Eingesunken

Interview

Klaus Ospald und die Idee der poetischen Matrix

Seit mehr als 40 Jahren bewegt sich der 1956 geborene Klaus Ospald mit bemerkenswertem ästhetischem Eigensinn fernab kompositorischer Trends, ohne dass man ihm rückwärtsgewandte Perspektiven unterstellen könnte. Sein Schaffen entspringt einer im Kern humanistischen Auffassung von Musik, die mit existentieller Unmittelbarkeit vom Menschen spricht. Vordergründige Expressivität, plakative Programmatik oder gar apodiktische Botschaften wird man darin jedoch vergeblich suchen. Dennoch: Sprache spielt eine zentrale Rolle im Kompositionsprozess, auch dann, wenn Worte gar nicht klingen oder im üblichen Sinne vertont sind.

Im Oktober 2025 wurde Klaus Ospald für sein eigenwilliges Werk mit dem Hans-Werner-Henze-Preis des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) ausgezeichnet. Dirk Wieschollek sprach Anfang 2024 mit dem Komponisten im Zuge der Vorbereitungen einer Porträt-Sendung für den WDR in Würzburg über seine Arbeit, insbesondere über den zentralen „Guerra“-Zyklus1 und die darin wirksame Beziehung von Sprache und Klang.2

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Dirk Wieschollek: Herr Ospald, beim ersten Blick in den Werkkatalog fällt unschwer auf: Der Zyklus-Gedanke scheint eine besondere Faszination auf Sie auszuüben. 

Klaus Ospald: Das kann man sagen. Es gab ja vor „Guerra“ schon zwei größere Zyklen, einmal den Leopardi-Zyklus, davor noch den Zyklus „schöne Welt schöne Welt“. Da war ich aber noch in einer ganz anderen kompositorischen Phase und beziehe mich auf Konrad Bayer. Diese Stücke sind viel satirischer in ihrer Anlage, grotesk und überdreht. Dann kam der Leopardi-Zyklus. Das war eine Begegnung mit dem Dichter Giacomo Leopardi, den ich vor ca. 20 Jahren entdeckt habe, einem Zeitgenossen von Hölderlin, aber ohne diesen idealischen Überbau. Und dann als letztes der Spanier Miguel Hernández. Es gibt ein frühes Gitarrenduo namens „El sol no nos recuerde“ aus den 1990er-Jahren, wo ich Hernández schon mal verwendet habe, jetzt aber nochmal ganz intensiv für die Stücke des aktuellen Zyklus. Es begleiten mich einfach ganz bestimmte Dichter und Denker in meinem Leben. 

Die „Guerra“-Stücke hängen also alle mit Hernández zusammen?

Richtig. Sie hängen mit dem Hernández’ Gedicht „Las Carcéles“ [Die Kerker] zusammen.3 Teilweise sind es aber nur einzelne Textzeilen. Es gibt ja nur ein Stück, bei dem ich Gesang verwende, einen Kammerchor. Das ist das allererste. Da werden die Texte auch gesungen. Die anderen Stücke sind ohne Gesang. Da ist es quasi eine „poetrische Matrix“, wenn Sie so wollen. Die Dichtung liegt der Musik zugrunde, wird aber in keinster Weise im herkömmlichen Sinne „vertont“.

Könnten Sie die weiteren Stücke des Zyklus kurz skizzieren?

Es sind insgesamt sechs Stücke. Das erste ist ein Stück für Ensemble und Kammerchor, das ich gerade erwähnt habe. Sehr speziell besetzt: Es gibt drei Querflöten, eine Klarinette, zwei Hörner, Streichtrio, ein Akkordeon, ein Klavier und fünf Kontrabässe. Also eine ganz skurrile Besetzung. Fragen Sie mich nicht, wie ich auf diese Besetzung gekommen bin, sie hängt wahrscheinlich mit dem Inhalt des Gedichtes zusammen. Das war übrigens kein Auftrag. Es gibt, zwei, drei Werke, die ohne Auftrag komponiert worden sind. Also nur mit innerem Auftrag. In diesem Sinne bin ich ein ganz klassischer Komponist. Ich komponiere einfach. 

Das zweite ist ein klassisches Trio für Geige, Cello und Klavier. Das dritte ist für Klavier und Bläser, Pierre-Laurent Aimard hat es mit dem WDR Sinfonieorchester in Köln uraufgeführt. Dann gibt es ein Stück für Akkordeon solo: „Canto“. Das Akkordeon, vergleichbar mit der Gitarre, ist ein Instrument, das ich viel mehr mit der Straße als mit dem Konzertsaal verbinde. Übrigens auch den Kontrabass. Wenn ein Kontrabass in einer hohen Lage eine Melodie spielt – etwa in der 1. Sinfonie von Mahler –, klingt das immer ein bisschen ärmlich. Ich habe dann immer Mitleid mit dem Kontrabassspieler. Das kriegt dann immer diesen ärmlichen, schlichten Ton. Und das trifft sich natürlich mit den Inhalten, die Hernández setzt. Da geht es eben sehr viel um Leid und Trauer. Das ist immer ärmlich, nie pathetisch. Das heißt, ich wähle Instrumente aus, die für mich diese Beziehung schon mit sich bringen. Dann kommt „Escribí“ für Kontrabass, Akkordeon und Orchester und schließlich ein reines Orchesterstück. Der „Epilog“ für Orchester ist für mich nochmal ein Eintauchen in diese Welt, die ich da für mich aufgemacht habe, wo verschiedene Aspekte nochmal hervortreten. Eine große Erinnerung an die fünf vorigen Stücke. 

Das Akkordeon spielt neben dem Solostück „Canto“ auch in „Escribí“ eine ganz besondere Rolle, zusammen mit dem Kontrabass. 

Eigentlich taucht das Akkordeon regelmäßig im Zyklus auf. Die Idee, Kontrabass und Akkordeon zu kombinieren, geht auf Harry Vogt zurück. Ursprünglich war noch eine Bassklarinette vorgesehen, in der Art eines Trios, dann hat es sich reduziert und schließlich ist es bei Orchester, Akkordeon und Kontrabass geblieben. Aber es ist eigentlich nur ein Orchesterwerk mit Kontrabass. Das Akkordeon hat die Gewichtung eines Orchesterinstrumentes. Es ist also kein „Doppelkonzert“. Das ist eine gewisse Eigenart, wenn ich für Solisten komponiere. Auch der Kontrabass ist permanent eingebunden ins Ensemble und tritt als einzige Stimme mal solistisch hervor, im Grunde schon aus einer gewissen Tradition heraus, dass man solistische Passagen erwartet. Es gibt aber keine Kadenzen. Dennoch brauche ich einen sehr, sehr guten Kontrabassspieler. Die Passagen sind schon sehr schwer und auch die Passagen, die nicht schwer klingen, sind sehr schwer, weil der Kontrabass häufig in einer sehr hohen Lage geführt wird und die Flageolett-Griffe nicht einfach sind. 

Ungeachtet dessen gibt es eine große Expressivität in der Kontrabassstimme. Eine impulsive Schroffheit der Gestik, die eine differenzierte Virtuosität verlangt, auch wenn Virtuosität nicht als solistisches Gebaren in den Vordergrund rückt. 

So ist es. Das hängt damit zusammen, dass ich alle Ornamentik auf den Tod nicht leiden kann. Da bin ich zutiefst geprägt von der Zweiten Wiener Schule. Es ist alles für mich strukturell gebunden. Und so muss auch die solistische Partie strukturell in den Orchestersatz eingebunden sein. Die Frage, die sich für mich immer stellt, ist die nach der Notwendigkeit. Auch die nach einer gewissen Logik in der Verwendung. Wie Sie gehört haben, komponiere ich freitonal. Das sind „freie Radikale“ (lacht), ein Begriff aus der Biologie, aber ich bin sehr daran interessiert, diese Töne nicht zu atomisieren. Sondern ich will sie so zusammenführen, dass sie einen gewissen Sinn in der Harmonik ergeben, vergleichbar mit Messiaen oder auch mit Boulez, die ja auch ein harmonisches System entworfen haben, das in sich schlüssig ist und darin doch eine persönliche Sprache transportiert.

Aber es ist nicht nur die chromatische Skala, es gibt auch Mikrotonalität und sehr wichtig sind: die ganzen Zwischenbereiche von Tongebung und Geräuschartikulation, wo man die Klangproduktion immer durchhört. Das scheint mir im Kontrabassstück besonders wichtig.

Diese Qualität bringt natürlich das Instrument schon mit sich. Ich habe fsie ür mich auf die Spitze getrieben, um herauszufinden, wo der Umkipppunkt ist. Wo verlässt der Spieler den sogenannten schönen Ton. Da bin ich auch geprägt von Luigi Nono und Helmut Lachenmann, von deren Uraufführungen in den 1980er-Jahren. Das war natürlich für mich als junger Mensch eine Offenbarung, diese Bereiche auszuloten. Auch wenn ich nicht so komponiere, weil mich das in der Hinsicht später nicht weiter interessiert hat, ist aber die Tatsache faszinierend, dass es immer einen Umkehrpunkt gibt: Auf der einen Seite versucht der Spieler, einen schönen, möglichst resonanzreichen Ton zu produzieren, aber er kämpft im Grunde immer gegen das Produzieren eines Tones an und versucht, den Geräuschanteil eines Tones loszuwerden, das ist ja schon bei der Bogenführung so. Das ist natürlich für einen Komponisten ein schöner Raum, diese Grenzbezirke, diese Zwischenbereiche in sein Vokabular hineinzunehmen. Im Kontrabassstück ist das mit Sicherheit zu hören. Das ist aber auch schon in den Beethoven-Streichquartetten so: Wenn man beispielsweise Sforzati wirklich ernst nimmt, entsteht da ein Geräuschanteil. 

Wenn wir auf Ihre kompositorischen Anfänge zurückblicken: War Nono ein wichtiger Impuls?

In den 1980er-Jahren wollte ich bei Nono studieren, es hat auch Begegnungen gegeben, aber die Umstände waren nicht sehr glücklich. Ich bin ihm in Köln begegnet, und er sagte, ich solle doch nach Venedig kommen. Das habe ich dann ein wenig zu spontan getan, denn er war in Paris bei der Aufführung seines „Prometeo“, und als er zurückkam, stand ich vor seiner Tür. Das war natürlich ziemlich unglücklich. Er sagte: „Komm Mittwoch wieder!“ Ich hatte aber nur Geld bis Dienstag. Und das war’s dann. Das nur am Rande. Was mich an Nono fasziniert hat, war die Begegnung mit der Alten Musik in der sogenannten Neuen Musik. Also diese italienische Tradition – Monteverdi, Gesualdo, Orlando di Lasso, Orazio Vecchi –, der ich mich auch sehr verbunden fühle. Die Luzidität der Intervalle, die Transparenz hat mich sehr angezogen. Und die Live-Elektronik natürlich. Das war ein ganz neuer Raum, der da geöffnet wurde. 

Nono hat es ja auf geradezu charismatische Weise verstanden, Klangräume existentiell aufzuladen. Wie kann man heute noch kompositorisch vom Menschen sprechen, ohne in programmatische Untiefen zu geraten?

Es ist eine permanente Gratwanderung, das ist klar. Da sind wir beim Thema des Gehaltes. Wie wird der transformiert? Wenn wir vom Gefangenenchor bei „Fidelio“ sprechen, ist das da ja schon angelegt. Oder nehmen Sie Schönbergs „Ein Überlebender aus Warschau“. Da äußert es sich ja ganz konkret, ist nicht nur eingebunden in die Musik. Dadurch, dass der Text und das Bild hinzukommen und ein Kollektiv das singt, gibt es natürlich eine ganz klare Aussage, wie es gemeint ist, da kann man nichts mehr missverstehen. Und dieses einzigartige Bild, dass die Gefangenen in einer Zeit auf die Bühne kommen, als die Aristokraten dort ihren Wein getrunken haben, das ist ja ein Affront sondergleichen. Oder so ein Pizarro. Die haben wir ja heute auch noch, die Pizarros, aber auch die Roccos dieser Welt. Insofern ist das brandaktuell. Ich denke schon, dass es da so eine Linie gibt, bis hingehend zu „Die Soldaten“ von Zimmermann, Bergs „Wozzeck“ noch dazwischen, wo es immer wieder Komponisten gegeben hat, die versucht haben, auf die Welt existentiell künstlerisch zu reagieren. Heutzutage wird es öfter Mal pathetisch und dann auch wieder unglaubwürdig.

Strategisch, Markt-strategisch.

Dann entsteht so ein Gesinnungstheater, als wären wir alle derselben Meinung. Das haben wir ja im Augenblick viel zu stark. Ein kritischer Diskurs ist ja momentan kaum möglich. Stattdessen Etikettierungen. Außermusikalisches künstlerisch befriedigend umzusetzen, bleibt immer schwierig. Ich hoffe, dass mir das einigermaßen glückt ..., aber es ist auch eine Gratwanderung. Das weiß ich wohl. 

Die Ebene der Vordergründigkeit ist ja in Ihren Stücken schon dadurch so gut wie ausgeschaltet, weil die Sprache, die im Hintergrund steht, gar nicht klingt. Welchen Ort, welche Funktion hat die Sprache in Ihrer Musik? Ich habe den Begriff „eingesunken“ gelesen. Wie setzt sich da die nicht selbst klingende Sprache am Ende ins Klingende? 

Nochmal zu dem sehr geglückten Begriff „eingesunken“ von Wolfgang Thein4 im Hinblick auf das Verhältnis der Worte zur Musik und darauf, wie ich in diesem Fall mit Sprache umgehe: Es ist im weitesten Sinne eine Verbindung, die ich mit Dichtern und Denkern vergangener Zeiten im Sinne einer Affinität im Denken eingehe, die mich sprachlich anspricht. Das führt dahin, dass ich mich in Tönen dazu stelle. 

Es entsteht eine mentale Verbindung, die Klang provoziert, ohne dass man einen Text kompositorisch nachverfolgen würde?

Es geht immer um eine Haltung und ganz grundsätzliche Wahrnehmungen, die Komponisten auch schon in früherer Zeit hatten. Insofern sind die grundsätzlichen Gegebenheiten immer präsent. Wie Lachenmann ja so schön gesagt hat: „Musik als existentielle Erfahrung“. Es dreht sich um genau diese Dinge. Aber wie der Einzelne in dem Fall damit umgeht, ist individuell vollkommen verschieden. Und da stehen wir vor der Frage: Warum berührt uns Mozart immer noch so, obwohl da nichts steht von Leid und Tod? Wie konkret diese sogenannte Welt überhaupt in das Kunstwerk hineingreifen darf, ist eine persönliche Entscheidung. Wenn sie an Mahler-Sinfonien denken: Da steht größtenteils auch kein Text, aber es ist alles gesagt, die ganze Welt ist irgendwie enthalten – klanglich. Die Verbindung zu derartigen Komponisten ist für mich lebendig, und ich versuche dann das Besondere für mich daraus abzuleiten. Was kann ich in meine eigene Gestaltung hineinnehmen und was schließt sich aus? 

Es klingt bei Ihnen aber nie eklektizistisch! Selbst wenn es expressiv oder gar emotional wird. Ich höre da eine Unmittelbarkeit der gestischen Rhetorik, die nie wie eine Allusion klingt, geschweige denn als Zitat. Kommen wir nochmal auf die Kontrabassstimme bei „Escribí“ zurück. Da ließe sich leicht sagen: Das ist der leidende Mensch im Kerker, der sich abmüht, um Weiterleben, um Hoffnung ringt oder auch total verzweifelt ist. So eindeutig ist das aber nicht ...

Das ist es mit Sicherheit nicht, denn wenn man in solchen Kerkern sitzt, in denen der Hernández saß und viele andere auch, kommt einem rein gar nichts mehr in den Sinn. Der Künstler wird ja entsorgt in diesen Kerkern. Dass er überhaupt diese Gedichte geschrieben hat. Das hat ihn auf jeden Fall gerettet. Er hat ja die späten Gedichte im Kerker geschrieben. Aber es ist der Kontrabass im Stück, nicht der leidende Mensch. So klingt der leidende Mensch auf gar keinen Fall.  

Der Kontrabass ist nicht das Individuum in Konfrontation mit dem Kollektiv, wie es ja häufig in der klassischen Konzertform angelegt ist oder auch in späterer Musik, die einen existentiell-biografischen Hintergrund hat, z.B. im Cellokonzert von Isang Yun. Das ohnmächtige Individuum im Kampf mit dem Schrecken der Unterdrückung. Aber um derartig plakative Dinge geht es in Ihrer Musik eben nicht. 

Wenn ich einen solchen Kampf komponieren würde, würde das anders klingen (lacht). Bei all dem darf man ja nicht vergessen, ich bin auch Bürger dieses Landes. Ich sitze nicht im Elfenbeinturm. Das Bild des Elfenbeinturmes, das stimmt meines Erachtens sowieso nicht. Es sind einfach die existentiellen Bedingungen, in denen der jeweilige Komponist sich bewegt. Diese Wahrnehmung ist einfach gegeben. Inwieweit ich diese jetzt vollständig in die Musik mit hineinnehme oder nicht – sie laufen einfach durch mein musikalisches Hirn, ich bin Komponist und ich denke in Tönen. Irgendwann kommt natürlich die äußere Welt, ich sehe sie, ich spüre sie, sie greift mich ja auch an im Guten wie im Schlechten. Aber am Ende kommt der Punkt, wo ich nur in Tönen denke, und dann gelten die Gesetzmäßigkeiten der Komposition, ganz klassisch, da hat sich für mich nicht viel verändert, außer dass ich eine ganz andere Art habe, mit Tönen umzugehen, als Mahler oder Schumann oder wer auch immer – aber der Kern des Komponierens ist geblieben. 

Wie beeinflusst der dichterische Hintergrund ganz konkret die musikalische Dramaturgie? Kann man das überhaupt beschreiben?

Das ist in der Tat schwer zu beantworten, weil die Gedichte selbst, die ich verwende, nie die Dramaturgie der Musik beeinflussen. Es läuft eher darauf hinaus, dass mich ganz bestimmte Formulierungen in Verbindung mit den Inhalten so ansprechen, dass sie mein musikalisches Zentrum zum Schwingen bringen (lacht). Jedes Stück bringt da seine eigenen Klänge mit sich. Es gibt in dem Kontrabassstück andere ausgehörte Klänge als in dem Klavierkonzert. Das bringt natürlich die Besetzung mit sich, da sind es Bläser, das triggert mich sowieso ganz anders, da sind es Streicher. Aber es gibt einen ganz bestimmten Tonfall, und dieser Tonfall bringt auch ganz bestimmte Akkorde mit sich, ganz bestimmte Harmonien, und die höre ich aus. Jedes Stück, das ich entwerfe, hat unendlich viele Harmonien, die ich daraufhin aushöre, welche sinnvoll sind oder nicht. So kommt es, dass jedes Stück seinen eigenen Klangraum einnimmt, und doch hängen sie miteinander zusammen.

Angeregt durch Bilder und Stimmungen der Wortsprache spricht Musik, aber weder bildet die Musik irgendetwas ab noch erzählt sie etwas nach.

Es ist am Ende ein sprachloser Raum. Und dieser sprachlose Raum eröffnet mir natürlich ganz andere Möglichkeiten. In dem Moment, wo ich etwas formuliere, enge ich es ja schon wieder ein. Es ist natürlich schön, dass wir die Sprache haben, und ich will die Sprachlosigkeit nicht mystifizieren. Wir reden ja jetzt auch über Musik, aber nie derart, dass wir sagen könnten: So, das ist es! Und so soll es sein. Meines Erachtens ist Hören – und auch Komponieren – ein synthetischer Akt. Das heißt, es ist eine der letzten Freiheiten, die wir haben. Wenn Sie jetzt ein Stück von mir hören oder von jemand anderem, dann sind Sie mit sich allein. Allein mit ihren Prägungen und ästhetischen Vorlieben und Bedürfnissen. Musik verbindet ja nicht nur, Musik trennt ja auch. Dieser Freiraum muss einfach gegeben sein. Das ist ja auch das Schöne daran, dieser Freiraum des Hörens und auch des Komponierens. 

Interessant finde ich, dass die „Guerra“-Stücke, obwohl sie den gleichen dichterischen Hintergrund haben, völlig unterschiedlich sind – in der Dramaturgie, der Harmonik, den Klangfarben. Natürlich gibt es auch Gemeinsamkeiten, aber wenn wir allein die beiden größeren Orchesterstücke nehmen, sind diese ja schon im formalen Aufbau völlig verschieden. Das Stück für Klavier und Orchester hat am Anfang einen ganz geschäftigen, klanglich massiven Teil. Und plötzlich kippt alles in die Stille und dann kommt ein Schlussabschnitt, der locker ein Drittel des Stückes ausmacht, wo alles Klingende immer weniger und leiser wird; es gibt nur noch versprengte Klavierklänge und alles geht in die totale Sprachlosigkeit hinein. Bei „Escribí“ ist es aber genau umgekehrt, am Anfang ist es sehr fragmentarisch und still, dann entwickelt sich eine immer größere Unruhe. Beim Stück für Klavier und Orchester hat man mehr einen Wechsel zwischen solistischen und kollektiven Partien, in „Escribí“ wird trotz der fünf klar umrissenen Teile eher ein kompakter Klangkörper geschaffen. 

Das hängt natürlich stark mit dem jeweiligen Instrument zusammen. Auf dem Klavier kann ich orchestrale Akkorde setzen. Das bringt schon einen ganz anderen Gedankengang mit sich, was das Ensemble angeht. Das kann der Kontrabass in „Escribí“ gar nicht leisten. Da gibt es natürlich rein kompositorische Überlegungen, dies zu machen. Dieser Pragmatismus ist da gegeben. Diesen schnellen Schlussteil habe ich mit einer gewissen Ironie überschrieben: „Logos scheitert“.

Da frage ich mich: Wo war der Logos eigentlich vorher?

Das kann man natürlich jetzt in alle Richtungen denken. Mir ging da durch den Kopf, dass der Kontrabass in dem Fall außer sich ist, aber er bleibt auf der Spur. Und bei diesem „Logos scheitert“ ist es so, dass ich oft erst im Nachhinein solche Texte oder Begriffe da reinschreibe, so nach drei- oder viermaligem Durchsehen. Das kam mir spontan in den Sinn, weil ich einen schönen Satz bei Hölderlin gelesen hatte: Durch rein Vernünftiges ist noch nie nur Vernünftiges entstanden, so ungefähr. Wenn wir das Weltgeschehen betrachten, wird immer davon gesprochen, dass man vernünftig reagieren muss. Dann sieht man die Reaktionen und stellt fest: Alles ist völlig aus dem Ruder gelaufen. Wenn das Vernunft ist, dann frage ich mich, was ist dann Unvernunft? 

Vor allem ist durch reine Vernunft noch nie interessante Kunst entstanden, würde ich mal behaupten. Schon allein deshalb, weil Kunst sich ja bekanntlich nicht durch Konsolidierung von Normen entwickelt. 

Ich selber weiß aber eigentlich gar nicht, ob ich nun vernünftig oder unvernünftig komponiere. Dazu bin ich zu nah dran.

Sie komponieren natürlich insofern sehr vernünftig, als Sie den Anspruch haben, die eigenen Klangvorstellungen möglichst präzise aufs Papier zu bringen. 

In der freitonalen Musik, wie ich sie schreibe, in der die Tonfolgen ja offen sind, also nicht mehr nur nach energetischen Prozessen ablaufen, wie in einer Dominant-Beziehung, in der man weiß, dass jetzt dieser oder jener Akkord kommen könnte, stellt sich eben auch die Frage: Wie führe ich das alles wieder zusammen?

Also am Ende das berüchtigte Schönberg’sche „Formgefühl“?

Ja, genau: Wie führe ich diese rein atomisierten Klänge so zusammen, dass doch wieder ein sinnvoller Ablauf entsteht? – wie sehr man den auch als sinnvoll nachweisen kann. Bei Webern oder Schönberg ist das definitiv der Fall. 

Bei Ihnen ändert sich der Sinn aber von Stück zu Stück. Bei Webern ist das relativ kohärent.

Er ist immer mehr zu einem gewissen Kern vorgedrungen. Ich bin zu unrein in der Hinsicht. Ich nehme auch Musik auf, die eine gewisse Unreinheit mit sich bringt. 

Kommen wir nochmal auf den Titel des Bläserstückes zurück: „Se da contra las piedras la libertad“. Da habe ich mich gefragt: Wie deute ich eigentlich „die Steine“ (las piedras)? Sind das die Gefängnismauern, gegen die die Freiheit stößt? 

Aufgrund dieser letzten Gedichte von Hernández ist das anzunehmen. Für mich persönlich war es ein Bild der Zeit, in der ich das komponiert habe ...

Die Corona-Zeit, der Höhepunkt der Pandemie ...

Ich war in einer Verfasstheit, über die ich jetzt nicht wirklich sprechen möchte. Da sind bestimmte Gedanken in mir gewesen, die in dieses Stück eingeflossen sind, auch wenn ich gar nicht genau weiß, wie. Und da ist der Titel natürlich eine Ansage gewesen und auch das Gedicht, das in der Legende abgebildet ist: „und dass die Leute, die von Freiheit sprechen, ihre Knechte sind“. Das sind so starke Bilder, bei denen ich dachte, da hat sich nichts verändert. Es ist in dieser Hinsicht ein sehr persönliches Stück. „Escribí“ ist ebenfalls ein sehr persönliches Stück, auch wenn der Hörer nicht wissen muss, was und wie persönlich es ist. 

Der Vers, der den Titel gestiftet hat, ist aber keiner aus dem Gedicht, das im Hintergrund steht? 

Nein, der ist aus einem anderen Hernández-Gedicht, den ich als eine Art Motto übernommen habe. Diese Zeile trifft es einfach sehr. So ist es mit „Escribí“ auch gewesen, da gibt es noch einen anderen Gedanken, der mich auch sehr trifft und betrifft und mich zu eben dieser Musik geführt hat. 

„Escribí“ ließe sich ungefähr mit „Eingeschrieben“ übersetzen?

Oder auch als „Eingebrannt“ oder Ähnliches, und das passt sehr gut zu dem Begriff „eingesunken“. Ich bin Wolfgang Thein sehr dankbar für dieses Wort. 

Im Klavierstück gibt es keine Textzeilen in der Partitur, die sozusagen mottoartig das Geschehen kontextualisieren. In „Escribí“ aber sehr wohl. Und ich frage mich: Was zeigt sich eigentlich an diesen Stellen? Im Sinne der klanglichen Bezugnahme. Es ist ja kein Zufall, dass derartige Anmerkungen an ganz spezifischen Stellen des musikalischen Ablaufs in die Partitur hineingeschrieben wurden. 

Was passiert da? Ich würde mal behaupten, wenn Sie es nicht wüssten, würden Sie diese Stellen genauso hören. Und ich würde fast sagen, es ist von meiner Seite eine eher private Reaktion auf das, was ich da komponiert habe: „Die Blumen verschwinden.“ Das ist aus einem früheren Gedicht von Hernández, das ich im ersten Stück des „Guerra“-Zyklus vertont habe. Und da ist es so, dass sich die Blumen mit Metall – und damit sind natürlich Kriegsmetallgegenstände gemeint – verbinden. Das war so eine der Situationen, wo mich diese Zeile beim Komponieren erwischt hat. Und ich bin dem nachgegangen. Ich hatte es drinstehen, dann habe ich es weggenommen, dann wieder reingeschrieben. Solche Zeilen erwischen einen häufig. Ich befinde mich in einer fragilen, sensiblen Situation beim Komponieren, die Zustände werden sehr labil und durchlässig. Das ist etwas sehr Privates, was ich da mache. Das müssen Sie gar nicht wissen. 

Ich brauche nur die Musik zu hören. Und die ist an der Blumen-Stelle ja ganz entstofflicht, nur diese perkussiven Gettato-Gesten, ganz fragil, skeletthaft. Dann gibt es noch eine andere Stelle, die mich noch mehr beschäftigt hat, nämlich die Stelle mit dem Rufen, später im motorisch bewegten Teil: „Das Rufen hört nicht auf“ haben Sie hineingeschrieben. Wer ruft da jetzt?

Das ist natürlich auch wieder ein Verweis auf dieses Gedicht von Hernández.

Wobei ich noch erwähnen muss, dass Hernández ein im Grunde doch sehr pathetischer Dichter war. Der Schmerz überwiegt bei ihm. Und bei mir ist es eigentlich eher umgekehrt. Ich bin viel mehr mit einem Tragödienbegriff der Antike verbunden. Bei mir überwiegt die Trauer. Das ist jetzt ein bisschen frei übernommen von Kierkegaard. Er schreibt in etwa: Im modernen Theater überwiegt der Schmerz und nicht die Trauer, im antiken Theater überwiegt die Trauer, nicht der Schmerz. Das finde ich ein gutes Bild, um deutlich zu machen, dass der antike Tragödienbegriff jenseits ist von einem Pathos, das den Schmerz des Subjekts in den Mittelpunkt stellt. Der antike Tragödienbegriff geht viel mehr in die objektive Trauer, in den Klagegesang. 

Es ist stilisiert, nicht seismografisch emotional.

Genau. Ich würde sagen, dass meine Musik schon sehr intensiv ist und diese Bereiche auch kennt, aber nicht, wenn es um pathetische Äußerungen geht. Das ist mir fremd. Vor dieser Frage stehe ich beim Komponieren immer wieder neu. 

Also noch eine Gratwanderung. Die erste zwischen außermusikalischer Inspiration und klanglicher Autonomie, und hier zwischen Expressivität und der Vermeidung von Pathos. Gerade darin scheint mir aber die besondere Intensität Ihrer Musik begründet. 

Vor dieser Frage steht man als Komponist natürlich immer wieder neu. Man wird älter und erfahrener, und man denkt, dass es doch immer leichter gehen müsste, aber das ist nicht der Fall. Das hat etwas mit dem eigenen Anspruch zu tun. Natürlich mit dem Anspruch einer Tradition gegenüber, der ich mich stelle. Was man immer noch lernen kann, ist die ungeheure Dichte und Konzentration des kompositorischen Denkens dieser Komponisten, ob Sie nun Beethovens Streichquartette nehmen oder Mahlers Sinfonien. Natürlich ist es so, dass für mich das Gefüge Dur/Moll nicht mehr wirklich infrage kommt, auch wenn ich diese Musik liebe, so wie sie dort ist. Aber es ist eine andere Ausrichtung der Töne, in der ich versuche, mein künstlerisches Leben zu leben. Es ist, wie es im „Wozzeck“ heißt: „Wenn man so ‘ne Struktur hat ...“ Ich denke, jeder hat so seine persönliche Struktur. Bei mir ist es eine permanente Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die ist so gegeben und die ist für mich lebendig. 

Der geistige Nährboden, aus dem das Eigene erwächst. 

Ich denke, wir stehen immer noch in diesem Fluss der Vergangenheit, aber das so restaurativ abzurufen, würde mir künstlerisch vollkommen widersprechen.

Ich bin gelegentlich erstaunt, dass viele der jüngeren Komponist:innen nicht mehr unbedingt einen Überblick darüber haben, was in den Jahrzehnten vor ihnen so alles gemacht wurde. Die nicht seltene Folge davon ist, dass zum x-ten Mal das Rad neu erfunden wird.

Obwohl es ja widersprüchlich ist, weil wir gerade heute einen problemlosen Zugang zu 400 Jahren Musikgeschichte haben. Aber ich kann nachvollziehen, dass man als junger Komponist sich nicht ununterbrochen daran abarbeiten kann, was andere bereits gemacht haben. Es gibt so viele außergewöhnliche kompositorische Lösungen in der Vergangenheit, so viele herausragende Werke, aber es hilft alles nichts – irgendwann kommt die kompositorische Begegnung mit sich selbst.

1 Klaus Ospalds 2019 begonnener „Guerra“-Zyklus ist inzwischen auf sechs Stücke angewachsen: „Entlegene Felder“ für Ensemble und Kammerchor (2019); „Trio“ für Violine, Violoncello und Klavier (2020); „Se da contra las piedras la libertad ...“ für Klavier und 20 Bläser (2021); „Canto“ für Akkordeon solo (2021); „Escribí ...“ für Kontrabass, Akkordeon und Orchester (2022) und „Epilog“ für Orchester (2023).
2 Ausgewählte O-Töne des Interviews finden sich auch im Booklet-Text des Autors zur CD-Produktion „Escribí“, bastille musique 33, 2024.
3 Der spanische Dichter Miguel Hernández (1910-1942) fand im Spanischen Bürgerkrieg in den Kerkern des Franco-Regimes den Tod.
4 Siehe Wolfgang Thein: „Der eingesunkene Text. Klaus Ospalds ‚Más raiz, menos criatura‘“, in: „Klaus Ospald“, hrsg. von Ulrich Tadday, München 2019 (= Musik-Konzepte 183), S. 11–24.

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