Das Menschliche im Musiktheater

Bericht

Das BAM! Berliner Festival für aktuelles Musiktheater 2025

Die vierte Ausgabe des BAM! Berliner Festivals für aktuelles Musiktheater fand erstmals in Neukölln statt, einem Stadtteil, der wie kaum ein anderer für Diversität und kulturelle Vielfalt steht. Seit der letzten Ausgabe 2022 hat sich ästhetisch, gesellschaftlich und politisch viel verändert. Das Festival reagierte darauf mit einer Frage, die Zukunftsperspektiven und Gegenwartsanalysen forciert: „Where do we go from here?“ Vier Tage lang präsentierte das Festival gemeinsam mit dem diesjährigen Gastland Polen sechzehn Produktionen und zwei Panels, verteilt auf unterschiedlichste Spielorte des Bezirks.

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Lavomatik. Foto: Lukas Klitsch

Der Tempel aus Emaille und Chrom

Das Kompositionsduo Ludmilla Mercier und Jakob Böttcher eröffneten das BAM! -Festival mit „Lavomatik“, – einem Stück über die Waschmaschine. Schon beim Betreten des Saals der Neuköllner Oper empfing das Publikum eine Shepard-Skala, die endlose Rotation suggerierte und die Gedanken sofort in eine sogartige Spirale zog. Humorvoll und existenziell zugleich verorteten Mercier und Böttcher das Geschehen im Inneren des „Tempels aus Emaille und Chrom“. Auf der Bühne dominierte eine gigantische Wäschetrommel, die wie ein menschliches Hamsterrad funktionierte und die Beziehung zwischen Mensch und Maschine thematisierte. Zugleich diente sie als Projektionsfläche multimedialer Projektionen und als Sprachrohr Richtung Publikum. In mehrsprachigen Waschmittel-Werbeblöcken wurde das absurde Konzept der „Reinheit“ aufgegriffen, ergänzt durch klimaaktivistische Einblendungen. Schauspielerin Trixi Strobel pendelte im menschengroßen Hamsterrad hin und her, während Lis Marti und Julien Mégroz in futuristischen Waschfrauenkostümen zahlreiche im Raum verteilte Workstations mit Midi-Keyboards bespielten. Mégroz’ Schlagzeug wurde durch Waschmaschinenteile wie eine weiß lackierte Trommel, eine verkabelte Armatur und die Glastür ergänzt. „Lavomatik“ bot damit einen Vorgeschmack auf die inhaltliche und materialistische Thematik der folgenden Festival-Tage.

Soft Powernapping

Wojtek Blecharz’ immersive Installation „Soft Power“ widmete sich dem Körper, seiner Empfindlichkeit und dem Akt des Hörens. Im Keller des polymedialen Ponyhofs erwarteten jeweils vier Besucher:innen ein in blaues Licht getauchter Raum. Auf dem Boden verteilt lagen Isomatten, Decken und Kissen, in die jeweils Lautsprecher eingebettet waren. Blecharz stellte sich gegen die starre Hörhaltung des Konzertsaals. Der Körper sollte wie im Schlaf in einen „Zustand der Freiheit“ geführt werden. Die etwa 15-minütige Komposition bewegte sich im unteren Frequenzspektrum; tiefe Subbässe setzten vibrierende Impulse direkt durchs Kissen ans Ohr. Zu konkreten Klängen flüsterte Blecharz: „You will wake up now and find yourself in another dream.“ Einige Besucher:innen nutzten die Viertelstunde als kurzen Powernap, um energiegeladen zum nächsten Austragungsort zu gelangen.

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Soft Power

Der „andere Traum“ verortete sich im Puppentheater-Museum zwei Straßen weiter. Umringt von mehreren Hundert Rittern, Kasperfiguren, Drachen und Hexen widmete sich „Papuče Pantofi Power“ von Lisa Marie Stojčev und Eli Simić-Prošić einem ganz besonderen Schuh. Das Publikum war im Vorfeld gebeten worden, seine Hausschuhe mitzubringen. „Meine Pantoffeln waren mein Bulgarien zuhause“, sagt Simić-Prošić im Laufe der Vorstellung. Papuče sind keine gewöhnlichen Nutzobjekte – anders als die anderen Schuhe sind sie stets ortsbezogen, was positiv wie negativ konnotiert sein kann. Stojčev und Simić-Prošić teilten an diesem Abend auf persönliche Weise Fragmente ihrer kulturellen Herkünfte aus Bulgarien, Serbien und Australien. So wurden etwa gleich zu Beginn Plazma-Shakes verteilt, ein Milchgetränk mit den beliebten serbischen Butterkeksen („Plazma“). Die Kollektiverfahrung wurde durch gemeinsames Singen unterstützt, begleitet von einer Dwoyanka-Flöte.

Generation Glissando

Im Saal der Neuköllner Oper wurden im Laufe des Festivals in zwei Panels aktuelle Herausforderungen des zeitgenössischen Musiktheaters diskutiert. Im ersten Panel sprachen Irene Lehmann und Fabian Czolbe mit Vertreter:innen der selbsternannten „Generation Glissando“, benannt nach dem 2004 gegründeten Magazin für experimentelle Musik. Wojtek Zielinski, Kuba Krzewinsky, Monika Pasiercznik, Wiola Zochowska und Wojtek Blecharz gaben dazu Einblicke in die Arbeitsrealitäten Polens und Deutschlands. Die Musiktheaterszene sei in Polen eng an die Szene der zeitgenössischen Musik gekoppelt. Gemeinsam sprachen die Gäste über die zunehmende Bürokratisierung in Deutschland, die künstlerische Prozesse ersticke. Anträge würden zu großen Hürden; statt über Kunst nachzudenken, würden Künstler:innen die Vorgaben der Institutionen erfüllen. Während Polen nach den kulturpolitischen Schäden, die die PiS-Regierung verantwortet, Strukturen erst neu aufbaut, sei es dort derzeit oft unkomplizierter, experimentelles Musiktheater umzusetzen. Umso wichtiger schien es, über die Zukunft des Musiktheaters zu sprechen. Im zweiten Panel wurde sich dem Futur dann auch gewidmet: Moderiert von Franziska Seeberg und Matthias Rebstock waren Guy Coolen, Leonora Scheib, Rainer Simon, Hannes Seidl sowie die BAM!-Festivalleiter:innen Annalisa Derossi und Roland Quitt eingeladen. Dem Konsens darüber, dass Musiktheater zu lange für sich selbst produziert habe, schloss sich die Erkenntnis an, dass das Publikum längst intersektionaler, neugieriger und an vielfältigen Kunstformen interessiert sei. Simon betonte die Signifikanz der affirmativen Transformationskraft des Musiktheaters, die dies ähnlich wie die Popkultur mehr für sich nutzen müsse. Seidl plädierte dafür, Gruppen in künstlerische Prozesse einzubeziehen, die bisher nicht mitgedacht wurden – etwa beim Schreiben von Programmheften. Ein einfacherer Text nehme einem Stück nichts, sondern erhöhe seine Zugänglichkeit. Zugleich brauche es stärkere Lobbyarbeit und kulturpolitische Allianzen. In nüchternem Realismus konstatierte man, dass die Kunst gerade dabei sei, ihre Freiheit zu verlieren, auch in Berlin. Die Frage „Wo stehen wir politisch, wenn wir glauben, unpolitisch zu sein?“ verschob den Diskurs gegen Ende in Richtung Cancel-Culture aus Veranstalter:innenperspektive, die in dem Panel jedoch aus privilegierter Position heraus sprach.

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Drag & Drum. Foto: Ralf Deves

Drag & Drum

In „Drag & Drum“ zeigten Heinrich Horwitz, Jonathan Shapiro und Shlomi Moto Wagner aka. Mazy Mazeltov verschiedene Facetten ihrer queer-jüdischen Identitäten. Die Performance begann im Foyer des CANK, wo sie in unterschiedlichen Tempi mit Kontaktmikrofonen verstärkte Spieluhren bedienten und dabei Kathy Acker rezitierten: „If you ask me what I want, I tell you, I want everything.“ Im folgenden „Urchatz“, dem rituellen Händewaschen vor dem Pessach-Seder, wurden Orangen gewaschen, die seit den jüdisch-feministischen Bewegungen der 1980er-Jahre als Symbol der Inklusion marginalisierter Gruppen Platz auf dem Seder-Teller finden. Horwitz, Shapiro und Wagner bauten zugleich humorvolle Elemente in ihr Stück ein: „This is the love scene of two queer jewish couples: I love you. I love you. I love you. I love you.“ Beim Pessach-Seder teilten die Performer:innen ihre Speisen mit dem Publikum. In der folgenden Szene wurde verstorbenen jüdischen Aktivist:innen und queeren Personen gedacht: Sadie, Sadie the Rabbi Lady und Charlotte Charlaque, um wenigstens zwei zu nennen. Dieser emotionale Moment wurde vom Trommeln auf einer Pauke begleitet, dessen Fell mit Glitzer bestreut war, das bei jedem Schlag in die Luft schoss. In einer Choreografie des Tauknotens stellten die Performer:innen die sieben Geschlechter des Talmud vor: Zachar, Nekevah, Androgynos, Tumtum, Aylonit, Saris hamah, Saris adam. Die sich überlagernden Schatten an der Wand hinter den Performer:innen wirkten dabei wie eine Metapher für Geschlecht als Spektrum. Die abschließende Performance von „Smells Like Teen Spirit“ mit Schlagzeug und elektrischer Ukulele verlieh dem Musiktheaterstück einen treffenden Schluss, der aufgrund der Songauswahl ein Kollektivgefühl schuf. Horwitz, Shapiro und Wagner haben mit „Drag & Drum“ ein emotional-poetisches Musiktheater geschaffen, das einem möglicherweise wenig vertrauten Publikum queer-feministische Zugänge des Judentums eröffnen konnte.

Eine Pfütze aus Kotze

Einige Produktionen des Festivals erkundeten die Straßen Neuköllns selbst als Bühnenraum. „Incantations“ von Hauen & Stechen spielte in der dreistöckigen Rotunde der Neuköllner Galerie und führte die „Cantes“ der Komponistin Augusta Holmes in einem fantasievollen Stück mit Alraunen und einer Hexe auf. In „War Whispers“ führte das Sounding Situations-Kollektiv eine Gruppe mit Funkkopfhörern durch die U-Bahn zum Hermannplatz. Orte, die man sonst oft nur eilig durchquerte, konnten dadurch genau beobachtet werden – in Konfrontation mit Text- und Interviewfragmenten von Etat Adnan aus „To be in a time of war“, deren Inhalte angesichts der gegenwärtigen politischen Spannungen besonders relevant sind.

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War Whispers. Foto: Annalisa Derossi

Den Abschluss bildete eine Weiterführung von Hannes Seidls Reihe „B-Ebene“, diesmal unter dem Titel „Underground Stories Neukölln“. Die Manufaktur für aktuelle Musik entwickelte dafür gemeinsam mit der Klasse 7F des Albert-Einstein-Gymnasiums und dem Kinder- und Jugendchor Vokalhelden eine 90-minütige Performance. Aufführungsort war eine weite Halle des ehemaligen C&A-Kaufhauses am Rathaus Neukölln. Die Publikumsplätze waren wie bei einer Fashionshow in mehreren Gängen angeordnet und in der Mitte durch eine Rolltreppe in zwei Hauptpublikumsbereiche geteilt. Das Musiktheater begann choreographisch: Die Kinder saßen im Publikum, standen auf, bewegten sich durch den Raum, setzten sich um, kommentierten und registrierten, was sie in Neukölln wahrgenommen hatten: Geschäfte, Straßennamen, Werbeschilder oder eben „eine Pfütze aus Kotze“. Ins Bühnenbild war eine Anzeigetafel integriert, die diese Beobachtungen wiedergab. Große Spiegelplatten wurden ständig neu arrangiert und veränderten sowohl die Perspektiven auf das Bühnengeschehen als auch die Sicht der Zuschauer:innen aufeinander. Die Musiker:innen bewegten sich ebenfalls durch den Raum, wodurch das gesamte Setting die Dynamik des Bezirks widerspiegelte. Musikalisch gab es keine markanten Unterschiede zu früheren Ausgaben: Die Instrumentierung mit elektrischer Gitarre, Synthesizer, Keyboard, Fagott, Trompete, Violine, Violoncello und Perkussion wurde in Soundscapes eingesetzt, die teilweise in Duette und Soli mündeten. Gemeinsam mit den Kindern wurden in zwei Phasen kollektive Klangfelder aus Triangel- und Beckenschlägen erzeugt. Die zweisprachige Klasse brachte neben Deutsch auch Italienisch ins Stück ein. Mit Lautsprecher-Trolleys und Mikrofon erzählten die Kinder von ihren städtischen Utopien, die sie anschließend in Kreide auf dem Boden visualisierten: autofreie Straßen, keine Armut oder eine Stadt voller Trampoline. Auch wenn Letzteres wahrscheinlich nie umsetzbar sein wird, wurde deutlich, welche Perspektiven Kinder einnehmen können. Seidl wies im Panel darauf hin, dass sich die Produktion nicht als pädagogische Arbeit verstehe, sondern als Musiktheater, das versuche herauszufinden, von welchem Standpunkt aus Kinder die Stadt der Erwachsenen wahrnehmen.

Fazit

Die vierte Ausgabe des BAM! Festivals hat wieder einmal gezeigt, dass zeitgenössisches Musiktheater, man könnte fast wörtlich sagen: wie ein Spiegel der Gesellschaft funktioniert. Die Stücke scheinen trotz ihrer thematischen Unterschiede auf mehreren Ebenen miteinander verknüpft zu sein. Sie eint ein emotionaler und persönlicher Zugang: Zum einen greifen die Stücke auf Traditionen, Erinnerungen und dokumentarische Methoden wie Interviews und Filmaufnahmen zurück und blicken so nostalgisch auf vergangene Zeiten. Zum anderen zeichnen sie ein Bild der Zukunft, das von Überforderung und Angst geprägt scheint. Es lässt sich nicht bestreiten, dass mittlerweile auch in Deutschland ein Krieg zu flüstern beginnt. Gleichzeitig zeigen die partizipativen Phasen, die in mehreren Stücken zu finden waren, dass eine Bereitschaft zur aktiven Beteiligung vorhanden ist, die der Unumgänglichkeit politischer Debatten zugutekommt.

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