Fels in der Brandung
BerichtDas NOW!-Festival 2025 in Essen
Während das Kölner Festival Acht Brücken in diesem Jahr sein Aus verkündete und andere Konzerthäuser der Region ihre Festivals mit zeitgenössischer Musik sang- und klanglos beerdigt haben (z.B. die „Zeitinsel“ im Konzerthaus Dortmund oder das „Schöne Wochenende“ der Düsseldorfer Tonhalle), hält sich das Essener NOW!-Festival wie ein Fels in der Brandung. An zwei Wochenenden gab es neue Musik mit hochkarätigen Ensembles, und das soll auch im nächsten Jahr so bleiben.
Der diesjährige Auftakt war allerdings überschattet durch eine Absage, die einigen Wirbel auslöste. Die Uraufführung eines bei Clara Iannotta in Auftrag gegebenen Violinkonzerts, bei dem Carolin Widmann als Solistin glänzen sollte, wurde kurzfristig zurückgezogen, gegenseitige Schuldzuweisungen machten die Runde. Stein des Anstoßes waren die von Iannotta vorgesehenen unkonventionellen Klangerzeuger, weshalb ein Teil der Essener Philharmoniker nur unter Zahlung einer tarifrechtlich vorgesehenen Zulage zur Mitwirkung bereit war – Mittel, die offenbar nicht zur Verfügung standen. Letztlich führte wohl eine unglückliche Kommunikation zu dem Dilemma, wofür sich das NOW!-Festival inzwischen bei der Komponistin entschuldigte.
Anstelle der geplanten Uraufführung erklang „Night in Appen“vonElena Firsova, in dem diese eine sehr reale Situation (eine Nacht im Haus von Sofia Gubaidulina mit aufs Dach prasselnden Eicheln, morgendlichem Vogelgesang und Kirchenglocken) in eine von Dramatik und Heiterkeit gleichermaßen geprägte Musik übersetzt. Ihr besonderes Engagement für die Neue Musik konnten die Essener Philharmoniker mit „Segel“ von Lisa Streich unter Beweis stellen, ein Werk, in dem die Komponistin kontrastreich mit dem zeitgenössischen Vokabular spielt und hingehauchte Streicherklänge auf aggressive Rhythmen treffen lässt. Carolin Widmann durfte sich derweil ganz auf Alban Bergs „Violinkonzert“ konzentrieren.

Aber Clara Iannottas Klangwelt kam nicht zu kurz, da sie als Porträtkomponistin im Programm vielfach vertreten war. Ein absolutes Highlight stellte das Konzert mit dem Jack Quartet dar, das Helmut Lachenmanns „Reigen seliger Geister“ mit Iannottas vier Streichquartetten verknüpfte. Lachenmanns filigrane Klangforschung unter Einsatz erweiterter Spieltechniken ist akribisch ausgearbeitet und wurde vielfach analysiert, vor allem ist dieses Stück aber ein sinnliches Ereignis, das auch 35 Jahre nach seiner Uraufführung noch unter die Haut geht. Das Jack Quartet tastete sich auf so konzentrierte und feinnervige Weise an der Hörschwelle entlang, dass jede noch so kleine Nuance spürbar war. Iannotta geht diesen Weg weiter, indem sie Zuspielungen und Präparationen verwendet. In „dead wasps in the jam-jar (iii)“ bettet sie hohe, sirrende Geräuschschlieren in eine Aura aus wogenden Sinuswellen. In „Earthing – dead wasps (obituary)“ verschmelzen die wispernden, säuselnden, knisternden Töne mit zugespielten Klängen, verdichten sich zu einer dunklen Färbung oder versteigen sich in gläsern-flirrende Höhen. Auch in einem Konzert mit dem Ensemble Recherche war Iannotta mit zwei Werken vertreten. In „D’après“ ließ sie sich vom Geläut des Freiburger Münsters inspirieren, in „Limun“ kamen neben Violine und Viola zwei Umblätterer zum Einsatz, die im weiteren Verlauf durch mit Stoff umwickelte Mundharmonikas zu einem besonders obertonreichen Gesamtklang beitrugen. Iannotta verwendet oft schlichte Mittel (Büroklammern, Knete), doch die damit erzeugten Effekte wirken nie als Selbstzweck oder originelle Zugabe, sondern verbinden sich zu einem subtilen Klangkosmos, der einfach Freude macht.
Auch Günter Steinke, dessen neues Werk „You never know“ vom Ensemble Recherche als deutsche Erstaufführung gespielt wurde, lässt live erzeugte Musik mit auf Instrumentalklängen basierenden Zuspielungen interagieren und verschmelzen. Aus einem behutsamen, geräuschhaften Auftakt entwickelt sich ein komplexes Gewebe, das phasenweise anschwillt, sich zunehmend verdichtet und bei dem man nie genau weiß („You never know“), was aus dem Instrument und was aus dem Lautsprecher kommt.
Das Essener NOW!-Festival, hervorgegangen aus dem Projekt "Netzwerk Neue Musik" der Kulturstiftung des Bundes und gegründet 2011, versteht sich nicht als Uraufführungsfestival wie die Tage für neue Kammermusik im benachbarten Witten. Stattdessen verbindet es die Einbeziehung heimischer Kräfte (Folkwang Universität der Künste, Gesellschaft für Neue Musik Ruhr, Splash – Perkussion NRW) mit der Präsentation internationaler Ensembles (neben den genannten waren 2025 Ensemble Resonanz, Ensemble Consord, Ensemble S, Basel Sinfonietta sowie das Synthesizer-Trio Lange//Berweck//Lorenz zu Gast), um ein breites Spektrum zeitgenössischen Musikschaffens abzubilden.
NOW! firmiert als Festival der Essener Philharmonie, lebt aber vom kreativen Input der Folkwang Universität der Künste – vor allem dem Engagement von Günter Steinke. Er ist seit 2004 Folkwang-Professor für Instrumentalkomposition, seit Gründung des Festivals dabei, maßgeblich für dessen inhaltliche Planung verantwortlich und durch Konzerteinführungen omnipräsent, und zwar auf eine sehr nahbare und sympathische Weise. Diese engagierte, unprätentiöse Art zeichnet auch Barbara Maurer aus, ehemaliges Mitglied des Ensemble Recherche und seit 2017 Professorin für zeitgenössische Musik an Folkwang. Traditionellerweise präsentieren sich ihre Studierenden, fürsorglich von ihr umhegt, in einem Konzert im Museum Folkwang. Diesmal stellte sich mit dem Trio Signale (Sophie Kockler, Klarinetten; Jungin Kim, Violoncello; Emi See, Klavier) eine neue Formation vor, die mit einem Programm rund um Lachenmanns „Allegro sostenuto“ dem 90-Jährigen ein Geburtstagsständchen brachte. Bei einer Auftaktveranstaltung in der Neue Musik Zentrale präsentierte sich bereits das Trio Sillage (Margot Le Moine, Bratsche; Aaron Wolharn, Flöte; Fanny Herbst, Harfe) erstmals der Öffentlichkeit – an Nachwuchstalenten besteht also kein Mangel. Aus dem Vollen schöpfen konnten die Studierenden bei dem Projekt „Folkwang Elemente“, bei dem sich unter der Leitung von Roman Pfeifer die verschiedenen künstlerischen Sparten (Musik, Tanz, Video, Performance, Theater) gemeinsam dem Thema „Chaos“ widmeten. Herausgekommen ist eine stimmige Gesamtschau, bei der Videos von wuchernden Schwarmwolken, tanzende Schatten, selbstgebaute Instrumente, zarte nervöse Ensembleklänge und ein geschredderter Popsong sich organisch verbinden. Zum Sinnbild einer bunten Identität – die nicht immer aufgehen muss – wurden Zauberwürfel, die mit ihrem Klacken wiederholt dazwischenfunkten.

Während am ersten Festivalwochenende vor allem Liebhaber:innen der Neuen Musik mit großem N auf ihre Kosten kamen, war das zweite Wochenende weiter gefasst. Das Ensemble Modern ist bekannt dafür, dass es gerne über den Tellerrand der Neuen Musik hinausschaut. Allerdings ist das Narrativ von der Überwindung der Grenzen zwischen E- und U-Musik selbst alles andere als neu, auch wenn Alex Paxton es im Gespräch mit Steinke als taufrische persönliche Heldentat verkauft. Früher hieß es beschwichtigend, dass zumindest die Unterscheidung zwischen guter und schlechter Musik bestehen bleibe, doch haben wir dafür heute noch funktionierende Kriterien? Für sein neues Stück „Don’t Leave Me Behind“ plündert Paxton die Geräuschkulissen, die an Alltagsorten wie Shoppingmalls auf uns einprasseln, und verknüpft sie zu einem effektvollen Potpourri, das seinen Witz allerdings schnell ausgereizt hat. Enno Poppe, der gleichzeitig am Dirigierpult stand, arbeitet sich in seinem Werk „Körper“ am Sound der Bigband ab. Zum Auftakt entfacht er ein großartiges, lustvoll überschäumendes Tohuwabohu, doch im weiteren Verlauf verliert er zwischen Hammondorgel und mäandernden jazzigen Passagen den roten Faden und findet den Ausstieg nicht, so dass das Stück überlang um sich selbst kreist. Zumindest begegnet uns U-Musik bei ihm nicht nur als verquirlte Zitate, sondern als zersplitterte Partikel, die neu zusammengesetzt ein Eigenleben entfalten. Für „Fleisch“, interpretiert vom Ensemble Nikel, ließ er sich von Blues- und Rockmusik inspirieren – wovon man sich mehr draufgängerischen Drive hätte erhoffen können. Der vom Nikel-Gitarristen Yaron Deutsch bemühte Vergleich mit Jimi Hendrix schien jedenfalls überzogen. Mehr überzeugt hat Rebecca Saunders‘ „Us Dead Talk Love“, bei dem das Ensemble Nikel von der Altistin Noa Frenkel unterstützt wurde. Dem Stück ist, wie auch Saunders‘ Oper „Lash“, eine Zusammenarbeit mit dem Videokünstler und Autor Ed Atkins. Im Gegensatz zur Oper kann man sich hier ganz auf die akustische Ebene konzentrieren. Ein fragil-wogender Klangraum wird von harten Attacken und scharfen Spitzen zerpflügt. In diesem unsicheren Terrain nimmt uns Frenkel mit auf eine rasante Achterbahnfahrt, johlt, bäumt sich auf, versinkt in dunklem Raunen, nimmt Fahrt auf, bremst ab, stürzt sich in den Abgrund und schießt im nächsten Moment hoch hinaus. Am Ende fühlte man sich wohlig durchgerüttelt.
NOW!-Tradition hat die Übernahme eines „Musik der Zeit“-Konzerts mit dem WDR-Sinfonieorchester. Unter der Leitung von Patrick Hahn (wohlgemerkt der Dirigent, nicht der kurzzeitige Redakteur für Neue Musik) erklingen neben Berios „Bewegung“ aus den 70er-Jahren drei neuere Werke. Doch was Stefano Gervasoni, Mirela Ivičevićs und Mikel Urquiza auf die Bühne zaubern, verliert sich – jedes auf seine Weise – in bombastischen Gesten und Theaterdonner. Besonders irritiert Gervasonis neues Werk „Tacet“, das im Titel Schweigen verheißt, aber stattdessen im Horror vacui versinkt und jeden Moment des Innehaltens mit Pauken und Tirilieren an die Wand spielt. Als neuer WDR-Redakteur für zeitgenössische Musik wurde inzwischen übrigens Anselm Cybinski benannt, der in diesem Ressort bislang noch nicht nennenswert in Erscheinung getreten ist. Man darf gespannt sein und hoffen, dass, davon unberührt, NOW! in diesen widrigen Zeiten noch lange die Stellung hält!
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