Den verbotenen Apfel fressen
BerichtWien Modern 2025
Alle Jahre wieder geht für knapp fünf Wochen im November Wien Modern über die großen und kleinen Bühnen der Stadt, die sich nach wie vor mit einiger Berechtigung für die Welthauptstadt der Musik hält. Mit Sicherheit aber ist sie alljährlich im November die Hauptstadt der Neuen Musik. Die 38. Ausgabe des 1988 von Claudio Abbado gegründeten Festivals steht in diesem Jahr unter dem Motto „Lernkurven“, präziser: „115 Versuche über den gelassenen Umgang mit Lernkurven“, und stellt sich formal und inhaltlich breiter auf als je zuvor. Untersucht wird, wie sich die zunehmende Diversität der Gesellschaft in der wachsenden Metropole auch in der Neuen Musik und den angrenzenden Künsten widerspiegelt und welches Publikum damit erreicht wird. So geht es ganz gezielt auch darum, einen inhaltlichen Spagat zu schaffen, der mit dem Tempo der gesellschaftlichen Dynamik mithält und ein breiteres Publikum anspricht, ohne die Wurzeln des Festivals in der westlichen Avantgarde aufzugeben.

Foto: Markus Sepperer
Billone und Lachenmann
Fast so alt wie das Festival Wien Modern ist der „Erste Bank Kompositionspreis“: Seit 1989, also ein Jahr nach der Gründung des Festivals, vergibt die Erste Bank jedes Jahr diesen Preis, der mit Uraufführungen durch das Klangforum Wien verbunden wird. Die Aufführung findet stets im Rahmen des Festivals statt. In diesem Jahr geht der Preis an den italienischen, in Wien lebenden Komponisten Pierluigi Billone. Er zählt zum Kreis der herausragenden Wahlwiener:innen, denen auf dem diesjährigen Festival besondere Aufmerksamkeit zuteilwird. Im Mozart-Saal des Konzerthauses kommt seine gut 35-minütige „Studie für Ensemble“ zur Uraufführung, eine sogartig sich verdichtende, fein gesponnene Partitur mit archaisch anmutenden Passagen, bei der ein performativ bespieltes Holzbrett eine zentrale Rolle spielt.
Billone ist ein Schüler von Helmut Lachenmann, welcher vor wenigen Tagen seinen 90. Geburtstag feierte. Der Komponist ist nach wie vor aktiv und ist von Italien, wo er heute lebt, nach Wien gereist, um im Konzert anlässlich der Preisverleihung an seinen Schüler Billone sogar selbst aufzutreten, nämlich als Sprecher in seiner bald 35 Jahre alten Komposition „… zwei Gefühle …, Musik mit Leonardo“ für Sprecher und Ensemble.
Lachenmann wirkt mehr als rüstig, als er die Bühne entert. Seine Performance ist hochkonzentriert, er hat allein mit dem Ensemble fünf Proben absolviert. Im Gespräch nach der Generalprobe stapelt er jedoch betont tief: „Ich bin Dilettant. Ich muss ja dauernd zählen beim Sprechen.“ Dabei hat er mit dem Dirigenten Emilio Pomarico sein Werk bereits mehrfach auf die Bühne gebracht. In Sachen Interpretation lässt er sich nicht reinreden: „Da kann mir der Emilio nichts dazu sagen, er passt nur auf, dass ich zum richtigen Moment einsetze.“
Lachenmanns Werk mit seiner zerfaserten, zerklüfteten Struktur und der in einzelne Silben und Laute zerlegten Sprache wirkt auch heute noch sperrig und herausfordernd. Seine eigene Klangwelt im Sinne der „Schönheit als verweigerte Gewohnheit“ glaubt Lachenmann daher heute noch verteidigen zu müssen: „Diese mir immer wieder vorgelegte Unterstellung, ich wollte dauernd neue Klänge suchen …? Ich suche neue Zusammenhänge von Klängen, die man schon kennt. Aber die sind dann in meinem Kontext irgendwie fremdartig, denn sie haben einfach eine andere Funktion.“
Neue Musik steht noch immer im Verdacht, erklärungsbedürftig zu sein. Dirigent Emilio Pomarico sieht das anders: „Das ist ein großes Missverständnis – ein riesiges Missverständnis –, denn die Musik unserer Zeit ist einfach Musik. Und wie in der Vergangenheit gibt es die guten Stücke, die guten Komponisten und die weniger guten Stücke. Und es hängt viel von den Interpreten ab.“
Lange Zeit hatte Lachenmann auch mit Widerständen der Ausführenden des etablierten Klassik-Betriebs zu kämpfen, wie er sich erinnert: „1955, da waren die allerersten Stücke, da habe ich nie die Musik gehört, sondern immer nur die Allergie der Musiker. Und so klang‘s dann auch.Ich habe damals meine Stücke genannt: ‚Allergie eins, Allergie zwei…‘. Aber wenn jemand zu mir sagte: ‚Was Sie machen, ist keine Musik!‘ – den wollte ich gewinnen. Es geht um die Praxis, wie wir mit Irritation umgehen. Wir leben in lauter Paradiesen des Bürgerlichen. Wir glauben schon zu wissen, wie Musik geht. Aber man muss im Paradies den verbotenen Apfel fressen, sonst ist man verloren.“
Schluss mit Autopilot
Nach diesem Konzert im traditionellen Setting geht es am nächsten Abend des Festivals in den „Echoraum“, einen Treffpunkt der Wiener Impro-Szene, wo unter anderem die Formation „Endless Breakfast“ mit Percussion, Geige und Cello aufspielt. Der Saal ist voll, das Publikum sehr gemischt und ein gänzlich anderes als im Konzerthaus. Und genau so soll es sein, wenn es nach Bernhard Günther geht. Seit 2016 ist er künstlerischer Leiter von „Wien Modern“. Auf der Suche nach einem roten Faden hat er festgestellt, dass im Gründungsjahr des Festivals die Stadt Wien am Tiefpunkt ihrer Bevölkerungsentwicklung angelangt war. Danach ging es parallel zum Festival stetig wieder bergauf. „37 Jahre sind vergangen seit 1988, dem Gründungsjahr von Wien Modern, und wir haben seither genau 37 Prozent mehr Menschen in der Stadt. Der Bevölkerungszuwachs ist die reine Migration. Die Geburtenrate hat sich nicht wesentlich verändert. Diese Zahlen-Parallele ist für uns der Auslöser gewesen, uns mit Lernkurven zu beschäftigen und uns zu fragen, was wir denn eigentlich dazulernen müssen. Wie kriegen wir die heutige Vielfalt ins Programm? Wie kriegen wir es an den Stellen nachkorrigiert, wo die Neue Musik so ein bisschen auf Autopilot läuft?“
Prägend für das inhaltliche Profil ist, dass das Festival sich zunehmend den benachbarten Kunstformen öffnet. Es gibt zahlreiche Tanz- und Performance-Aufführungen und Veranstaltungen im Umfeld von zeitgenössischer Kunst. Damit reagiert Wien Modern auch auf die Tatsache, dass Kunstproduktion heute generell neuen Gesetzmäßigkeiten folgt, wie Günther feststellt: „Es ist vorbei mit der Linearität. Wir haben unglaublich viele Vernetzungen. Es gibt ein ganz großes Parallel und Ineinander von verschiedenen Formaten, Ästhetiken, Schulen, Kunstformen. Das passiert alles gleichzeitig und wuchert so fröhlich durcheinander.“
Ein gutes Beispiel für das „fröhliche Wuchern“ ist der nächste Abend, der im Tanzquartier mit der Produktion „Sungazing“ des Berliner Duos „Labour“ beginnt, eine etwa einstündige Performance, in der elektronische Sounds, ekstatische Percussion-Soli, Videokunst, viel Pyronebel, Lichtregie und Tanz suggestiv miteinander verschmelzen. Das ist zeitgenössische Überwältigungskunst irgendwo zwischen archaischem Ritual und Clubkultur. Danach geht es am späteren Abend ins barocke Palais Schönborn im noblen 8. Stadtbezirk, dort bittet man zum „Salon Souterrain“ und einer in Form eines Wandelkonzerts locker arrangierten Abfolge von DJ-Beschallung (Cedrik Fermont), Installationen, Tanz (Zoé-Afan Strasser), Performances (Bishop Black, Marianna Areti Mondelos), einer Diskussion über die Macht von Statistiken und live gespielter Musik (United Instruments of Lucilin). „Salon Souterrain: Echoes of Numbers“ ist eine Koproduktion der künstlerischen Leiterin des Salons und Künstlerin Elisabeth Bakambamba Tambwe mit Wien Modern und dem Tanzquartier Wien und eine jener explizit diskursorientierten Veranstaltungen „als Reaktion auf die zunehmende Ausgrenzungsdynamik […], die zum Kennzeichen unserer Gesellschaften in Europa geworden ist.“ Da gibt es zum Beispiel „Polyester Drops“, eine munter tickernde Komposition für Klavier und verfremdende Elektronik von Igor C. Silva. Das Publikum wandelt zwanglos durch die Salons in üppigstem Barock- und Rokoko-Stil mit riesigen Kristalllüstern, deren Pracht von zeitgenössischer Kunst an den Wänden beherzt gebrochen wird. Die Stimmung ist gehoben, aber lässig, sehr international. Man verhandelt nebenher durchaus ernste Themen, aber ohne in teutonischen Diskurs-Furor oder rechthaberische Überbietungsgefechte zu geraten. Wir sind halt in Wien und nicht in Darmstadt. Mit dem Nerd-Image hermetischer Neue-Musik-Festivals hat das hier nichts mehr zu tun.
Diese Zeiten hält Festival-Chef Bernhard Günther ohnehin für überwunden: „Wenn das so weitergegangen wäre mit dieser Arroganz der Avantgarde, hätte es irgendwann dazu geführt, dass die Neue-Musik-Szene in eine Telefonzelle gepasst hätte. Das war eine Sackgasse. Auch die Neue Musik muss Öffnungen schaffen, muss Andockpunkte bieten für Menschen, die noch keine Ahnung von diesem Kunstbereich haben und die so vielleicht darauf kommen, sich zu fragen: ‚O, das könnte irgendwie interessant sein!?‘“
Überraschungs-Erfolg: „Abendsonne“

Das Neue Musik auch lustig sein kann, beweist die Uraufführung einer veritablen Oper. Weit draußen im 14. Gemeindebezirk Penzing findet im Otto-Wagner-Areal, einer ehemaligen psychiatrischen und pulmologischen Klinik-Anlage des legendären, die Architektur Wiens prägenden Architekten Otto Wagner, im sogenannten Jugendstiltheater die Uraufführung von „Abendsonne“ des Duos Kristine Tornquist und Tomasz Skweres als Produktion des sirene Operntheaters statt. Die Handlung spielt in einem Altenheim und nimmt in Form einer Gesellschaftssatire die Probleme des Pflegesystems ins Visier.
Elegant zwischen Tragik und Komik balancierend beweist die Partitur von Tomasz Skweres sauberes Handwerk und liefert knackige, temporeiche Theatermusik mit angemessenen, aber niemals banalen Pointen. Wie es sich für eine Buffa gehören würde, steht die Wortverständlichkeit im Vordergrund, lyrische Passagen haben eher Seltenheitswert, Sprechgesang dominiert, auch Sprechpassagen sind gefordert. Das 13-köpfige Instrumentalensemble sitzt hinter der Szene, die das Bühnenbildduo Markus und Michael Liszt mit fünf freistehenden Türen minimalistisch möbliert hat. Die Türen werden später zu Betten in der Draufsicht, ansonsten gibt es munteres Auf- und Abtritts-Klappern wie in einer zünftigen Boulevard-Komödie. Gespielt wird mitunter auch vor der Bühne, vor allem das Pflegepersonal und die geizige Klinikleitung, die auch mal ein flottes Tänzchen mit dem Akten-Wagen hinlegt. Es darf also gelacht werden, obwohl das Thema brisant ist und hier keineswegs veralbert wird. Der Abend wird zum stürmisch gefeierten Überraschungserfolg – ein Opern-Neuling, der mit Sicherheit nicht in der Versenkung verschwinden wird, auch weil er theaterpraktisch konzipiert ist, keine Riesen-Ensembles fordert und szenisch unkompliziert zu lösen ist.
Gute Nachrichten
Kurz vor Redaktionsschluss flattert nun die Abschluss-Pressemitteilung des Festivals ins Haus. Sie bestätigt den Eindruck des Besuchs in der zweiten Festivalwoche, nämlich dass das Konzept stimmig ist und das Programm sehr gut angenommen wird. Es spricht zudem tatsächlich unterschiedlichste Publika an, die sich im besten Fall auch mischen. Die Stimmung ist gelöst, niemand versteht hier den Besuch als intellektuelle Bußübung oder emotionalen Stresstest. Die Mischung stimmt. Und die Zahlen sprechen für sich: Insgesamt wurden 58 Produktionen realisiert, darunter 44 Uraufführungen, sowie 30 österreichische Erstaufführungen. Mit 34.455 Besucher:innen wurde eine neue Rekordmarke erreicht, 8,5 Prozent über dem bisherigen Höchstwert von 31.761 aus dem Vorjahr. Seit 2019 mit damals 20.216 Besuchen geht es steil und ungeachtet der Pandemie bergauf. Es muss auch mal gute Nachrichten geben aus der Kulturwelt.
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