hören, lauschen, horchen – auf, ab, zu und hin, mit, weg…

Essay

Hören – das ist Lust und Last. Zuhören nicht minder und manchmal gar List. Lässt Sie das aufhorchen? Gehört Ihr inneres Ohr nun ganz den Lauten, die sie gehorsam aus den Buchstaben folgern? Und was hören Sie gerade, während Sie diesen Text lesen? Irgendetwas tönt schließlich immer. Stille gibt es in Wirklichkeit nirgends. Sie lauschen gerade mir, tun, was ich mir wünsche, nämlich weiterlesen, oder Sie werden womöglich gleich das tun, was ich mir nicht wünsche: damit aufhören. 

Das schon im 8. Jahrhundert belegte Verb „hören“ mit all den möglichen Präfixen und Wortstammeinbindungen in andere Buchstabenkonstellationen erlaubt viele Aussagen, auch einander widersprechende. Höre ich auf …, dann bin ich a) aufmerksam oder b) dabei, etwas zu beenden. Lausche ich dem raschelnden Laub im Wald oder neugierig dem Streit der einen, dann der Liebe der anderen Nachbarn? Kultiviere ich gar meine privaten Lauschangriffe, höre ich gerne mit wie Geheimdienste ab? Das wäre aber ganz schön ungehörig. Aber manchmal ist es, selbst wenn man es will, schwierig wegzuhören, wenn zwei oder drei sich unaufhörlich im Nebenraum energisch unterhalten, dabei schreien sie nicht einmal. 

Der im thüringischen Geisa geborene Jesuitenpater, in Heiligenstadt, Würzburg, Wien und Rom lehrende Naturwissenschaftler Athanasius Kircher (1602–1680), dessen Vater aus Mainz stammte, entwickelte bereits in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts spezielle innenarchitektonische Konzepte „Von Zimmer und Gemächern zum Gebrauch und Lust hoher Personen durch deren Mittel und Hülfe sie auch heimlich ihre Consilia, und geheime Anschläge offenbahren können“. Er unterbreitet in seiner 1673 veröffentlichten „Phonurgia nova“, der posthum durch A. Gatho-Carione ins Deutsche übersetzten und 1684 erschienenen „Neuen Hall- und Thonkunst“, indes nicht nur den informationssichernden Schallschutz, sondern auch Möglichkeiten der akustischen Überwachung: die Abhöranlage mittels fürs Auge verborgener Röhren, die von einem Raum in einen anderen, auch einen fern entlegenen reichen. Wer genau zuhört, das Vernommene sich merken oder entsprechend deuten kann, weiß einfach mehr als andere, weiß womöglich Dinge, die er nicht wissen soll und von denen die Redner:innen nicht wissen, dass er sie weiß.

Zuhören schafft Macht

Wissen aber ist bekanntlich Macht. Und geheimes Wissen noch viel mächtiger. Der Spion ist zwar eigentlich ein Späher, ein Beobachter, ein Augenarbeiter, doch gerade auch mit aufgesperrten Ohren lassen sich bestens Geheimnisse in Erfahrung bringen: eben durch heimliches Lauschen an der Wand, durch elektronische Wanzen und Richtmikrofone; der Belauschte bemerkt die Hör-Attacke meist nicht. Subtiler, mithin effizienter, gleichwohl schwieriger ist das akustische Auskundschaften durch den direkten Kontakt mit der Zielperson, die von Berufswegen Stillschweigen zu bewahren hat, Geheimnisträger ist. Um an solch verborgene Kenntnisse heranzukommen, sie fortan zu besitzen – und nur darum geht es –, erschleicht sich der Audio-Spion das Vertrauen des Opfers, das gar nicht ahnt, dass es schon bei der ersten Begegnung ein Opfer ist. Hat er es gewonnen – ganz behutsam geht er dabei vor, der Wissbegierige, er hört ganz genau zu und merkt sich jedes Detail, der Profi-Neugierige, er widmet dem Gegenüber größte Aufmerksamkeit und zeigt Verständnis, der Seelenräuber, er nimmt sich selbst zurück, erzählt wenig und viel Falsches, der Berufslügner, er schmeichelt in den passenden Momenten mit weich-warmen Timbre in der Stimme, der Sprechgaukler, stellt anfangs nur wenige Fragen, weit weg vom eigentlichen Interesse, der Sprachbetrüger –, öffnet sich der Wissende, gibt das preis, was er nicht darf, ohne das er es selber weiß. Jede:r macht das im ganz eigenen Zeitmaß und manche:r auch nie; der instinktive oder geschulte Störsender funktioniert ausgezeichnet. Aber viele lassen den zuhörenden Spion, der mit List und Tücke aushorcht, in ihren Nahbereich. Intimes und Geheimnisse werden mitgeteilt, aber nicht beiderseits geteilt. Und endlich gibt es auch die längst ersehnten Auskünfte: Zahlen, Namen, Sachverhalte aus eigener Kenntnis oder durch Hörensagen erlangte Fakten und Daten. Die böswillig erschlichenen Informationen werden interpretiert und mit anderen Daten womöglich zu einem Stück hörbarer Maßnahmen komponiert. Die Ausführung derselben kann dann sogar sehr leise sein, an der Hörschwelle geschehen, mit Schalldämpfer. Und der, der den Abzug betätigt, ist vielleicht nichts anderes als bloß gehorsam, hat dem Vorgesetzten nur gehorcht, aus Pflicht oder Angst oder beidem. Denn wer nicht hören kann, muss fühlen. 

Zuhören da, horchen hier

Wer aber zuhört, ohne auszuhorchen, wer wirklich hinhört, hineinzuhören versteht, der kann mitfühlen. Und wer im Konflikt-Dialog mit anderen „Aktives Zuhören“ praktiziert, wenn der eine Gesprächspartner das soeben Gehörte des anderen nun in eigenen Worten wiedergibt, um dem, der gesprochen hat, zu zeigen, ob er das im Gesagten Gemeinte als solches verstanden, es wirklich herausgehört hat, und dabei seine Interessen hier bewusst außen vorlässt – gleich erzählt er von sich und der andere hört –, der wird vollends fasziniert und beruhigt sein von dem erreichten Einklang trotz aller weiter existierenden und existent bleiben dürfenden Mehrklänge. „Hören“, notiert der französische Philosoph Roland Barthes in den 1960er Jahren in seinem Essay „Zuhören als Haltung“, „ist ein physiologisches Phänomen, zuhören ein psychologischer Akt.“ „Aktives Zuhören“ ist natürlich auch ein psychologischer Akt, eine Begegnung von Personen, bei der alle nicht-sprachlichen (Re-)Aktionen, alle Emotionen genauso wichtig sind, wie das mit Wörtern Gesagte, das aus den Wörtern Gehörte. Der amerikanische Psychologe und Psychotherapeut Carl Rogers hat die ersten Ideen zu diesem offenen und grundsätzlich einander wohlwollenden Dialog schon Anfang der 1940er-Jahre formuliert. Zu einer Zeit, als man dem Hören in Deutschland andere Aufgaben zuschrieb. 1940 erscheint in zweiter Auflage – der Verfasser Erich Waetzmann, Physikprofessor in Breslau, ist zwei Jahre zuvor in Berlin gestorben – die „Schule des Horchens“. Im erneut abgedruckten Vorwort aus der ersten Auflage von 1934 schreibt Waetzmann: „Möchte das Büchlein weiten Kreisen ein wenig Freude, Belehrung und Anregung bringen, und möchte es seinen bescheidenen Teil dazu beitragen, dass der Mensch der Natur wieder näherkommt und wieder lernt, seine Sinnesorgane richtig zu gebrauchen.“ Und dann erklärt der Herr Professor allerlei akustische Phänomene: Er spricht von Schallwolken und Lärmbekämpfung, vom Einfluss des Wetters auf das Hören, von beweglichen Schallzielen; er skizziert Übungen zum Richtungshören und beschließt seine Ausführungen mit dem Satz: „Vor allem soll man die Leistungsfähigkeit des gut geschulten, unbewaffneten Ohres auch im Luftabwehrdienst nicht unterschätzen.“ 

Lauter Krieg, jetzt leise, bald stumm

Dem verständnisbereiten Dialog dient bei Waetzmann das Hören nicht, auch wenn die Rede vom „unbewaffneten Ohr“ fast pazifistisch anmuten mag. Gemeint ist damit nur der Verzicht auf die riesengroßen Schalltrichter und skurrilen Rohrgestänge, mit denen die einander bekämpfenden Nationen im Ersten Weltkrieg noch das Nahen des Feindes in der Luft, zu Wasser, zu Land und unter Wasser, auch unter Land zu sondieren suchten. Der auf bestimmte Schalle trainierte Hörsinn aber genügt, resümiert Waetzmann, um baldige Gefahren frühzeitig erkennen zu können. Heute aber langt das ganz und gar nicht mehr. Die Kriegstechnologie hat massenhaft Leute um- und Laute zum Schweigen gebracht, und die Großmächte schicken immer stillere Täter und Töter in die Welt. „Hören ist wehrlos – ohne Hören“ heißt ein Essay des Komponisten Helmut Lachenmann von 1985, in dem er schreibt: „Hören ist schließlich etwas anderes als verständnissinniges Zuhören, es meint: anders hören, in sich neue Antennen, neue Sensorien, neue Sensibilitäten entdecken, heißt also auch, seine eigene Veränderlichkeit entdecken und sie der so erst bewusst gemachten Unfreiheit als Widerstand entgegensetzen: Hören heißt: sich selbst neu entdecken, heißt: sich verändern.“ Das lohnt sich bekanntlich immer. Selbst oder gerade dann, wenn das „Organ der Furcht“ – so charakterisiert Friedrich Nietzsche das Ohr in seiner 1881 erschienenen „Morgenröte“ – vor bewaffneten Drohnen in höchsten Höhen nicht warnen kann. Jedoch das Hören allein, wie befreit auch immer, hilft nicht mehr. Das Hören ist wehrlos gegen diesen Status quo, wie der Mensch, ob ihm das Hören nun Last, Lust oder List ist. Die Organe versagen.

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