Kommentar zu Erhard Grosskopfs „Hörmusik“
Fundstückaus dem Programmheft des Uraufführungskonzerts am 30. September 1971 in Berlin
Seitdem im Jahre 1956 Karlheinz Stockhausens elektronische Komposition „Gesang der Jünglinge“ über fünf Lautsprechergruppen kreisförmig um ein Publikum herum ausgestrahlt wurde, haben die Experimente mit Raum-Klängen in der neuen Musik interessante Aspekte eröffnet. Die festgelegte Konfrontation – hier Musiker, dort Publikum – ist vielen Komponisten heute zu eng geworden. Man hat deshalb versucht, den Hörer in das Spannungsfeld klanglicher Ereignisse miteinzubeziehen, und ihm die Möglichkeit zu einem reicheren Anteil am musikalischen Geschehen zu geben. Stockhausens Darmstädter „Musik für ein Haus“1 mit gleichzeitig spielenden Instrumentalgruppen in fünf Räumen war ein Schritt auf diesem Wege, ebenso die Musik für die Weltausstellung in Osaka [EXPO ‘70], für die Stockhausen ein Kugel-Auditorium mit Rundumlautsprechern entworfen hat, in dem das Publikum auf einer schalldurchlässigen Plattform inmitten der Kugel „schwebte“, allseitig von Klängen umgeben.
Für den Deutschen Pavillon der Weltausstellung schrieb Erhard Grosskopf die Komposition „Dialectics“, ein Stück, dessen Aufführung mit mehreren Schallrichtungen rechnet. Grosskopf, 1930 geboren, hat in Berlin an der Musikhochschule studiert, war Dozent am Städtischen Konservatorium, Mitbegründer und bis vor etwa einem Jahr Mitglied der „Gruppe Neue Musik“.2 Mit der Erweiterung des akustischen Raumes hat er bereits 1968 in seiner Komposition „Nexus“ experimentiert, deren Klanggeschehen in Verbindung mit einem variablen Farbstreifen-Bild von Bernd Damke präsentiert wurde.3
In seiner „Hörmusik“, die im Auftrag der Berliner Festwochen entstand und im Januar dieses Jahres [1971] vollendet wurde, lässt er vier Orchestergruppen nebst Lautsprechern kreisförmig um das Publikum postieren. Zwei von ihnen sind vor allem mit Holzbläsern besetzt, eine mit Streichern, eine weitere mit Blechbläsern. Fast alle sind mit reichlichem Schlagzeug versehen, ebenso wie die Streichergruppe, die gemeinsam mit dem Solo-Cello im Zentrum des Schauplatzes aufgebaut ist. Der Klang des Solo-Instruments wird durch Mikrophone an elektronische Apparaturen weitergegeben, die ihn in seinem Charakter verändern und über Lautsprecher ausstrahlen.
Am Anfang der Komposition stehen weitausgebreitete Cluster der gesamten Besetzung. Die Stimmen bewegen sich nicht, sie verharren, sogar ohne Vibrato, auf einer Tonhöhe. Trotzdem ist der gesamte Klang in sich bewegt. Er verändert seinen Charakter durch das Einsetzen neuer Stimmgruppen, durch ein kontinuierliches Anwachsen und Abschwellen der Lautstärke, eine oszillierende Variation des Klangbildes, wie sie Penderecki in seiner Komposition „Anaklasis“ [1959/60] zum ersten Mal in dieser Form in die Musik brachte. Auch die Schlaginstrumente sind in den sanften musikalischen Wellengang einbezogen: Sie erzeugen nicht rhythmische Interpunktionen, sondern Klangschichten. Bekanntlich verschmelzen solche Trauben einzelner Klänge im Höreindruck zu komplexen Akkorden, die sich dem Geräusch um so mehr annähern, je zahlreicher die gleichzeitig erklingenden Töne sind. Der gleiche Effekt ergibt sich hier, nur wird er gleichsam gestört und in seiner Wirkung relativiert durch die räumliche Aufteilung der Stimm-Gruppen. Der Höreindruck gerät in das Spannungsfeld gegensätzlicher Effekte: der Tendenz zur Verschmelzung gleichzeitig erklingender Töne und der Wahrnehmung verschiedener Klangrichtungen, die das Hören individueller Tongestalten begünstigt.
Solche Klangrichtungen sind ein wesentliches Element der kompositorischen Konzeption. In den sieben Abschnitten des Stücks werden verschiedene Aspekte in der räumlichen Disposition des Solo-Instruments und der fünf Orchestergruppen vorgestellt. Im ersten Teil durchlaufen lang ausgedehnte Tonschichten alle fünf Gruppen des Orchesters. Gleichzeitig beginnen die über Lautsprecher vergrößerten Klänge des Solo-Cellos das Publikum zu umkreisen; sie werden von einem Regie-Studio aus von einem Lautsprecher zum anderen gesteuert. Dabei ist der Verlauf der Klangbewegung, die vom Solisten im Zentrum spiralförmig an die Peripherie des Schauplatzes und zu ihm zurückführt, in jedem Moment genau vorgeschrieben.
Der zweite Abschnitt ist ein Solo-Stück für Violoncello, ein Kompendium verschiedener rasch wechselnder Spielweisen, die im dritten Teil auch von den Orchestergruppen übernommen werden und sich hier zu einer immer größeren Menge punktueller Ereignisse verdichten. Die kompositorische Struktur hat damit etwa das Gegenteil des Anfangs erreicht: Eine große Anzahl rasch bewegter Stimmen verschmilzt zu einem erregten, aber im Ganzen stillstehenden Klang. In den folgenden Abschnitten werden beide Prinzipien in wechselnden Konstellationen miteinander kombiniert. Der zentrale vierte Abschnitt, der längste des Stücks, verschmilzt die Tonkreise des Solo-Instruments mit Klanggruppen variabler instrumentaler Charakteristik und Ausdehnung, die trotz ihrer ständig wechselnden Gestalt niemals den Eindruck kontinuierlicher musikalischer Entwicklung erwecken, sondern eher statisch bleiben. Nach diesem Höhepunkt an klanglicher Variabilität werden im fünften Teil klarer begrenzte Gruppenklänge in zeitliche und räumliche Beziehung zueinander gesetzt. Nach den Geräusch-Bändern des kurzen sechsten Abschnitts, in dem auch Streicher und Bläser mit Klappengeräuschen und geschlagenen Saiten wie Schlaginstrumente behandelt sind, wird im letzten Teil noch einmal eine Fülle ungewöhnlicher Spielarten eingesetzt, die offenbar vom Klangreichtum fernöstlicher Musik inspiriert sind: unregelmäßige Glissando-Ketten des Solo-Instruments, reibende Bewegungen auf den Saiten der Streichinstrumente, die geräuschhafte Klänge erzeugen, das Knirschen eines quer über die Saiten gezogenen Bogens. Gleichzeitig werden hier auch die einzelnen Orchestergruppen über Lautsprecher verstärkt und dynamisch variiert.
In den Klangveränderungen der „Hörmusik“ ist der Raum nicht mehr eine sekundäre Bedingung der Aufführung, sondern ein wichtiges Element der Partitur. Ihre Form entsteht aus der räumlichen Verteilung von Klängen, aus ihren zeitlichen Proportionen und dynamischen Gliederungen. Dabei wird der Versuch gemacht, dem Hörer einen größeren Raum für seinen inneren Dialog mit der Musik zu geben. Er folgt nicht einer festgelegten, „zwingenden“ Kommunikationsrichtung, sondern kann seine persönlichen Beziehungen anknüpfen mit den Klangquellen, die ihn allseitig umgeben.
1 Karlheinz Stockhausens Kompositionsstudio „Musik für ein Haus“ bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik Darmstadt 1968 besuchten David Ahern, Junsang Bakh, Gregory Biss, Boudewijn Buckinx, Rolf Gehlhaar, Fred van der Kooy, Mesias Maiguashca, John McGuire, Costin Miereanu, Jorge Peixinho, Thomas Wells , Jaroslav J. Wolf, Clare Franco und Jens-Peter Ostendorf. Sie entwickelten gemeinsam ein Konzept und verschiedene Kompositionen für die Räume des Darmstädter Moller-Hauses, die am 1. September 1968 simultan durch diverse Interpreten – darunter Eberhard Blum, Johannes Fritsch, Vinko Globokar, Heinz Holliger, Saschko Gawriloff, Othello Liesmann, Aloys Kontarsky – aufgeführt wurden. Vgl. Fred Ritzel, „Musik für ein Haus“, Mainz: Schott 1970 (= „Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik“, Bd. XII).
2 Die Gruppe Neue Musik [West-Berlin] wurde 1965 gegründet: Mitglieder waren u.a. Gerald Hummel, Karlheinz Wahren, Wilhelm Dieter Siebert, Roland Pfrengle, Eberhard Blume, Jolyon Brettingham-Smith, Thomas Kessler und bis 1970 Erhard Grosskopf.
3 Erhard Grosskopf: Nexus für Flöte, Percussion und elektroakustische 2-Kanal-Zuspielung op.7. (ad.lib.: optische Elemente von Bernd Damke). Uraufführung: West-Berlin 1968.