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Bericht

Heroines of Sound Festival 2025

Seit seiner Gründung im Jahr 2014 verfolgt das Berliner Festival Heroines of Sound das Ziel, die Sichtbarkeit von FLINTA*-Künstler:innen in der elektronischen Musik zu stärken, die auf ihrem Feld wichtige Impulse zu aktuellen ästhetischen Diskursen setzen. Die diesjährige Ausgabe stellte das Thema „Grenzüberschreitung“ in den Mittelpunkt, das in zahlreichen Panels, Konzerten, Performances und erstmals auch als Musiktheater vielfältig aufgegriffen wurde. Während sich der erste Teil im Zentrum für Kunst und Urbanistik dem Klangraum Natur widmete, fokussierte sich der zweite Teil im Radialsystem auf geopolitische Themen.

Den diesjährigen Auftakt der bereits 12. Festivalausgabe bildete ein Schlafkonzert des europäischen Forschungsprojekts Lullabyte unter der Leitung von Miriam Akkermann. Ausgehend von der Idee, dass Wiegenlieder in vielen Kulturen eine effektive Methode sind, Kindern beim Einschlafen zu helfen, untersucht das Projekt den Einfluss von Musik auf den Schlaf Erwachsener aus den Perspektiven von Musikwissenschaft, Neurologie, Psychologie und Informatik. Rund 50 Personen machten es sich am späten Abend im Glashaus des ZK/U auf Luftmatratzen gemütlich. Das kompositorische Material basierte diesmal auf Field Recordings von Kirsten Reese und Alice Eldridge. Ziel war es, über Nacht eine bewusste, vielleicht teils verlorene Verbindung zur Natur herzustellen – eine Art auditive Re-Integration in die Umwelt. Theorie und Praxis gingen jedoch etwas auseinander, denn während einige Teilnehmende schnell einschliefen, suchten andere die Vertrautheit ihres eigenen Betts. Am nächsten Morgen wurde bei einem gemeinsamen Frühstück eingeladen, Eindrücke von der Musik und den daraus resultierenden Raumerfahrungen in einem Fragebogen festzuhalten.

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Lullabyte-Konzert im ZK/U © Heroines of Sound | Susanne Elgeti

Auch der folgende Tag blieb thematisch im Klangfeld Natur verankert. Das Berliner Ensemble LUX:NM präsentierte unter dem Titel NATURE:SOUND:SPACES Werke von Kirsten Reese, Hanna Hartman, Séverine Ballon und Karen Power: am Nachmittag in familienfreundlicher Kurzform (das sogenannte SCHRUMPF!-Format), abends in voller Länge. In kompositorischen Auseinandersetzungen mit Naturthemen besteht häufig die Herausforderung, einer allzu imitativen und illustrativen Klangsprache zu entgehen, die banal wirken könnte, statt die materielle Komplexität zu reflektieren. Während Reese mit algorithmisch generierten Insektenklängen den Naturraum Garten um eine spekulative, post-anthropozentrische Perspektive erweiterte, rückte Hartman die klangliche Materialität von Holz in den Fokus. Die stetigen, knisternden und knackenden Geräusche, die sie in ihrem Schlafzimmer wahrnahm, als sich Termiten durch ihre Möbel fraßen, übersetzte sie in eine differenzierte Klangsprache – erzeugt durch Reibungstechniken mit Pappkarton.

Nach einer viertägigen Pause wurde das Festival im Radialsystem fortgesetzt – spürbar energetischer als im ersten Teil die Woche zuvor. Mit dem Ortswechsel rückten die Diskursformate stärker ins Zentrum des Programms. Jeder Festivalabend begann mit Gesprächsrunden zu wechselnden thematischen Schwerpunkten, in denen die Künstler:innen, deren Werke an dem Tag präsentiert wurden, ihre Perspektiven in den Dialog einbrachten.

Besonders das erste und das abschließende Panel zeichneten sich durch inhaltliche Tiefe aus und bildeten somit einen erkenntnisreichen Gegenpol zu den Konzerten. Den Anfang machten die Festivalgründerin Bettina Wackernagel sowie die Komponistinnen Brigitta Muntendorf, Sara Abazari, Chikiss, Sarah Nemtsov und Anahita Abbasi unter dem Titel „Gender and Persistence in Music Cultures“.  Im Zentrum der Diskussion standen Fragen danach, wie Genderrollen, Identität und strukturelle Rahmenbedingungen das musikalische Denken und die künstlerische Praxis prägen. Angesichts einer zunehmend fragilen globalpolitischen Lage, in der feministische Errungenschaften mit erschreckender Geschwindigkeit zerstört werden (können), betonten die Beteiligten die Bedeutung internationaler Solidarität und die Notwendigkeit, unabhängige künstlerische Räume jenseits staatlicher Strukturen zu schaffen. Der Austausch mündete in die Vision eines ästhetischen Universalismus, der weniger von Zuschreibungen entlang von Geschlecht, Herkunft oder kultureller Codierung, sondern von gemeinsamen künstlerischen Haltungen, geteilter Praxis und transnationalem Dialog geprägt ist.

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Panel I „Gender and Persistence in Music Cultures“ © Udo Siegfriedt 2025

Im Anschluss präsentierte die finnische Performance-Gruppe OBLIVIA mit „Reality Bang“ ihre neueste Musiktheaterproduktion unter der musikalischen Leitung der Komponistin Yiran Zhao. Das Stück wurde bereits im Juni in der ARGEkultur Salzburg uraufgeführt und ist Teil der Reihe „Turn Turtle Turn“, deren erster Teil 2024 bei der Münchener Biennale Premiere feierte.

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OBLIVIA “Reality Bang” © Udo Siegfriedt 2025

„Reality Bang“ widmete sich inhaltlich den gesellschaftlichen und psychischen Spuren der menschengemachten Klimakatastrophe. Statt didaktischer Warnung oder dystopischem Pessimismus wählte OBLIVIA jedoch einen absurd-theatralischen Zugang zum Anthropozän. Gleich zu Beginn des zweiten Bildes wurde der Körper eines Performers, insbesondere seine Glatze, als perkussiver Resonanzkörper genutzt. Dabei zeigte das Stück trotz Witz auch ernste und wütende Seiten: „Relentless madness must be answered by relentless anger. We were ambushed and now our weapon is our fury“, sagt die von der Kompaniemitbegründerin Annika Tudeer gespielte Figur.

Gleich zu Beginn des nächsten Tages rückten mit Sigalit Landaus Videoarbeit „Barbed Hula“ (2000) politische Kontexte nochmals stärker in den Fokus. Die Künstlerin steht darin nackt an einem Strand von Tel Aviv, während sie einen Hula-Hoop-Reifen aus Stacheldraht um ihren Körper kreisen lässt. Die archaische Direktheit dieser Geste verhandelte den Widerspruch zwischen Verletzung und Selbstermächtigung. Als ästhetischer Auftakt funktionierte die vielfach (u.a. im MoMA) ausgestellte Arbeit hier wie ein Prolog zur folgenden Performance, ein Einstieg in die Dramaturgie des Verwundbaren. Im Anschluss präsentierte Rojin Sharafi ihre Performance „O.O. Orifice“, eine dichte, dynamisch strukturierte Komposition für elektronisch bearbeitetes Cimbalom, Stimme und Live-Elektronik. Ihr Zugang ließ sich als Zusammenschluss verschiedener Stile verstehen: Persische Rhythmen, elektronische Verfremdung und Einflüsse aus der europäischen Avantgarde überlagerten sich. Die Performance war politisch stark aufgeladen: Sharafis wiederholter Ausruf „Cultural resistance for Palestinians“ stieß im Publikum vielfach auf enthusiastische und zustimmende Resonanz. Diese politische Akzentuierung verlieh dem Abend eine spürbare Dringlichkeit.

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Rojin Sharafi “O.O.Orifice” © Udo Siegfriedt 2025

Nach Sharafis intensiver Performance hätte eine etwas längere Pause gutgetan, doch ging das Konzertprogramm kurz darauf mit Werken von Anahita Abbasi, Sarah Nemtsov, Brigitta Muntendorf, Hana Ajiashvili und Julia Mihály weiter. Interpretiert wurde die Musik vom israelischen Meitar Ensemble, für das mehrere Stücke angepasst worden waren. Besonders hervorzuheben ist Brigitta Muntendorfs „Weight and Load #1“, ein vorwiegend minimalistisches und stark fragmentarisches Stück, das intensiv mit Struktur und Form arbeitet und sich grundlegend zwischen zwei Akkorden bewegt. Dabei verweist Muntendorf auf einen Satz von Heiner Müller, der sie bei der Entstehung begleitete: „Nur starke Formen helfen gegen Schmerz.“ Die Musik ist formal streng, wird jedoch immer wieder von plötzlichen Ausbrüchen durchzogen, die bisweilen in fast volksmusikalische Melodien mündeten.

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Meitar Ensemble © Udo Siegfriedt 2025

Am Abschlusstag des Festivals standen ausschließlich Uraufführungen und Neufassungen im Mittelpunkt. Den Anfang bildete das Abschluss-Panel mit den Komponistinnen Camilla M. Fehér, Augustė Vickunaitė, Viola Yip und Alexandra Cárdenas (Letztere leitete während des Festivals einen Live-Coding-Workshop). Unter dem Titel „Performance, Body and Electronic Materialities“ reflektierten sie Strategien im Umgang mit künstlerischen und technischen Herausforderungen. In einer kurzen Keynote von Moderatorin Lottie Sebes wurde hervorgehoben, wie sehr unser heutiges Leben von sogenannten „Microactions“ geprägt ist. In einer zunehmend durch Hyperkonnektivität geprägten Welt droht der Körper in die Immaterialität zu verschwinden. Umso wichtiger sei es, ihn wieder ins Zentrum der musikalischen Praxis zu rücken: „Remember you have a body!“ Die Diskussion griff darüber hinaus Themen des ersten Panels auf, diesmal mit einem stärkeren Fokus auf die Dringlichkeit, sich auch mit konträren Meinungen auseinanderzusetzen. In einer zunehmend polarisierten Welt betonten die Künstler:innen die Bedeutung von Räumen für Austausch und Dialog. Zudem wiesen sie darauf hin, dass künstlerische Positionen stets auch durch geografische und kulturelle Kontexte geprägt sind.

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Panel III „Performance, Body and Electronic Materialities“ © Udo Siegfriedt 2025

Musikalisch eröffnete Sarah Hennies den Abend mit „Souvenir“, einer Neubearbeitung für Blechbläser, interpretiert vom Berliner Ensemble Apparat. Die Komposition entstand ursprünglich auf Einladung von Jonathan Hepfer für die Monday Evening Concerts in Los Angeles, als künstlerische Reaktion auf das verlorene Werk „Masculine“ von Julius Eastman. Während Eastman aus queerer Perspektive die Idee von Männlichkeit hinterfragte, erweitert Hennies in „Souvenir“ diese Auseinandersetzung um ihre eigenen Erfahrungen als Transfrau. Das etwa 60-minütige Stück war geprägt von einer repetitiven, minimalistischen Rhythmik, strukturiert durch subtile mikrotonale Verschiebungen und ein kontinuierlich neu ansetzendes Crescendo. Die zusätzlich zu den Blasinstrumenten eingesetzten Handglocken erinnerten – in Anlehnung an das Konzept der musica mundana – klanglich an Glockenräder und gaben dem Stück so auch einen transzendenten Charakter.

Ein weiterer Höhepunkt des Abends war die Performance „The Ombré of Touches“ von Viola Yip. In einem eigens konzipierten aufblasbaren Raum, der zugleich als Instrument fungierte, erzeugte Yip mittels Elektronik ein magnetisches Feld, das durch körperliche Bewegung und Berührung moduliert werden konnte. So entstand ein performatives Setting, in dem musikalische Parameter nahezu ausschließlich über körperliche Interaktion gesteuert wurden. Zwar zeigte die Premiere noch Ansätze einer möglichen Steigerung im Umgang mit diesen Mitteln, doch eröffnete das Werk eindrücklich einen Erfahrungsraum, in dem Körper, Materialität und Technologie in ein produktives Spannungsverhältnis treten.

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Viola Yip “The Ombre of Touches” © Udo Siegfriedt 2025

Den Abschluss des Festivals bildete ein Set der chilenischen Künstlerin Darla Quintana, die Klänge aus Daten des elektromagnetischen Spektrums des Atacama Large Millimeter/submillimeter Array (ALMA) sonifizierte und damit den Kreis zum Schlafkonzert schließen konnte, mit dem das Festival begonnen hatte.

Nach fünf intensiven Tagen lässt sich ein durchweg positives Fazit ziehen: Heroines of Sound bewies einmal mehr seine Bedeutung als wichtige Plattform für FLINTA-Künstler:innen der elektronischen Musik. Die Kombination aus Paneldiskussionen, Konzertperformances und erstmals integriertem Musiktheater ermöglichte einen facettenreichen Blick auf Fragen von Gender, Identität und künstlerischer Praxis. Besonders hervorzuheben ist die zu Wort und Gehör gekommene Relevanz künstlerischer Perspektiven zu einer Zeit, in der feministische Bewegungen weltweit zunehmend unter Druck geraten. Das Festival stellte auch die Forderung nach solidarischen Räumen für künstlerisches Schaffen von FLINTA-Personen in den Mittelpunkt. Es gelang, über rein musikalische Aspekte hinauszudenken; die Veranstaltung zeigte eindrücklich, wie elektronische Klangkunst als Resonanzraum für politische, ästhetische und körperliche Erfahrungen fungieren kann. Dabei zeigt sich: Die Heroines stehen international solidarisch zusammen, sei es durch den regen Austausch in Organisationen wie der vertretenen Iranian Female Composers Association (IFCA), durch Programme, die transnationalen Dialog gerade in Krisengebieten mithilfe von Musik fördern, oder durch Bemühungen, elektronische Musik inklusiver und leichter zugänglich zu machen.