Musik und Geographie
BerichtDas 38. DVSM-Nachwuchssymposium an der Folkwang Universität der Künste in Essen, 27.-29. Juni 2025
Musik mag wohl zurecht als die abstrakteste aller Künste bezeichnet werden. Greifbarer wird sie dann, wenn man die lokalen Gegebenheiten ihrer Entstehung versteht, ihre spezifischen kulturellen Kontexte unter die Lupe nimmt und ihre physikalischen Bedingungen, ihre Verortung in Raum und Zeit analysiert. „Fragen zur räumlichen Organisation musikalischen Handelns“, so der Untertitel der Tagung, standen im Fokus des diesjährigen Symposiums des Dachverbands der Studierenden der Musikwissenschaft e.V. (DVSM), ausgerichtet von Mitgliedern des Fachschaftsrates an der Folkwang Universität der Künste in Essen. Innerhalb von drei Tagen hatten Studierende aus dem deutschsprachigen Raum die Gelegenheit, ihre derzeitigen Forschungsvorhaben zu präsentieren, rege zu diskutieren und sich mit Kommiliton:innen aus anderen Instituten zu vernetzen – eine ungemein wertvolle Möglichkeit in Anbetracht der Tatsache, dass man im mittlerweile stark verschulten Studium, zumindest in Deutschland, eher schlecht als recht auf die Arbeitsrealität in Wissenschaft und Musikleben vorbereitet wird.
Heikles Terrain
Dass postkoloniale Theorien insbesondere bei Nachwuchsforscher:innen auf fruchtbaren Boden fallen, zeigten die Vorträge des ersten Tagungstages. Alle drei Präsentationen spürten auf unterschiedliche Weise den musikalischen Konsequenzen nach, die aus der Konfrontation des vom Rest der Welt herausgelösten „Westens“ mit dem konstruierten „Anderen“ entspringen.
Den Anfang machte Florian Käune (Folkwang Universität der Künste) mit einer kritischen Befragung musikwissenschaftlicher Produktionsweisen im Kontext der zeitgenössischen Musik, wobei er eine äußerst sensible Frage berührte: Inwiefern ist es Forscher:innen möglich, in der Rezeption von oftmals stark intellektuell geframten Texten und Äußerungen lebender Komponist:innen Neutralität zu wahren und wissenschaftlichen Standards zu genügen? Als Beispiel diente ein Vortrag von Helmut Lachenmann bei den Darmstädter Ferienkursen 2006, in dessen Rahmen sich der Komponist zu recht undifferenzierten und nach heutigen Maßstäben durchaus problematischen Vergleichen von „europäischen“ und „außereuropäischen“ Musikkulturen hinreißen ließ. Käune demonstrierte, dass Aussagen solcher Art von Musikwissenschaftler:innen in der Sekundärliteratur teilweise unhinterfragt übernommen und in die eigenen Argumentationsstrukturen integriert wurden. Die Ursachen dieses Phänomens liegen bei näherer Betrachtung auf der Hand: Innerhalb des hochgradig akademisch geprägten Konkurrenzfeldes der zeitgenössischen Musik dienen symbiotische Allianzen zwischen Kunst und Forschung der gegenseitigen Affirmation – die Reproduktion einer zugrundeliegenden ästhetischen Legitimationsstrategie ist für beide Seiten häufig lohnender als deren Dekonstruktion. Frank Hentschel spricht in diesem Sinne auch von „Verschwisterungsideologie“. Es bleibt allerdings die Frage, ob Publikationen solcher Art – quasi von Natur aus im Graubereich zwischen Wissenschaft und Journalismus angesiedelt – nach ihrem Objektivitätslevel bewertet werden können und sollten.
In der Besprechung der symphonischen Ode „Le désert“ (1844) des französischen Komponisten Félicien David folgte Julian Bender (Universität Siegen) bei der historischen Einordnung und musikalischen Analyse insbesondere Edward Saids Konzept des Orientalismus und den Schriften Gayatri Chrakravorti Spivaks, aus deren Theorien sich die These ableiten lasse, dass insbesondere der französische Orientalismus des 19. Jahrhunderts, die sogenannte „Türkenmode“, auch als Mittel zur Bändigung des Unbehagens gegenüber dem Unbekannten verstanden werden könne. Davids großformatige Kantate erweist sich allerdings, den erwartbaren exotisierenden Stereotypen zum Trotz, als durchaus komplexes diskursives Gebilde – immerhin war der Komponist selbst für musikalische Feldforschungen im Nahen Osten unterwegs. So zeigt sich, dass genuines Interesse an „fremden“ Kulturen und marginalisierendes Othering oftmals kaum voneinander abgrenzbar sind.
Trotz der gesteigerten Sensibilität gegenüber kolonialen und postkolonialen Verhältnissen findet sich dieselbe janusköpfige Attitüde – zwischen Zelebrierung, Verklärung und kultureller Aneignung oszillierend – auch in der Gegenwart. Anhand der Filmmusik des Marvel-Blockbusters „Black Panther: Wakanda Forever“ (2022) des schwedischen Komponisten Ludwig Göransson untersuchte Nike Lange (Folkwang Universität der Künste) die Integration pseudoauthentischen afrikanischen Kolorits in einem nach wie vor von der Wagner‘schen Leitmotivtechnik geprägten Hollywoodsoundtrack. Bei aller berechtigten Kritik an einer solchen westlich-kulturindustriellen Verwertung des Afrofuturismus und der teilweise arbiträr anmutenden Vermengung diverser afrikanischer Musikpraxen müsse – so die Referentin – auch der Tatsache Rechnung getragen werden, dass der überwiegend mit schwarzen Schauspieler:innen besetzte Film in Afrika mit Begeisterung rezipiert wurde und ein enormes Identifikationspotenzial im Sinne der panafrikanischen Idee bietet.
Musikalische Landkarten
Die anschließende Keynote des Geographen Dr. Christoph Mager (Karlsruher Institut für Technologie) machte deutlich, welche fruchtbaren methodischen Kongruenzen zwischen Musikwissenschaft und Geographie kultur- und sozialwissenschaftlicher Prägung bestehen. Anhand der Begriffe Raum, Ort, Grenze, Landschaft, Stadt und Affekt zeigte Mager ein Panorama seiner Disziplin, die, obgleich von visuellen Medien dominiert, zunehmend auch auditive Prinzipien in den Vordergrund rückt. Seine eigenen Kartografierungen kultureller Phänomene ergänzten sich beispielhaft mit jenen dreier studentischer Beiträge der folgenden Tage: Charlotte Schönebeck (Folkwang Universität der Künste) zeichnete anschaulich die äußerst regen Schulkonzerttourneen des Glasharfenisten Bruno Hoffmann in der Mitte des 20. Jahrhunderts nach, während Celina Böhm (Folkwang Universität der Künste) die Rezeption des rasanten internationalen Erfolgs der „Geschwister Rainer“ durch die damalige deutschsprachige Presse erkundete, die mit ihrem Repertoire aus Tiroler Volksliedern und ihrem alpin-folkloristischen Charme in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sogar an diversen europäischen Höfen für Aufsehen sorgten. Und Niklas Christ (Folkwang Universität der Künste) gab einen historischen Überblick über die Entwicklung der Electronic Dance Music von einer lokalen Undergroundszene in Detroit und Chicago bis zur globalen Kulturindustrie.
Diese geographische Perspektive ist besonders dann für musikwissenschaftliche Fragestellungen relevant, wenn sie Orte nicht nur als neutralen Rahmen verstehen, in dem Musik passiert, sondern deren zentrale Bedeutung und eigene Agency beim künstlerischen Produktionsprozess untersuchen. In diesem Sinne analysierte Luis Cuypers (Folkwang Universität der Künste) die Rolle des Klosters in der Ausformulierung regionaler Choralkompositionstraditionen im Mittelalter. Auch in der damaligen Musiktheorie entstanden lokale Wissenstraditionen. Trafen diese aufeinander, so konnte es mitunter zu merkwürdigen Missverständnissen, aber auch zu produktiven Interferenzen kommen. Frederike Spangenberg (Universität Göttingen) untersucht im Rahmen ihrer Promotion die Rezeption des Universalgelehrten Abū Naṣr Muḥammad al-Fārābī durch spanische Übersetzer im 12. Jahrhundert. Aufgrund der äußert unterschiedlichen kulturellen Kontexte, innerhalb derer die arabische Quelle und die lateinischen Übertragungen angefertigt wurden – mündliche versus schriftliche Tradition, praxisbezogene versus normativ-theoretische Musikauffassung –, könne man nicht von einer direkten Beeinflussung sprechen, sondern eher von einer Neuinterpretation, die zwar durchaus eigene Denklinien herausbilde, den eigentlichen Sinn des Originals aber verfehle.
Nicht nur Kulturräume, sondern auch Medien haben einen erheblichen Einfluss auf die musikalische Produktion bis hin zu einer direkten Prägung der kompositorischen Faktur – selbst bei einer idealistischen Künstlerpersönlichkeit wie Beethoven. Anhand einer Analyse der „Hammerklaviersonate“ konnte Sergei Rymar (Humboldt-Universität Berlin) zeigen, dass sowohl die Wiener Prellzungenmechanik mit ihrem brillanten und leichtgängigen Diskantregister als auch die neuere englische Klavierbauweise mit klarem Bass und größerer dynamischer Bandbreite mit bestimmten Passagen des Werkes assoziiert werden können, die auf dem jeweils anderen Instrumententypus nur unzulänglich interpretierbar gewesen seien – ein Widerspruch, der sich erst mit dem Aufkommen des modernen Konzertflügels lösen ließ.
Klingende Räume
Während immerhin einige Instrumente dieser Zeit bis heute erhalten sind und somit für akustische Forschungen zur Verfügung stehen, sieht es bei Aufführungsstätten oftmals ganz anders aus. Wie lässt sich ein authentischer Eindruck der noch jungen bürgerlichen Konzertkultur gewinnen, wenn von den Räumen lediglich Baupläne und Randnotizen in Presseberichten überliefert sind? Dieser Frage widmet sich das deutsch-österreichische Forschungsprojekt „Das Konzertleben in Wien 1780–1830. Aufführungen, Aufführungsräume und Repertoire“, präsentiert von Meret Lu Stellbrink (Technische Universität Berlin). Dabei werden unter anderem akustische Simulationen von 3D-Computermodellen erstellt und deren Ergebnisse mit den relativ seltenen Erwähnungen konkret raumakustischer Eindrücke in zeitgenössischen Rezensionen abgeglichen.
Die Entwicklungen des 20. Jahrhunderts, insbesondere das Aufkommen elektronischer Massenmedien und die plötzliche Akzeleration menschlicher Mobilitätsoptionen durch moderne Fortbewegungsmittel, verändern die Wahrnehmung musikalischer Topographien fundamental: Distanzen werden relativ, Informationen zirkulieren mit Lichtgeschwindigkeit, Räume materialisieren sich zunehmend in imaginären Bilderwelten. Hollywood produziert den Mythos Amerika, und dessen Symbol, so Lily Hußmann (Universität zu Köln), ist das Automobil als Vehikel der Freiheit, als nostalgische Projektionsfläche, als Ort der Intimität und nicht zuletzt als individueller musikalischer Hörraum. Anhand des Musikfilms „Grease“ (1978), in dem die Transformation einer alten Karre in einen schmucken Rennwagen metaphorisch für das Coming-of-Age seiner Protagonist:innen steht, zeigte Lily Hußmann eindrücklich, wie die Traumfabrik Hollywood mittels Sounddesign die 1950er Jahre als Goldenes Zeitalter des Rock’n’Roll und der Jugendkultur verklärt.
Insgesamt demonstrierte das Symposium, welche methodische und inhaltliche Vielfalt mittlerweile in der ursprünglich recht konservativen und isolationistischen Musikwissenschaft herrscht. Die Freude der Nachwuchsforscher:innen an interdisziplinärer Arbeit und deren Bereitschaft, die eigene Disziplin kritisch zu hinterfragen und gegebenenfalls neu zu denken, sind äußerst positive Zeichen in Zeiten schwindender Studierendenzahlen, Institutsschließungen und des politischen Drucks, der generell auf den Geisteswissenschaften – Stichwort „Systemrelevanz“ – lastet. Eine solche Veranstaltung lässt hoffnungsvoll in die Zukunft blicken – und die nächste Tagung kündigt sich schon an: vom 10. bis 12. Dezember 2025 an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien.