The Köln Crisis – eine psychologische Intervention
KommentarWie eine einst bedeutende Kulturstadt in selbstschädigendes Verhalten verfällt –
und ihre Künstler:innen mit in den Abgrund zieht.
In meinem beruflichen Alltag im Green Room höre ich immer wieder dasselbe: Etwas Grundsätzliches in der Beziehung dieser Stadt zu ihren Künstler:innen ist zerbrochen.
Köln verhält sich zunehmend wie ein:e Patient:in in psychischer Desintegration – gefangen in Zyklen von Selbstschädigung, brüchigen Bindungen, Identitätsdiffusion und impulsiven Entscheidungen, die genau jene Strukturen beschädigen, die die Stadt einst geprägt und getragen haben.
Würde Köln als Klient:in in meine Praxis kommen, müsste man über eine Diagnose aus dem Bereich der Borderline-Persönlichkeitsstörung nachdenken:
• instabiles Selbstbild: sich als „Kulturstadt“ ausrufen und gleichzeitig genau jene Bedingungen zerstören, die Kultur benötigt,
• instabile Beziehungen: langfristige Partnerschaften mit Künstler:innen, Ensembles und Institutionen schwächen oder aufgeben – durch Inkonsequenz, Schweigen oder plötzlichen Entzug von Unterstützung,
• Selbstschädigung: gekürzte Budgets, eingefrorene Fördermittel, das systematische Aushungern kultureller Ökosysteme,
• Impulsivität: endlose Sanierungen, Skandale, die Aufmerksamkeit absorbieren, hastige Umstrukturierungen und finanzielle Entscheidungen ohne Weitsicht.
Die „Diagnose“ ist provokant – aber die Lage verlangt nach einer Sprache, die dem angerichteten Schaden gerecht wird.
Fünf Jahre Köln: Tod durch tausend Papierschnitte
Ich habe in Berlin, New York, Boston und Paris gelebt und gearbeitet – Städte mit eigenen Abgründen und Absurditäten, aber mit einem Grundverständnis dafür, dass Künstler:innen ein elementarer Teil des öffentlichen Lebens sind. An diesen Orten habe ich beobachtet, wie Künstler:innen und Institutionen unter Druck manchmal gescheitert sind, sich manchmal wieder erholt haben und sogar neu erfunden haben.
Aber nirgendwo habe ich erlebt, dass eine Stadt so konsequent gegen jene Menschen arbeitet, die ihre kulturelle Identität tragen, wie in Köln. Und das ist nicht bloß anekdotische Frustration, sondern ein Muster, das Künstler:innen verschiedenster Sparten mit erschöpfter Präzision beschreiben.
Tänzer:innen, Komponist:innen, Theatermacher:innen, Kulturarbeiter:innen, freie Musiker:innen – Menschen mit völlig unterschiedlichen ästhetischen und politischen Hintergründen – schildern ein ähnliches Bild.
Förderprogramme wirken auf dem Papier großzügig, brechen aber in der Praxis zusammen. Entscheidungen ziehen sich über Monate oder Jahre hin und sind, wenn sie endlich getroffen werden, kaum nachvollziehbar. Prioritäten verschieben sich abrupt, Projekte bleiben mitten im Prozess liegen. Und unter allem liegt ein klar spürbarer Grundton: Künstler:innen fühlen sich ornamental statt wesentlich; geduldet, solange sie nichts verlangen.
Dieses Klima erschöpft. Es entmutigt. Es bringt Künstler:innen dazu, immer weniger zu erwarten und noch weniger zu fordern.
Die Folgen sind nur sichtbar, wenn man genau hinsieht: ein leiser, stetiger Rückzug aus Köln oder aus seinen Kunstszenen. Resignation. Es handelt sich um den stillen Exodus von Menschen, die nicht mehr daran glauben, dass die Stadt einen Platz für sie bereithält.
Ein Kultursystem im freien Fall
Aus klinischer Sicht zeigt das Kölner Kultursystem die vier klassischen Stressreaktionen:
Freeze (Erstarren)
Die Haushaltssperre hat Personen und Institutionen in einen Schwebezustand versetzt, ohne verlässliche Entscheidungsgrundlagen. Kulturschaffende beschreiben eine mentale Verengung, die ich aus meiner klinischen Arbeit kenne – ein Gefühl der Verhärtung der Zukunft, weil der Boden schwankt.
Flight (Flucht)
Kürzungen in der freien Musikszene, jahrelange Verzögerungen und unsichere Strukturen treiben Ensembles, Festivals und langjährige Initiativen in den Rückzug. Manche ziehen weg, andere verkleinern sich. Manche lösen sich still auf. Kulturlandschaften brechen selten abrupt, sie dünnen aus.
Fight (Kampf)
Führungskrisen im Opernhaus, Konflikte in großen Institutionen, Vorwürfe von Machtmissbrauch, abrupte Rücktritte – all das zeigt Systeme, die sich nach innen wenden, Territorien verteidigen und ihre Energie auf internen Streit statt auf Entwicklung richten.
Fawn (Unterwerfung / Gefälligkeitsverhalten)
Diese Reaktion ist am wenigsten benannt, aber allgegenwärtig. Künstler:innen passen sich an, werden übermäßig gefällig, senken Erwartungen, vermeiden Konflikte und akzeptieren Bedingungen, die anderswo undenkbar wären.
Bei neu angekommenen Künstler:innen – Geflüchteten, politisch Verfolgten, Menschen aus Krisengebieten – ist dieses Muster besonders ausgeprägt. Ihre Verletzlichkeit wird häufig ausgenutzt: durch unterbezahlte Arbeit oder indem sie symbolisch in Programmen eingesetzt werden, ohne dass sie tatsächlich gefördert werden.
Wo Strukturen fehlen, überlebt man, indem man diejenigen beschwichtigt, die über Ressourcen verfügen.
Die Summe solcher Reaktionen
So wird das System zersetzt: Grenzen verschwimmen, Verantwortlichkeiten lösen sich auf, Kommunikation bricht. In diesem Klima ziehen sich Menschen zurück, drosseln ihre Ambitionen – und gehen irgendwann.
Spartenübergreifend schildern Künstler:innen eine chronische Unsicherheit und ein wachsendes Gefühl, von einem System nicht gehalten zu werden, das gleichzeitig von ihrer Arbeit lebt.
Ein kulturelles Ökosystem kann Knappheit ertragen – aber keine dauerhafte Instabilität und Nicht-Reagibilität.
Köln nähert sich diesem Kipppunkt.
Von einer Weltkulturstadt zu einem kulturellen Frühwarnsystem
Köln war nicht immer so.
Ältere Künstler:innen sprechen noch von einer Zeit, in der die Stadt einen klaren Puls hatte, in der Risiko möglich war, Netzwerke trugen und Unterstützungssysteme existierten. In den 1970er und 80er Jahren entstanden ganze künstlerische Linien: radikale Experimente, Galerien mit internationaler Strahlkraft, ein elektronisches Musikstudio, das Komponist:innen aus aller Welt anzog, Buchhandlungen als geistige Treffpunkte, bildkünstlerische Bewegungen von europaweiter Bedeutung.
Die Stadt hatte einst eine funktionierende kreative Metabolik – Aufnahme, Transformation, Produktion. Diese Erinnerung zeigt die Dimension des Verlustes.
Heute zerfällt das Gefüge: Leitungen wechseln, Institutionen verlieren Boden, Künstler:innen verschwinden leise. Es ist nicht über Nacht geschehen, sondern das Ergebnis jahrelanger Vermeidung, zerstreuter Führung und erodierter Strukturen. Städte verlieren ihre kulturelle Identität nicht plötzlich. Sie verlieren sie, wenn die Bedingungen, unter denen Kunst gedeihen kann – Unterstützung, Dialog, Risikobereitschaft, gemeinsame Ziele – unbemerkt verschwinden.
Wie eine klinische Intervention aussehen könnte
Wäre Köln ein:e Patient:in, würde man mit Stabilisierung beginnen. Schluss mit Maßnahmen, die neuen Schaden anrichten: Haushaltssperren, abrupte Kürzungen, ständige Unsicherheit. Kulturschaffende brauchen eine planbare Umgebung, die über ein einziges Haushaltsjahr hinausreicht.
Der nächste Schritt wäre der Wiederaufbau von Beziehungssicherheit. Systeme heilen, wenn Kommunikation verlässlich wird – wenn Entscheidungen nachvollziehbar sind und die Stadt zeigt, dass ihre Bindung an die Kulturszene nicht nur symbolisch ist.
Dann käme die Identitätsarbeit. Köln muss definieren, welche kulturelle Rolle es tatsächlich einzunehmen bereit ist. Ein Selbstbild hat nur Wert, wenn es durch Verhalten getragen wird.
Der vierte Schritt: Exekutive Funktionen stärken; zentrale Stellen besetzen, kompetente Serviceeinheiten schaffen, Verantwortlichkeiten klären, Mechanismen einrichten, die verhindern, dass Krisen zur Normalität werden.
Und schließlich sollte Empathie gefördert werdn – nicht als ein schwaches Gemüt, sondern als ein Leitprinzip. Künstler:innen sind Arbeitnehmer:innen, die emotionale, intellektuelle und soziale Arbeit leisten; sie als bloße Verzierung zu betrachten, destabilisiert das gesamte System.
Die Entscheidung
Das, womit Köln heute konfrontiert ist, lässt sich nicht auf ein Haushaltsproblem reduzieren. Die eigentliche Krise ist eine psychologische und relationale: ein System, das jenen schadet, von deren Arbeit und Engagement es lebt. Und genau darin liegt die eigentliche Zumutung: Dieser Schaden wäre vermeidbar – und er lässt sich beheben.
Städte haben tiefere Erschütterungen überstanden, wenn sie sich für Klarheit, Verantwortung und Fürsorge entschieden haben. Künstler:innen fordern keine Sonderrechte. Sie verlangen lediglich Rahmenbedingungen, die ihre Arbeit nicht untergraben. Die freie Szene ist belastbar, wie sie es immer war – doch Belastbarkeit hat Grenzen.
Köln muss nun entscheiden, ob es bereit ist, das beschädigte kulturelle Gefüge zu reparieren, oder ob es die Muster fortsetzt, die bereits so viele vertrieben haben. Heilung ist möglich. Aber nur, wenn sie gewollt und konsequent verfolgt wird.
Vor fünf Jahren eröffnete ich TGR The Green Room – ein kleines, hartnäckiges Zentrum für Künstler:innen in Krisen. Anfangs waren diese Krisen äußerlich bedingt: die Folgen von COVID, abgesagte Spielzeiten, ein abruptes Wegbrechen gesellschaftlicher Relevanz. Ab 2022 wurden die Notlagen geopolitisch: ukrainische Künstler:innen, die orientierungslos und traumatisiert ankamen. Jetzt, im Jahr 2025, sind die Krisen lokal – hervorgerufen nicht durch Krieg oder Pandemie, sondern durch die Stadt Köln selbst. Der Green Room bietet mittlerweile spendenbasierte psychologische Beratung für Künstler:innen und Kulturschaffende, deren Lebenswerk ins Rutschen gerät.
Unser Angebot ist kostenfrei. Warum? Weil wir der Meinung sind, dass Qualitätsjournalismus für alle verfügbar sein sollte. Mit dieser Einstellung sind wir nicht alleine: viele Leser:innen schätzen unser Engagement. Mit Ihrer Unterstützung können wir weitermachen. Nutzen Sie jetzt unser Spendenabo (schon ab 6 Euro) oder werden Sie Fördermitglied – und damit Teil unserer Community!