Kaleidoskop der Katastrophe

Bericht

Uraufführung von Philippe Manourys „Die letzten Tage der Menschheit“ an der Oper Köln

Die gegenwärtigen Kriege und Krisen erwecken den Eindruck apokalyptischer Zeiten. Täglich hören, sehen und lesen wir von Waffensystemen, Raketenbeschuss, Einmärschen, Bombardierungen, hunderten Toten und Verletzten. Neue Aufrüstung soll noch schlimmere Konflikte verhindern. Doch wohin führen die heutigen Entscheidungen und Widersprüche? „Niemand will Krieg, außer die ihn gewollt haben, und die muss man bekriegen.“ Es geht darum, „Krieg anzufangen, um Kriege zu beenden.“ Philippe Manoury bezieht sein Musiktheaterwerk „Die letzten Tage der Menschheit“ nach dem gleichnamigen Riesendrama von Karl Kraus mit solch neu hinzugefügten Sätzen ausdrücklich auf unsere Gegenwart: „Doch in der Wirklichkeit ist das nicht so einfach wie in der Oper.“ Und selbst da ist es schwer genug.

Mit Patrick Hahn und Regisseur Nicolas Stemann kondensierte der 1952 geborene französische Komponist das unaufführbare Krausʼsche „Marstheater“ von achthundert Seiten Umfang, mehreren hundert Figuren und 219 Szenen an unterschiedlichsten Schauplätzen auf ein gut dreistündiges „Thinkspiel in zwei Teilen“. Opernhafte Arien, Ensembles, Chöre, Orchesterpassagen und Elektronik treffen auf Videoprojektionen, Textrezitation und Schauspiel. Daher die begriffliche Anlehnung an das deutsche „Singspiel“. Die Uraufführung an der Oper Köln beweist die erschreckende Aktualität der Umstände und Ereignisse des Ersten Weltkriegs, die Kraus als strenger Chronist und weitgehend alleiniger Autor seiner Zeitschrift „Die Fackel“ auf der Grundlage zahlloser Zitate aus Zeitungen, Ansprachen, Briefen, Caféhaus- und Stammtischgerede dokumentierte und zu einem Pandämonium aus Verblendung, Fanatismus, Opportunismus und Brutalität versammelte.

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Sebastian Blomberg und Patrycia Ziolkowska, Foto: Sandra Then

Text- und Bilderflut

Drei Orchestergruppen unter Leitung von Peter Rundel füllen die Bühne im größten Saal des Staatenhauses: links Streicher, mittig Streicher und Holzbläser, rechts Blechbläser und Schlagzeug. Düstere Akkorde ersticken gleich im Vorspiel bleischwer alle Farbe, Harmonik und Melodie wie in feldgrauem Morast. Die schicksalhaft lastenden Leitakkorde erscheinen immer wieder als drohendes Fatum der Menschheitsdämmerung, die keiner wollte und in die dennoch alle begeistert rannten, um plötzlich inmitten des Untergangs zu erwachen. Die Musik hat kaum begonnen, da weicht sie der Wechselrede der beiden Kraus-Alter Egos „Der Optimist“ und „Der Nörgler“. Von Patrycia Ziolkowska und Sebastian Blomberg schauspielerisch facettenreich und ausdrucksstark verkörpert und von Live-Videos großformatig projiziert, dominieren sie das überwiegend epische Geschehen. Rückblickend vom Ende des Weltkriegs 1918 entlarven ihre Reflexionen die entsetzliche Sinnlosigkeit des millionenfachen Schlachtens.

Der erste Hauptteil schildert die Ereignisse dann chronologisch ab Juli 1914 mit der Ermordung des österreichischen Thronfolgers und der Kriegserklärung an Serbien, die durch internationale Garantieerklärungen den Weltenbrand auslöste. Zu den aufgebahrten Särgen der Majestäten sieht man Ansichten des alten Wien. Dazu rasseln Militärtrommeln und kreischen Bläser. Fotos von Kriegsbegeisterung, Grabenkämpfen und Feuergefechten werden von erneuten Katastrophen-Akkorden und metallisch klirrendem Schlagwerk grundiert. Zu blutenden Menschen im Lazarett ertönt als Totentanz ein schleppender Walzer. Manoury bedient sich expressiver Gesten und Instrumentationstopoi des 19. Jahrhunderts, so dass man leicht versteht, was diese Musik will. Man merkt die Absicht und ist verstimmt, wird nicht ins Hören reingezogen, sondern verbleibt infolge der epischen Brechungen durch Text und Bild in einer distanziert beobachtenden Haltung. Oft sinkt das Orchester hinter der Fülle an Sprache und Ereignissen zur bloßen Begleitung zurück. Ständig wechseln Stimmen, Personen, Szenen, Perspektiven. Vieles geschieht gleichzeitig, überfordert die Aufnahmefähigkeit, eskaliert zum Trommelfeuer aus Texten, Bildern, Klängen, Aktionen. Gesamtdramaturgie und Materialfülle wollen Kraus gerecht werden, lavieren aber unentschieden zwischen immersiver Überwältigung und äußerlich bleibendem Spektakel.

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Miljenko Turk und Statisterie der Oper Köln, Foto: Sandra Then

Blanker Hohn

Manoury lehnt sich an Krausʼ Montageprinzip an, nimmt dem dokumentarischen Textmaterial durch Ästhetisierung jedoch die nackte Schonungslosigkeit. Die vom Pariser IRCAM gestellte Elektronik feuert dumpfe Granaten oder zischende Schrapnells durch den Saal, wirkt aber harmlos und halbherzig, nicht zu vergleichen mit immersiven Soundtracks von Kriegsfilmen wie Francis Ford Coppolas „Apocalypse Now“ (1979), Steven Spielbergs „Saving Private Ryan“ (1998), Sam Mendesʼ „1917“ (2019) oder gar der tödlichen Realität von Beschuss und aktuellen Detonationen in Gaza, Israel, Iran, Ukraine, Jemen, Sudan ... Kinder spielen Krieg und streiten mit beängstigend korrektem Militärjargon darüber, wer getroffen wurde, tot ist oder gesiegt hat. Die Groteske der Kleinen nimmt die opernhafte Szene im Großen vorweg. Mit Marschgepäck geht es immer schnelleren Schritts an die Front, bis mit einem Schlag alle tot umfallen und das Englischhorn über den Leichen eine traurige Weise anstimmt. Der Chor singt Märsche und verkörpert Gewalt, Masse, Macht, Klage und Anklage. Über allem Gemetzel und banalisierendem Geschwätz all derjenigen, die das Morden nicht selbst erlebt haben, wandelt auf Metallgerüsten im Bühnenbild von Katrin Nottrodt enthoben als mahnende Instanz der Engel der Geschichte, der „Angelus Novus“, gesungen von Anne Sofie von Otter.

In der Fülle der Figuren prägen sich nur wenige ein. Die meisten bleiben flüchtig, erscheinen und vergehen: Vanitas vanitatum! Schließlich geht es nicht um Einzelschicksale, sondern die Menschheit insgesamt ist der Antiheld der Tragödie. Die vierzehn Solosängerinnen und -sänger übernehmen jeweils bis zu acht verschiedene Rollen. Ein General (Lucas Singer) fordert von seinem Offizier (Miljenko Turk) Opfer bis zum letzten Mann; ein Priester segnet Kanonen und will selber mal schießen (Dmitry Ivanchey); ein Feldkaplan erteilt die Absolution, „weil das Töten im Krieg keine Sünde ist, sondern Gottesdienst“ (John Heuzenroeder). Herausgeputzte Patriotinnen feiern mit Schampus die heldische Zeit, gehen wütend auf Ausländer los und hetzen gegen Juden (Tamara Bounazou, Christina Daletska, Johanna Thomsen, Constanze Rottler, Barbara Ochs). Passanten erwarten den Sieg in längstens drei Wochen, Zeitungsverkäufer rufen Schlagzeilen aus, Frontmeldungen werden diskutiert, Feldpostbriefe verlesen … Herausragend ist Emily Hindrichs: Mit strahlendem Sopran ist sie mal eine Mutter, die ihr totes Kind beklagt, mal im rosarot aufgebrezelten Ballkleid die sensationsgeile Kriegsjournalistin „Die Schalek“, die das „freigewordene Menschentum“ der Soldaten feiert, die in Unterständen von Schlamm und Ungeziefer zu verlausten Höhlenbewohnern herabgewürdigt werden, während sich die Reporterin vor lauter Begeisterung in ekstatischen Spitzentönen überschlägt: Es ist der blanke Hohn auf alles Hungern, Dursten, Erfrieren, Verbluten, Sterben.

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Emily Hindrichs und Statisterie der Oper Köln, Foto: Sandra Then

Apocalypse Now

Der zweite Teil zeigt die Menschen zu Bestien vertiert. Der jahrelange Krieg hat sie zu leichenfressenden Raben und fauchenden Hyänen gemacht. Gasmasken verzerren die Gesichter zu Fratzen und ersticken Sprache und Gesang. Auf die langen Gewänder des Chors hat Kostümbildnerin Tina Kloempken undeutliche Kriegsszenarien gedruckt. Zum Sterbegesang eines Waldes räkeln die Sänger:innen die Arme und Hände wie zerschossene Bäume. So läppisch diese Choreografie wirkt, so bedrückend ist dagegen das vom Institut für Experimentelle Angelegenheiten (IXA: Claudia Lehmann und Konrad Hempel) gezündete Feuerwerk an Videos, welche die durch alle Jahrhunderte zunehmende Militärmacht und überwältigende Zerstörungskraft der Waffen demonstrieren. Die ersten Hominiden nutzen das Feuer, Legionen des „Imperium Romanum“ marschieren, Ritter auf Pferden metzeln auf Kreuzzügen, Trommelfeuer zerpflügen Schlachtfelder, Atombomben lassen tödliche Pilze aufsteigen, Feuerbälle fegen Häuser hinweg und pulverisieren ganze Landschaften. Zum unablässigen Wummern von Helikoptern sieht man das Napalm-Inferno in Vietnam und die Tarnkappen-Bomber der US Air Force, die erst jüngst auf iranische Atomanlagen zielten. Gezeigt werden auch Kriegsgewinnler von damals wie heute, Rüstungsindustrie, Ölplattformen, Börsenkurse, Dollarnoten. Ein Kraus gemäßes Kaleidoskop der Katastrophe.

Wie die nie abreißende Folge immer neuer Kriege finden „Die letzten Tage der Menschheit“ kein Ende. Wie auch? Wer kann schon wissen, wohin alles führt? Abermals erklingen höchste Violinen und tiefste Bässe, doch nicht mehr live im Orchester, sondern elektronisch verzerrt über Lautsprecher wie Geisterstimmen aus dem Jenseits. Das wäre ein guter Schluss gewesen. Er hätte die zur Ohnmacht verdammte Menschenmenge von Chor und Orchester angesichts des unfassbaren Grauens sprachlos zurückgelassen. Die beiden Schauspieler aber greifen ihren Prolog nun erneut als Epilog auf alle Kriegstoten und heute Lebenden wieder auf: „Steht doch auf, weckt ihren Schlaf durch euren Todesschrei“. Auch diesem Appell ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Doch erneut sirrt Elektronik und klagt einsam das Englischhorn. Partitur und Dramaturgie verlieren sich in Redundanz. Zu allem Überfluss treten noch weiß gewandete Außerirdische auf, die als moralisierendes Oktett die Menschheit zum Untergang verurteilen, weil Homo sapiens seinen schönen Heimatplaneten Erde zerstört. Aber bevor das Thema vollends in Richtung Naturzerstörung, Umweltvergiftung, Ökozid und Klimakrise zerfasert, mahnen Stimmen der „ungeborenen Kinder“ ein letztes Mal zum Frieden. Und darin liegt bei allen Schwächen die Stärke dieser Apocalypse Now: Nie wieder ist jetzt!