obsessiv und gewalttätig, repetitiv und visionär
Buchrezension„Klangrausch und Dystopie. Der Komponist Fausto Romitelli“, herausgegeben von Oliver Korte
„An Index of Metals“, eine im Jahr 2003 komponierte Video-Oper von Fausto Romitelli (1963–2004), beginnt, als würde ein Tonbandgerät gestartet oder eine Schallplatte auf dem Teller gebremst und dann losgelassen, um unverkennbar den g-Moll-Akkord aus dem Song „Shine On You Crazy Diamond“ von Pink Floyd freizugeben. Die folgenden Wiederholungen klingen wie sich stets leicht und kaum vorhersehbar verändernde Tonbandschleifen, wie zunehmend verzerrte Abtastungen von Plattenrillen. Der Akkord wird dabei zum Bestandteil eines Spektralklangs umgedeutet und mit Instrumentalklängen angereichert. Insgesamt hat die Musik der einstündigen „Mono-Oper“ etwas Hypnotisches, Tranceartiges immer dort, wo sie mit Zyklen arbeitet und nicht gerade laut und verstörend klingt. Mit der Schlusskadenz für E-Bass und eben die E-Gitarre – dieses für Romitellis Komponieren prototypische, ideengebende Instrument – endet die gelungene Aufführung eines selten gespielten Werkes am 18. Oktober 2025 auf dem 25. Jahreskongress der Gesellschaft für Musiktheorie (GMTH) in Lübeck. Das Publikum wird von den Text-, Bild- und Klangwelten sichtlich gefordert, ist aber begeistert von der energiegeladenen Aufführung durch Studierende der Musikhochschule vor Ort und Angehörige der Musikfabrik (Köln). Zu Romitellis Video-Oper „An Index of Metals“ hatten Kenka Lekovich das Libretto und Paolo Pachini das Video beigetragen.
Pünktlich am Tag der Aufführung wird auf dem Lübecker Kongress die Publikation „Klangrausch und Dystopie. Der Komponist Fausto Romitelli“ ausgeliefert und auch präsentiert. Damit ist ein Forschungsprojekt abgeschlossen, das an der Lübecker Musikhochschule seit 2019 lief. Neben Hochschulseminaren wurde im April 2021 ein Romitelli-Kongress veranstaltet. Daran anschließend brachen zehn Aktive zum Quellenstudium nach Venedig auf, um im Archiv der Fondazione Giorgio Cini Skizzen auszuwerten und so den Werken und deren Entstehungsprozessen noch näher zu kommen – und einem Komponisten, der mehrfach betont hat, er komponiere „den Klang selbst, nicht mit dem Klang“. Eine weitere Seite seines Schaffens hat er mit den vier Begriffen im Titel dieser Rezension umrissen.
Fausto Romitelli ist 2004 mit Anfang vierzig viel zu früh verstorben. Die Uraufführung von „An Index of Metals“ in Frankreich hat er nicht erlebt, aber letzte Anweisungen aus dem Krankenhaus gegeben, wo er wegen seiner Krebserkrankung die letzte Zeit verbracht hat. In Heft 102 der MusikTexte findet sich ein kurzer, sachlicher Nachruf. Sonst wird Romitelli in den MusikTexten leider nicht erwähnt – ein schwer nachzuvollziehendes Versäumnis.

Anhänge und Schriften
Schon der erste Blick ins neue Buch verrät, dass die Verantwortlichen sich hier in liebevoll zu nennender Weise um Romitellis Schaffen bemüht haben: Blättern wir von hinten durch, dann fällt – geradezu rührend – zunächst die aktuelle Diskografie wegen der farbigen Miniaturabbildungen der CD-Cover auf. Dahinter befindet sich eine Bibliografie, die nur bereits vorliegende Texte zu Romitelli, nicht aber sämtliche in den Beiträgen verwendete Literatur aufführt. Vor der Diskografie listet das erste nach aktuellem Stand vollständige Werkverzeichnis 59 Werke zuzüglich Versionen, dabei auch Neuentdeckungen und das (noch?) als verschollen geltende Werk „Acid Dreams and Spanish Queens“ (1994). Der Herausgeber Oliver Korte teilt das Oeuvre in vier Phasen ein: Frühwerk bis 1988 (auch während des Studiums in Mailand), Werke des Übergangs 1988–90 (auch während der Sommerkurse bei Franco Donatoni in Siena), Werke der Pariser Zeit am IRCAM 1990–95 und Werke der letzten zehn Jahre.
Davor werden – vielleicht nach dem Vorbild der Schriftensammlungen von Helmut Lachenmann und Nicolaus A. Huber – alle verfügbaren Texte von Romitelli samt deutscher Übersetzung veröffentlicht, gegliedert in Werkkommentare, Essays und Interviews. Darunter sind auch die Texte „Relevanz der Klangfarbe“ (mit dem Abdruck des Originaltyposkripts werden die editorischen Schwierigkeiten geschickt gelöst) und „Der Komponist als Virus“. In diesem benennt Romitelli vier „Problemfelder“, deren Auswirkungen sich zeitgenössische Komponist:innen zu stellen hätten: der Technologie, der „Medienlandschaft“, dem Einfluss der Popmusik und der Marginalisierung im „kulturellen Imperium“. Gerade diese Texte sind aufschlussreich, entsprechend hoch der Verdienst von Oliver Korte und Jakob Rieke als Herausgeber und Übersetzer.
Zudem gibt es eine Sammlung aller Texte in Originalsprache (in der Mehrzahl italienische, französische und englische Gedichte), die für die Kompositionen Romitellis eine Rolle spielen bzw. die er darin verwendet hat. Der in die von ihm erstellte Textsammlung einführende Beitrag von Jakob Rieke ist der letzte von insgesamt 16 Einzelbeiträgen. Er erläutert die Textauswahl und arbeitet fünf miteinander verbundene Topoi heraus, die Romitellis Schaffen durchziehen: See, Sand, Zeit, Sturm, Licht (und Finsternis).
Kontexte und Allgemeines
Ebenfalls von Rieke ist einer der ersten fünf allgemeineren Beiträge. Darin wird bereits der Bezug zur Textsammlung am Ende des Bandes hergestellt und erläutert, dass und wie Romitelli sich auf Autor:innen bezieht, die ihre Drogenrauscherlebnisse künstlerisch verarbeitet haben (Arthur Rimbaud, Aldous Huxley, Henri Michaux sowie Horrorliteratur von Edgar Allan Poe und H.P. Lovecraft). Aus anderer Perspektive geht die Erziehungswissenschaftlerin Gaja von Sychowski auf den Meskalinkonsum von Jean-Paul Sartre und Henri Michaux, auf den LSD-Konsum von Michel Foucault und Gianluca Lerici ein und auch darauf, welchen Ausdruck das in ihrem Werk findet. Das Pseudonym des Letzteren, „Professor Bad Trip“, wählte Romitelli als Titel einer mehrteiligen Komposition. Der Beitrag lässt einen konstruktivistischen Ansatz erkennen und endet damit, dass das Ringen um Selbstbestimmung als „wahr“ erlebt und gleichzeitig ein Horrortrip sein kann; Romitellis Musik ließe sich „als Horrortrip ohne Drogenkonsum“ wahrnehmen.
Der den Band eröffnende Beitrag von Alessandro Arbo, der mit Romitelli gut bekannt war, verdeutlicht, dass die Haltung des Komponisten nicht als postmodern aufzufassen sei, sondern als eine, die kritisch auf die Moderne schaut und zugleich unseren postmodernen Zustand reflektiert. Der kurze Text beleuchtet wesentliche Aspekte von Romitellis Schaffen wie den Bezug zu Trance und zu innovativer (oft psychedelischer) Pop-/Rockmusik. Dass die E-Gitarre paradigmatisch für Romitellis elektrischen Sound steht, wird so unmittelbar nachvollziehbar. Pascal Decroupet vertieft dies thematisch in seinem gelehrten Text mit einem historischen Streifzug durch die Entwicklung der Klangkomposition im 20. Jahrhundert.
Sascha Lino Lemke gibt einen Überblick über die Prinzipien computerbasierter Akkordberechnungen, die Romitelli „Aggregate“ genannt hat. Das sind im Wesentlichen reine harmonische Obertonspektren bzw. eine Auswahl daraus, verzerrte Spektren, die durch Stauchung oder Spreizung gewonnen werden, Frequency Shifting sowie Ring- und Frequenzmodulation. Lemke gibt Beispiele aus Werken von Romitelli und stellt ihnen weitere aus Werken von Gérard Grisey und Tristan Murail voran. Romitelli hat am IRCAM gelernt und seine Tools mit LISP und CSound programmiert. Da Lemke ebenfalls am IRCAM tätig war und hierin Expertise besitzt, kann er die Verfahren nicht nur erläutern, sondern führt aus, wie wir dies in OpenMusic nachbauen und nachvollziehen können. So gut wie alle folgenden Texte verweisen auf Lemkes Beitrag, der die technischen Grundlagen bereitstellt. Und viele der folgenden Beiträge erörtern, inwieweit sich Romitellis Komponieren an der Lehrerfigur Grisey orientiert.
Diese fünf Texte nähern sich Romitellis Musik von außen, und zwar insofern spiralförmig, als sie immer wieder in die Musik eindringen. Das schafft einen sanften Übergang von generellen ästhetischen Fragen zu Beschreibungen einzelner Werkgruppen und Kompositionen in überwiegend chronologischer Ordnung. Die Reihenfolge der Texte ist schon deswegen sinnfällig, weil sich Romitellis Schaffen als Arbeit an einem Gesamtprozess verstehen lässt, greift er doch immer wieder auf bereits Entwickeltes zurück (auch in Form von gleichen oder ähnlichen Programmtexten zu unterschiedlichen Werken).
Analysen
Waren unter den bisher genannten Autor:innen auch solche, die sich bereits um Romitellis Werk verdient gemacht haben, so sind die sieben Autor:innen der folgenden zehn Analysetexte fast durchweg Angehörige der Musikhochschule Lübeck. Oliver Korte muss hier zuerst genannt werden. Er hat gleich drei Analysen beigetragen. „Seascape“ (1994) mag – zumal in der Ursprungsfassung für Paetzold-Kontrabassblockflöte – nicht Romitellis interessantestes Werk sein; Kortes Analyse ist aber geradezu modellhaft und macht Struktur und Gehalt des Werkes mit bemerkenswerter Leichtigkeit direkt nachvollziehbar. Als zweites schreibt Korte über „…mai dolenti affanni“ (1998) für Gesang und Klavier, eher ein in Eile erstelltes Gelegenheitswerk, das der Uraufführung harrt. Romitelli rekurriert darin auf Claudio Monteverdi und verwendet Materialien aus „Professor Bad Trip“, woran er zur Zeit der Entstehung in erster Linie arbeitete. Korte hat das Stück entdeckt, widersteht aber der Versuchung, das Fundstück überzubewerten. „Flowing Down Too Slow“ (2001) hingegen, wovon sein dritter Text handelt, darf wohl als eines der bedeutsamsten Werke von Romitelli betrachtet werden. Dank Skizzenstudium in Venedig kann Korte das Nachbilden von insbesondere für E-Gitarre gebräuchlichen Effektgeräten mit Instrumentalsatztypen erläutern. Dabei wird uns Romitelli gleichsam als jemand präsentiert, der am Mischpult sitzt und Klangprozesse regelt, die mit ihren unscharfen, verzerrten Wiederholungen den Eindruck von „Gummizeit“ erwecken. (Die meisten Texte sind sorgsam redigiert, ausgerechnet bei diesem muss Eile geherrscht oder ein Autokorrekturprogramm hineingepfuscht haben. Anders lässt sich kaum erklären, dass der Stücktitel einmal mit „Flowing Town“ bezeichnet, die Herstellerfirma des DX7 „Jamaha“ genannt und Romitellis Komposition mit „brühbarocken Echosonaten“ verglichen wird.)
Sascha Lino Lemke hat – neben seinem Einführungsbeitrag – einen sehr lesenswerten Text über die beiden „Domeniche alla periferia dell’impero“ verfasst. Er geht der Mechanik der Halluzination und damit Romitellis Intention nach, in der „Prima domenica“ (1995/96) eine klangliche Analogie zu Michaux‘ Drogenerfahrungen zu realisieren. Die beiden Steigerungsteile des „ersten Sonntags“ beziehen sich bereits auf den eingangs erwähnten Klang aus dem Song von Pink Floyd, lassen laut Lemke aber noch eine ganze Reihe weiterer Assoziationen zu. Programmierfragen werden angesprochen, musikalische Schichten seziert und immer wieder intertextuelle Bezüge in Romitellis Gesamtwerk aufgedeckt. Die „Seconda domenica“ (2000) ist dem 1998 verstorbenen Lehrer Grisey gewidmet, womit Lemke den Gebrauch von „Lamenti“ erklärt. Die vielschichtige Analyse wartet mit historischen Querverweisen und Deutungsangeboten für zwei Kompositionen auf, die grundlegend für die folgenden Werke Romitellis sind. Mindestens beteiligt ist Lemke noch an einem Beitrag von Raphael Brandstäter über „Nell’alto dei giorni immobili“ (1990), einem Werk, das zwar noch keine kurzen Wiederholungsmodule aufweist, aber durch Mittel wie „virtuelle Frequenzmodulation“ und lineares Akkord-Morphing bereits eine Wende durch die Aneignung der Verfahren des sogenannten „Spektralismus“ erkennen lässt.
Ferner gibt es einen Analysetext von Ya-Chuan Wu über Flötenkompositionen Romitellis aus den frühen 80er-Jahren und einen von Benjamin Janisch angenehm knapp gehaltenen Überblick über „The Nameless City“ (1997) für drei dritteltönig gegeneinander gestimmte Streichergruppen. Auch hier spielen das Nachbilden von Klangmanipulationen mit Effektgeräten und das Spektrum von Röhrenglocken eine wichtige Rolle. Lars Opfermann beschreibt, wie in „Blood on the Floor, Painting 1986“ (2000) – der Titel ist eine Anleihe bei Francis Bacon – die „unausweichlich und bedrohlich“ wirkenden Zyklen der modularen Form verwischt werden, in denen schreiende Glissandi der E-Gitarre und eine abermals durch verzerrte Spektren gebildete Harmonik dominieren. Und Fabian Luchterhandt gelingt – im Anschluss an die Erörterung von Romitellis Begriffen „künstlich, denaturiert, verzerrt“ – ein Überblick über die symmetrische formale Anlage von „Amok Koma“ (2001).
Zuletzt trägt Pierluca Lanzilotta einen recht launigen Text bei zum Einbezug der Gitarrenpartie von „Trash TV Trance“ (2002) in das eingangs erwähnte „An Index of Metals“. Dafür, dass diese durchaus als Romitellis Opus summum zu betrachtende Video-Oper – wie z.B. auch „EnTrance“ (1995) und die drei „Lessons“ von „Professor Bad Trip“ (1998–2000) – nicht eingehender gewürdigt werden konnte, entschädigte die Aufführung in Lübeck.
Bei der weiteren Beschäftigung mit Fausto Romitelli werden die hier versammelten Texte zukünftig von großer Bedeutung sein. Manche Analysen neigen stärker als andere zum Nacherzählen des Notentextes. Aber alle gehen über die Beschreibung der Partituren, technischer Details oder dessen hinaus, was – zumindest an der Oberfläche – ohnehin hörbar ist. Das macht diesen Band zu einem fulminanten Beitrag zur Romitelli-Forschung, die ja – im Gegensatz zu Frankreich und Italien – im deutschsprachigen Raum erst begonnen hat. Und weil auch Frequenzmodulation und andere computerbasierte Techniken, die andere Analyseverfahren erfordern, nachvollziehbar gemacht werden, ist das imposante Buch zudem ein wichtiger Bestandteil der Theoriebildung in Hinsicht auf zeitgenössisches Musikschaffen.
„Klangrausch und Dystopie. Der Komponist Fausto Romitelli“, hrsg. von Oliver Korte, Hildesheim: OLMS, 2025
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