Nah und fern
BerichtManos Tsangaris´ Stationentheater „close Up – lontano 3“ im Kunstmuseum Kolumba Köln
Bevor es losgeht, eilt der Besucher noch schnell auf die Toilette und findet sich unversehens in der Akustik einer halligen Grotte wieder, in der es von der Decke tropft und eine zarte Kinderstimme irgendetwas von „Toilette“ wispert. Die von einem an der Decke hängenden Lautsprecher stammenden Klänge machen von vornherein klar, dass dieses Gebäude anders tickt als üblich, weil sich die Räume über ihre vertraute Funktion selbst verständigen und mit anderen Bezugnahmen neu kontextualisieren.
Im Mai 2024 erhielt Manos Tsangaris den Mauricio Kagel Musikpreis der Kunststiftung NRW. Die vorherigen Preisträger:innen waren Georges Aperghis, Michel van der Aa, Rebecca Saunders und zuletzt 2017 Simon Steen-Andersen. Während diese weder etwas mit NRW noch viel mit Kagel zu tun hatten, traf der Preis nach sieben Jahren Pause nun vollumfänglich den Richtigen: Tsangaris wurde 1956 in Düsseldorf geboren, studierte bei Kagel an der Musikhochschule Köln und arbeitet seitdem als Komponist, Kompositionslehrer, Theatermacher, Installations- und Lichtkünstler, Trommler, Performer, Dichter und Zeichner. Seit Mai 2024 ist er zudem Präsident der Akademie der Künste Berlin. Das Preisgeld in Gesamthöhe von 80.000 Euro schließt den Kompositionsauftrag und die Finanzierung eines neuen Musiktheaterwerks für ein Ensemble aus Nordrhein-Westfalen in Höhe von 50.000 Euro ein. Mit diesem Etat realisierte Manos Tsangaris nun das Stationentheater „close Up – lontano 3“ mit dem sechsköpfigen Kölner Kammerensemble hand werk samt vier zusätzlicher Musiker:innen und zehn weiterer Performer:innen. Er entwickelte die Folge von fünf je zehn Minuten dauernden Musiktheaterminiaturen speziell für das Kölner Kunstmuseum Kolumba, dem er seit vielen Jahren als musikalischer Berater verbunden ist. An sechs Nachmittagen wurden alle fünf Stationen jeweils drei Stunden lang für jeweils nacheinander eingelassene Publikumsgruppen aufgeführt.
Kommen und Gehen
In einer kleinen Gruppe von sieben Besucher:innen geht es zuerst mit dem Fahrstuhl ganz hinauf ins oberste Geschoss des von Peter Zumthor entworfenen Museums. Dort darf man zunächst auf einer Lederbank Platz nehmen, ankommen, sich orientieren, umsehen und die Ohren spitzen. Von allen Seiten klingt und tönt es, denn die Vorstellung hat längst begonnen. Man wähnt sich mittendrin und wartet dennoch wie im Theaterfoyer auf den Einlass für Zuspätkommende. Vor allem links sind mehrere Instrumente und Singstimmen zu vernehmen. Da das Gebäude jedoch verwinkelt ist, sieht man nicht, wer dort was macht. Umso überraschender schraubt sich plötzlich aus der entgegengesetzten Richtung eine Klarinettistin (Heni Hyunjung Kim) ins Sicht- und Hörfeld. Sie dreht sich um die eigene Achse und lässt dadurch den Klang ihres Instruments immer anders abstrahlen. Zudem führt sie wie der Rattenfänger von Hameln eine kleine Besuchsgruppe hinter sich her. Schließlich wird man selbst mit der eigenen Gruppe eben dorthin geleitet, woher die vorherige Gruppe kam.

Als Kleinstpublikum sitzt man nun in einem verwinkelten Gang zwischen Konzertflügel, Fahrstuhltüre und einem lautlos kreisenden Schallplattenteller, während man Klänge „lontano“ aus der Ferne hört. Umso überraschender ist dann das „close up“, mit dem hinter dem Klavier plötzlich ein Pianist (Thibaut Surugue) erscheint, die Saiten im Innenklavier mit Chipkarten reibt und damit unmissverständlich klarstellt: Hier wird die Musik nicht von Tonträgern technisch reproduziert, sondern handgemacht. Mit wassergetränktem Pinsel schreibt der Pianist auf die nackte Betonwand hinter sich die Buchstaben „METAXY“. Für die zehn Minuten später nachfolgende Besuchsgruppe wird der Schriftzug dann schon wieder verdunstet und verschwunden sein. Das griechische Wort – das man später googelt – bedeutet „zwischen“ und versinnbildlicht, was sich mit seinen Lettern im Kleinen sowie im großen Ganzen des „Stationentheaters in verbundenen Räumen“ ereignet. Denn philosophisch gemeint ist ein Zustand von Dazwischensein, Vermittlung, Transformation und Übergang, wie zwischen Sein und Nicht-Sein, Leben und Tod, Vergangenheit und Zukunft, Materiellem und Transzendentem.
Während man noch über „METAXY“ nachdenkt, produziert die Klarinettistin dicht hinter einem kleine Schmatzlaute, als handele es sich um den griechischen Weinbrand Metaxa. Zudem treten vorne eine Frau mit fortwährend gesprochenem „ja, ja, jaa…“ und ein Mann mit „ne, ne, nee…“ hervor. Die Paarsituation „LAUSCH! (Durchgangszimmer)“ scheint kompromisslos zwischen Hü und Hott festgefahren. Als Ausweg öffnet sich plötzlich die Fahrstuhltüre. Darin sitzt eine Gestalt, die indes keine Lösung aufzeigt, sondern nichts anderes beisteuert, als ein Bambusstückchen hin und her rotieren zu lassen wie ein Sinnbild des ewigen Hin und Her. Da schließt sich der Lift auch schon wieder und man selbst wird aufgefordert, der Klarinettistin zu folgen, vorbei an der auf der Lederbank wartenden nächsten Besuchsgruppe zur zweiten Station „LIES! (Dialogos)“.
Trennen und Verbinden
Im Bibliotheksraum spielen im Nacken des Publikums ein Flötist (Daniel Agi) und eine Bratschistin (Corina Golomoz). Vorne dagegen sitzen zwei Menschen wie beliebige Museumsbesucher:innen nur untätig da und schauen ins Kleinstpublikum. Die Situation ergibt einen Dialog der Gesichter und Blicke ohne Worte, bei dem die Beobachtenden zugleich Beobachtete sind. Es geht um sehen und gesehen werden. Während man die im Nachmittagssonnenschein warm leuchtende Holzvertäfelung bewundert, erscheinen darauf unversehens per Dia projizierte Worte und Sätze: „gott ist nicht in der zeit“, „gott ist wunde“, „ist eine bibliothek geworden“, „den gott essen“, „das ist mein leib, tut dies zu meinem gedächtnis“, „es wollen immer mehr leute buch werden“, „lesarten“ … Es sind Jesusworte oder selbstreferentielle Bezüge zum Bibliotheksraum und den sakralen Kunstwerken des Museums der Erzdiözese Köln. Dazwischen liest man aber auch das zuvor gesprochene „ne, ne, nee“. Das Hör-, Sicht- und Lesbare der Stationen beginnt sich zu verschalten. Und über der Türe entdeckt man ein weiteres Dazwischen bzw. „Metaxy“, eine Uhr, die anstelle des Ziffernblatts die zwölf Buchstaben „GENAUNGENAUN“ zeigt, so dass man mit dem kreisenden Sekundenzeiger die darauf endlos ineinander übergehenden Worte „genau“ und „ungenau“ liest.

Kurze Pausen dienen jeweils dem Transit zur nächsten Station. Da es insgesamt fünf Stationen gibt, sind immer fünf separierte Gruppen gleichzeitig im Gebäude unterwegs, die sich nur während der Ortsveränderungen kurz begegnen. Wie alle Aufführungszyklen beginnt auch die dritte Station „SCHAU! (Tragedia civile)“ mit zwei klirrenden Schlägen von Klanghölzern, die als unverkennbares Startsignal weithin durch das Museum zittern. Die markanten Akzente hat man zwar schon zweimal gehört, konnte sie zuvor aber nicht sehen und lokalisieren. Nun sitzt man unweit davon, hört und sieht die Aktion und erkennt ihre Funktion. Zweimal war bereits auch ein Posaunenglissando zu hören. Beim dritten Mal erlebt man es schließlich völlig anders, da man jetzt direkt vor dem Posaunisten (Matthias Muche) sitzt. Während der Spieler im Nacken jedoch unsichtbar bleibt, erblickt man stattdessen in einem Nebenraum erstmalig die Sopranistin (Friederike Kühl), deren Stimme man zuvor ebenfalls schon die ganze Zeit im Ohr hatte. Da sie ihr Gesicht jedoch zur Wand wendet, wirkt ihre Stimme viel weiter entfernt als bloß die acht Meter bis zum Publikum. Nähe und Ferne, Sicht- und Hörbares überformen sich wechselseitig oder schlagen ineinander um. Zum Schluss schreitet die Sängerin auf das Publikum zu, setzt sich direkt davor, blickt, singt und spricht die Besucher:innen an: „… dass Gott Dich durch die Schöpfung sieht“ und „der unendliche Raum …“. So öffnet die körperliche Nähe zwischen Akteurin und Auditorium zugleich eine kosmisch-theologische Dimension.

Wiederholen und Verändern
Die vierte Station „SEI! (Elfenbeinkreuz)“ befindet sich wie die dritte im größten Zentralraum von Kolumba. Doch sitzt man nun um 180 Grad verkehrt mit dem Rücken zur vorher erlebten Station. Der optische Perspektivwechsel verändert auch die akustische Wahrnehmung. Eine Geigerin (Jae A Shin) schwingt den Bogen durch die Luft und spielt ganz leise tonlose Tremoli. Zuvor wurden die dezenten Aktionen von Sängerin, Posaunist und Schlagzeuger (Moritz Koch) übertönt. Jetzt dagegen erlebt man sie als „close up“ ganz nah an den eigenen Ohren umso intensiver mit dem ganzen Körper wie eine ARSM-Beschwörung, während die vorher eindringlichen Klänge „lontano“ in weite Ferne zurücktreten. Nachdem man zuvor immer auch Personen und Handlungen gesehen hat, blickt man nun erstmals auf starre Holzfiguren und das im Titel der Station benannte „Elfenbeinkreuz“ der Ausstellung. Das Fehlen sichtbarer Aktion lenkt die Aufmerksamkeit unwillkürlich auf das Hören.

Die fünfte Station „SIEH! (Schmerzensmann)“ befindet sich im turmartig hohen Kubus, den die flach einfallende Dezembersonne an diesem Nachmittag hell durchstrahlt. Man sitzt im Kreis mit Cellistin (Hyung-Jung Berger) und Trompeterin (Chloë Abbott) und hört, wie sich nach dem bekannten Startsignal der Klanghölzer in den zuvor zurückgelegten Räumen alles erneut so abspielt, wie man es bereits an Ort und Stelle mit Posaune, Klarinette, Singstimme und Schlagzeug selbst erlebt hat. In Umkehrung der bekannten Gurnemanz-Worte aus Wagners „Parsifal“ ließe sich sagen: Zur Zeit wird hier der Raum, nämlich zu einem Ort von Erinnern, Rückschauen, Nachlauschen, Rekapitulieren, bis plötzlich ein Riss durch das Raum-Zeit-Kontinuum geht. Zwei Klanghölzer fallen auf den harten Betonboden und lassen Raum und Ohren klirren. Was zuvor immer wieder den Anfang der Stationsstücke signalisierte, wird nun zu einem Symbol von Loslassen, Entgleiten, Ende, Tod.
Abermals gibt es Blenden zwischen „lontano“ und „close up“. Indem irgendwann Cello und Trompete einsetzen und immer lauter spielen, blenden sie die herüberwehenden Klänge aus den anderen Sälen aus. Die zwei anderen Gegenpole des Sitzkreises bilden eine Holzfigur des gegeißelten Jesus von 1470 und ein abstraktes Wandtriptychon, unter dem auf einer Matratze im Schlafsack ein Mann wie ein Obdachloser – oder der tote Christus unterhalb des Altarbilds – liegt. Schließlich richtet sich die Gestalt (Niklas Seidl) leicht auf und läutet mit zwei kleinen Handglöckchen in Richtung der spätmittelalterlichen Skulptur. Die kleine Szene im „close up“ beschwört zugleich „lontano“ die große Apokalypse des Jüngsten Gerichts. Jesus Christus begegnet sich hier selbst in doppelter Gestalt sowohl als Schnitzfigur vor seiner Kreuzigung als auch nach seiner Grablegung und Auferstehung als lebendig gewordenes Altarbild. Die Plastik und der Obdachlose sind im Rahmen des Museums und Stationentheaters freilich nur Kunstfiguren. Indem sie miteinander in Dialog treten, geben sie jedoch einen umso eindringlicheren Appell für Mitgefühl, Menschlichkeit, Nächstenliebe.
Finden und Fehlen
Manos Tsangaris ist es einmal mehr gelungen, im Rahmen seiner fünf Musiktheaterminiaturen das Kleine des existentiellen Nahbereichs des Menschen mit dem großen Welttheater von Kunst, Politik, Religion und den letzten Fragen nach Raum, Zeit, Erkenntnis, Selbst- und Weltwahrnehmung zu verknüpfen. Woher komme, wohin gehe ich? Dank einfacher Mittel situiert er gekonnt Personen, Aktionen, Orte, Objekte, Klänge und Licht in komplexen Wechselbeziehungen, die verschiedene lebensweltliche Themen berühren und vor allem das Publikum mit seinen Sinnen und Wahrnehmungsweisen ins Zentrum stellen. So konfrontiert sein Stationentheater die Besucher:innen auf ihrer Wanderung von einem Ort zum anderen auch mit sich selbst und den Kardinalfragen von Manos Tsangaris´ Namensvetter Immanuel Kant: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Worauf darf ich hoffen? Was ist der Mensch?
Dem im Detail berührenden sowie zum großen Puzzle sich fügenden Musiktheater fehlt am Ende nur eines, der Applaus, den man dem Komponisten und allen Mitwirkenden gerne reichlich gespendet hätte, den man sich aber versagen muss, weil alle fünf Bilder wie auf dem Kreuzweg eines Kalvarienbergs für die nachkommenden Publikumsgruppen ständig weitergehen und nicht gestört werden sollen. Der unterdrückte Impuls hat indes auch sein Gutes. Denn die Begeisterung über das Erlebte verraucht nicht in lärmender Akklamation, sondern schwingt umso länger in einem nach.
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