minimale Differenzen zu lenken, etwa auf den „Unterschied im Rauschen zweier Bäume“ oder die Differenz zwischen Nichts und Fast-Nichts. Seit Mitte der Neunzigerjahre komponierst du immer weniger Musik für herkömmliches Instrumentarium, sondern zeigst auf bestimmte Phänomene und lenkst die Achtsamkeit auf sonst Unbeachtetes. Das klingt jetzt viel zu pädagogisch, aber geht es dir um eine „Schule der Wahrnehmung“?
Das ist eine schöne Frage, weil sie mir Gelegenheit gibt, gleich mit einem glatten Nein zu antworten. Wahrnehmung ist eher das Instrument, das ich spiele, nicht das, worum es geht – so wie es bei einem Stück für Geige auch nicht unbedingt um die Geige gehen muss. Wenn ich sage, ich benutze die Wahrnehmung als Instrument, Medium oder Vorgang, dann ist das schwierig, weil ich den Menschen damit zum Instrument mache.
Doch ist es nicht ganz falsch, denn es geht um die Schnittstelle zwischen den Klängen beziehungsweise dem Wahrnehmbaren insgesamt und dem geistigen Vorgang, der nötig ist, um dieses Wahrnehmbare überhaupt zu einer Wahrnehmung werden zu lassen. Ich bin auf meinem Weg immer tiefer in diese Problematik eingestiegen und immer noch nicht zu Ende damit. Ich lerne weiter, wie dieser Vorgang des Wahrnehmens funktioniert. Auf keinen Fall bin ich ein Dorfschullehrer, der sagt: „Sensibilisierung“, „feinere Differenzen hören“, und so weiter. Es geht nicht um die feinsten Differenzen an sich, sondern diese führen zur Differenz zwischen einem Klang und seiner Wahrnehmung.
In Weiss/Weisslich gibt es die Nummer 36, bestehend aus einem Kopfhörer mit aufmontierten Mikrofonen, also nichts weiter als einem Hörgerät. Wenn ich dieses aufsetze, höre ich genau das Gleiche wie ohne Kopfhörer, und dennoch ändert sich, wie ich dieses Gleiche wahrnehme. Hier bin ich dem Rätsel ziemlich nahe auf der Spur, denn da ertappe ich die Differenz zwischen der Wahrnehmung und dem wahrgenommenen Gegenstand sozusagen in flagranti.

Ist die Wahrnehmung eines Klangs aber letztlich nicht identisch mit dem Klang, den wir mit unseren individuellen Rezeptoren eben nur so wahrnehmen können, wie wir es tun? Können wir zwischen dem Klang an sich und dem von uns Gehörten überhaupt unterscheiden?
Ich pendle in Dezennien-Schritten immer hin oder her, ob das geht oder nicht geht. Während ich Anfang der Neunzigerjahre fast religiös davon besessen war, man könnte seinen eigenen Wahrnehmungsmechanismus überschreiten – gerade durch die Kunst –, um wirklich zum Wirklichen vorzudringen und nicht bloß in einer Projektion oder gelernten Anordnung und Konstruktion gefangen zu bleiben, war ich dagegen am Ende des Jahrzehnts fast vom Gegenteil überzeugt und dachte, das wird niemals möglich sein. In meinen Texten aus dieser Zeit findet man oft das Wort „Scheitern“. Jetzt kehrt sich wieder etwas um. Auf eine paradoxe Weise denke ich: Gerade im Scheitern kann man etwas erreichen.
Um nicht zu abstrakt zu werden, komme ich nochmals zum Beispiel mit dem Kopfhörer zurück und zum Unterschied, den es macht, ob ich den Kopfhörer aufhabe oder nicht. Man könnte beschreiben, dass bestimmte technische Artefakte des Mikrofons und des Kopfhörers einen ein bisschen anders gefilterten Klang ergeben. Man könnte ferner beschreiben, dass die räumliche, stereophone, binaurale Wahrnehmung gegenüber dem natürlichen Hören ein bisschen verschieden ist, weil die Mikrofone auf dem Kopfhörer knapp neben dem Ohr angebracht sind. Doch diese technischen Dinge sind nicht entscheidend.
Eine Erfahrung, die – glaube ich – jeder macht, wenn er sich den Kopfhörer aufsetzt, ist, dass alle Dinge und Klänge, die im Raum passieren, plötzlich eine völlig andere Präsenz bekommen. Plötzlich ist alles gleich wichtig: das Flüstern vom entfernten Nebentisch, die umgeblätterte Zeitung, eine Tasse wird abgestellt und so weiter – als sei die normale selektive Hierarchie ausgehebelt, mit der wir uns sonst in einem Café auf ein Gespräch konzentrieren und alles andere um uns herum ausblenden.
Allein dadurch habe ich schon gelernt, wie wir diese Hierarchie beim Hören üblicherweise erzeugen. Das heißt: unser Ohr ist ein unglaublich selektives Organ. Vor zwanzig Jahren schienen noch alle davon überzeugt gewesen zu sein, nur das Auge hätte diese selektive Fähigkeit, und das Ohr sei passiv den Klängen ausgesetzt und könne nicht wählen. Das ist ein Riesenirrtum. Und das ist eine der großartigen Beobachtungen, die ich mit dem Studium der Wahrnehmung mache.
Ohne Kopfhörer bin ich die normale Mischung Mensch, dem heiß ist, der ein bisschen hungrig ist, einen anstehenden Termin nicht verpassen darf und für den die akustischen Dinge der Umwelt nur eine geringfügige Rolle spielen, weil er in Gedanken und mit sich im virtuellen Gespräch ist. Doch sobald ich den Kopfhörer aufhabe, ist es, als sei ich nur noch ein Ohr. Jetzt ist nur noch das Hören wichtig, während alle anderen Organe sekundär geworden sind.
Und jetzt zurück zur Frage nach der Wahrnehmung der Wahrnehmung: Genau das ist im Wechsel von Kopfhörer ab und auf enthalten, in der Differenz zwischen beiden möglichen Wahrnehmungszuständen. Ich kriege die Erfahrung, dass es unterschiedliche Arten und Weisen gibt, die Welt zu erleben – zwar nicht gleichzeitig, aber unmittelbar aneinandergeschnitten. Durch diese Unterschiedlichkeit fängt die normale Weise an zu schwanken. Es ist ein bisschen so, als könnte ich aus mir heraustreten und meinen eigenen Platz räumen, um mich selbst zu beobachten.
Ziel ist also nicht, die Wahrnehmung für minimale Differenzen zu sensibilisieren, sondern diese minimalen Differenzen dienen sozusagen als Katalysator dafür, die Wahrnehmung sich ihrer selbst bewusst werden zu lassen. Ähnlich benannte auch Helmut Lachenmann als den eigentlichen Gegenstand von Musik „die sich selbst wahrnehmende Wahrnehmung“. Lachenmanns Werke lösen kein permanent distanziertes Sich-selbst-Reflektieren aus, sondern absorbieren durch ihre Sinnlichkeit phasenweise auch komplett unsere Wahrnehmung, markieren aber zugleich durch ihre Eigenart Differenzen zu unserem verinnerlichten Musikbegriff, die uns dann vielleicht dazu bringen, auch unser eigenes Hören zu beobachten.
Ich denke, diese Differenz funktioniert nur über die sinnliche Ergriffenheit, also durch den Abbruch der Unmittelbarkeit und Innigkeit der sinnlichen Beziehung. Wenn ich als Wahrnehmender nirgendwo eingestiegen bin, kann ich auch nicht aussteigen. Das bedingt sich wechselseitig.

Du hast verschiedentlich darauf hingewiesen, dass die impressionistische Malerei den Betrachter das Sehen sehen ließ, so wie du den Hörer sein Hören hören lassen möchtest. Warum hatte die bildende Kunst für dich eine so wichtige öffnende Wirkung? Warum erwuchs dieser für dein Schaffen zentrale Gedanke „Hören hören“ nicht aus der Musik, sondern aus dem Umweg über die Kunst?
Ich persönlich empfinde das nicht als Umweg, da ich eigentlich immer schon gemalt, komponiert und Klavier gespielt habe. Das war für mich wie eine Einheit. Erst später bemerkt man dann, dass die Dinge alle gar nicht so einheitlich sind, sondern völlig verschiedenen Institutionen angehören und überhaupt nicht mehr gemeinsam präsentiert werden können.
Das ist ja nach wie vor ein interessanter Reibepunkt für mich, dass ich diese „Entfremdung“ von der ursprünglichen Einheit kreativ zu machen versuche, indem ich zum Beispiel – wie bei den letzten Donaueschinger Musiktagen – ein Stück mache (Points and Views von 2014), wo der erste Teil eine visuelle Arbeit ist (Tintenstrahldruck) und der zweite ein Ensemblestück (2. Ensemble, zwei Klaviere und zwei Lautsprecher). Ich glaube, dass die Musik die Reflexion über sich selbst und das Hören sehr wenig aufgegriffen hat, während das die Maler schon früh getan haben, zum Beispiel Cézanne und die Generation vor ihm, die das Malen malt. Da gibt es in der Musik nichts Vergleichbares, schon gar nicht zu jener Zeit – wenn überhaupt, dann erst in den letzten zwanzig Jahren.
Du hast die getrennten Organisationsstrukturen der Künste angesprochen: hier das Museum, dort der Konzertsaal und so weiter. Inwiefern ist gerade der Musikbetrieb – auch die Neue Musik mit ihren speziellen Festivals, Konzertreihen und Orten – im Grunde etwas, das Wahrnehmung eher kanalisiert als öffnet? Du selbst hast ja immer wieder die Produktions- und Rezeptionsbedingungen von Musik aufgespielt – etwa bei den Donaueschinger Musiktagen 2010 mit Wechselstrom und Massenmord für Titel, Streichquartett und Programmnote –, das nicht als fertig einstudiertes Ergebnis auf die Bühne gebracht wurde, sondern den Probenprozess der Musiker im Erstkontakt mit deinem Werk zeigte.
Da ecke ich immer wieder an. Ich entscheide mich nicht für Institutionenkritik – wie ich mich auch für etwas anderes entscheiden könnte –, denn ich habe diese Wahl nicht, sondern bin da hineingeworfen. Ich merke einfach, dass ich wegen der Limitationen der Institutionen bestimmte Sachen nicht machen oder denken darf. Und dieses Nicht-Dürfen provoziert mich natürlich dazu, genau dieses Nicht-Gedurfte sichtbar zu machen, den Finger darauf zu legen.
Wir bewegen uns in der Neuen Musik eigentlich immer noch in einem stockkonservativen Terrain – mit den gleichen Instrumenten wie vor dreihundert Jahren, mit den gleichen Konzertsälen, dem gleichen Aufbau, mit Dirigent, Notationsweise, Akademieausbildung, Intendant etc. Da hat sich nichts verändert. Wenn der taube Beethoven in einem Lachenmann-Konzert sitzen würde, könnte er nicht entscheiden, ob nicht gerade eine Sinfonie von ihm selbst aufgeführt wird, weil sich da im Grunde so wenig verändert hat. Ganz anders bei der konzeptuellen Kunst.
Bis zu den Fünfzigerjahren war es der Begriff von Kunst, entweder mit Öl und Leinwand zu arbeiten oder mit Skulptur in Stein oder Metall. Seither kann aber alles Kunst sein, während man auf diese traditionellen Materialien eher ausnahmsweise zurückgreift. Im Gesamtspektrum der Kunst ist die Malerei nur mehr ein Verfahren unter vielen anderen. Davon ist die Neue Musik meilenweit entfernt. Ein Neue-Musik-Festival, bei dem kein einziges klassisches Instrument mehr vorkommt – Christian Scheib hat das in den Neunzigerjahren beim Musikprotokoll im Steirischen Herbst einmal versucht – würde heute vom Publikum mit großer Abwesenheit gestraft. Das Übergewicht traditioneller Ensemblebesetzungen ist eindeutig. Wir sind unendlich weit entfernt von einem postmodernen „anything goes“.

Ich möchte das Thema „Wahrnehmung“ mit dem Verweis auf Herbert Marcuses großen Essay Versuch über die Befreiung (1969) um einen Aspekt erweitern. Als Reaktion auf die damaligen antiautoritären Emanzipations- und Studentenbewegungen vertrat Marcuse die These:
„… die Revolution muss gleichzeitig eine Revolution der Wahrnehmung sein.“
Nur wenn wir unsere Umwelt neu wahrnehmen, sind wir auch in der Lage, diese zu verändern. Hast du die Hoffnung, mit deiner Arbeit die Wahrnehmung unserer allgemeinen Lebenswelt zu verändern – um damit vielleicht sogar gesellschaftspolitisch zu wirken?
Da bin ich skeptisch. Es riecht für mich nach Ideologie, so als müsste ich in meinem Kopf etwas ändern oder wie eine Religion annehmen, mich zum Buddhismus bekehren, um dann die Welt anders zu sehen. Ich glaube nicht, dass ich mein Wahrnehmungssystem wirklich verändern kann. Aber ich glaube schon, dass ich es ein bisschen besser verstehen lernen kann. Das ist es – und das macht im Endeffekt dann vielleicht auch eine Veränderung, wenn auch nicht gleich eine Revolution.

Dieses Verstehen von Wahrnehmung ist zunächst einmal ganz auf dich selbst als Hörer und Musikschaffender bezogen und nicht auf andere oder das Publikum als Teil der Gesellschaft?
So kann man das sagen. Jede Erzieherrolle wäre mir sehr unangenehm. Ich will es erst einmal selbst wissen. Aber wenn man etwas gefunden hat, dann hat man natürlich ein Mitteilungsbedürfnis und möchte es auch zeigen: Guckt mal, was ich gefunden habe – ist das nicht irre! Das ist ganz kindlich: Mama, guck mal!
Heute erleben die meisten Menschen Musik nur noch medial reproduziert, vereinheitlicht durch Gerätestandards von Lautsprechern und Kopfhörern sowie datenreduzierte mp3-Kompression. Im Internet erscheint viele Musik als x-beliebiger „Content“ in einer ihr untypischen unkörperlichen Medialität. Unser Sehen und Hören ist Reizüberflutungen, allgegenwärtigen Lärmemissionen und dem Pop einer globalisierten Musikindustrie ausgesetzt. Fühlt sich da einer, dem es um Wahrnehmung und gar um das Wahrnehmen der Wahrnehmung geht, nicht wie der „Letzte Mohikaner“?
Ich möchte es ein bisschen relativieren. Was heute das Internet macht, das haben vorher andere Medien gemacht: die Boombox in den Achtzigerjahren oder davor die Stereoanlage. Dass wir unter der „normalen“ Wahrnehmung eigentlich immer irgendwie in Mischungen, Gedanken, Dialogen und Notwendigkeiten verstrickt sind und uns eigentlich fern der Wahrnehmung bewegen – das trifft sowohl auf neunundneunzig Prozent der Menschen zu als auch auf neunundneunzig Prozent der Situationen meines eigenen Lebens. Ich will mich auf gar keinen Fall zu einer Ausnahme stilisieren lassen.
Ich bin genauso wie alle anderen und schätze genauso die Möglichkeiten des Internets, das mir ganz praktisch erlaubt, Sachen zu tun, zu zeigen, zu denken und weiterzuführen – außerhalb der Institutionen, die mir die alten Institutionen vor der Internetzeit niemals erlaubt hätten. Ich sehe zwar auch die kritischen Punkte, aber die gab es auf verschobene Weise auch schon vor dem Internet – zu jeder Zeit, wahrscheinlich auch in irgendeiner Weise im achtzehnten Jahrhundert, wo es überhaupt noch keine Elektronik gab.
Die Entfremdung ist Bestandteil von uns. Ohne sie wären wir keine Menschen. Wir können die Entfremdung nur erleiden und uns in ihrem Erleiden zu einer niemals existiert habenden Einheit zurücksehnen. Und in diesem Sehnen machen wir uns überhaupt erst zum Menschen.
Und die Werkzeuge, mit deren Hilfe wir uns dem verlorenen Paradies wieder anzunähern versuchen, führen uns doch nur immer weiter davon weg.
Ja, die Paradoxie kann man nur endlos weiter verschieben, von einem Werkzeug zum anderen, und letztlich ist es eben gerade das Internet. Jeder Schlager ist ja schon der Versuch, eine Einheit oder Identifikation herzustellen – deswegen funktioniert er ja so gut –, obgleich er eine Lüge ist, die nicht hält und deswegen immer wieder neu erzeugt werden muss.

Deine Arbeiten waren zunächst vor allem in Österreich und dann im gesamten deutschsprachigen Raum präsent. Seit den 2000er Jahren werden sie weltweit gezeigt, auch in Argentinien, Australien und vor allem den USA. Hängt das gewachsene Interesse an deinem Schaffen auch damit zusammen, dass die in den Achtziger- und Neunzigerjahren geborene junge Komponistengeneration gegenwärtig in dir ein Vorbild entdeckt?
Ja, das ist etwas, woran ich mich noch nicht gewöhnt habe, was mir aber schon verschiedentlich zugetragen wird. Es passiert, dass mir jemand von einem Freund erzählt, der Komponist ist und sagt: „Es ist so schrecklich, dass es den Ablinger gibt, weil alles, was mir einfällt, hat der schon gemacht.“ So war es von mir natürlich nicht gedacht. Ich möchte den Leuten auch nicht im Wege stehen – denen irgendwann schon der Vatermord gelingen wird –, und dann gehöre auch ich zum alten Eisen. Aber es trifft zu, dass mir dieses internationale Interesse sehr oft von sehr jungen Leuten und Ensembles entgegengebracht wird. Die junge Generation sucht einfach einen Ausweg aus dem beschriebenen Dilemma der bestehenden Institutionen, und an solchen Auswegen habe ich zeitlebens eben selbst immer gearbeitet.
In der Werkreihe Voices and Piano (seit 1998) lässt du Sprachaufnahmen bekannter Persönlichkeiten aus Geschichte und Gegenwart in Tonfall, Tempo, Rhythmus, Dynamik und Lautlichkeit von einem Pianisten möglichst genau und synchron auf die Klaviertastatur übertragen. Auch hier geht es um Differenzen, um den Unterschied zwischen musikalischem und sprachlich-identifizierendem Hören.
Da gibt es so eine Art Kippbild. Ich kann mich selbst erleben, ob ich jetzt dem gesprochenen Text folge oder dem, was das Klavier aus der Sprache macht. Und es gibt eine dritte Ebene dazwischen, die sich ganz schwer beschreiben lässt. Denn die Musik verändert die Sprache, lässt sie klingen, als würde sie singen – und die Sprache verändert etwas am Klavier, lässt es ein bisschen sprechen. Da entsteht ein Zwischenraum wie bei Weiss/Weisslich 36, worüber wir gesprochen haben. Ich habe die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, welche der Ebenen ich gerade wähle. Doch jetzt ist es nicht der mediale Akt eines Kopfhörers, den ich auf- oder absetze, sondern es ist meine eigene Entscheidung, was ich höre. Und ich muss mich entscheiden, denn beides kann ich nicht gleichzeitig. Wenn du mir jetzt gerade zuhörst und versuchst, die Melodie meiner Sprache zu hören, wird es schwierig, noch dem Sinn meines Gesprochenen zu folgen. Du musst umschalten – und du kannst auch umschalten. Es ist deine Entscheidung, was du wahrnimmst. Das ist beides die Welt.
Es geht also auch hier nicht um die Wahrnehmung der Differenz zwischen Sprache und Musik, sondern um den Wechsel unserer Wahrnehmung – also letztlich um die Wahrnehmung der Unterscheidungs- und Entscheidungsfähigkeit unserer Wahrnehmung selbst.
Und das zeigt uns die Fragwürdigkeit von Wahrnehmung, die Irreführung von Wahrnehmung – wie weit die normale Alltagswahrnehmung eigentlich entfernt ist von der Wirklichkeit, wie falsch die Wahrnehmung ist.
Eigentlich benutze ich die Wahrnehmung, um die Wahrnehmung zu widerlegen.