Prosaisch poetisch
BerichtDas Kammerensemble hand werk spielt Stücke von Claren, Maierhof, Marhulets und anderen
Täglich bewegen wir uns in Räumen verschiedener Größe, Bauweise, Funktion, Einrichtung, Abnutzung und mit jeweils anderer Luft, Temperatur, Ausstrahlung, Akustik, Aura und Atmosphäre. Alle diese Faktoren beeinflussen das Wohlbefinden, werden meist aber gar nicht bewusst wahrgenommen. Wie der Film ist Musik eine Zeitkunst. Doch im Gegensatz zum Bild, das Räumlichkeit auf flacher Leinwand nur perspektivisch vorgaukelt, entfaltet sich Klang immer räumlich zwischen Schallquellen und Ohren, wie gering diese Distanz auch sein mag. Im Unterschied zum Film kreiert Musik – manchmal wie beim Dolby-Surround-Sound im Kino – ihren ganz eigenen Klangraum. „RAUME“ betitelte das Kammerensemble hand werk das jüngste Konzert seiner Reihe in der Alten Feuerwache Köln. Der fehlende Umlaut im Plural irritiert. Ein Versehen? Absicht? Oder eine ebenso verunglückte Dedikation im Besonderen wie Allgemeinen: gewidmet dem Raume? Die orthografische Störung bleibt nicht die einzige. Im Verlauf des Konzerts folgen weitere Irritationen in Bild und Ton.

Totes belebt
Wie alle Konzerte der sechsköpfigen Formation für Kammermusik ohne Dirigat verband das aktuelle Programm fünf Stücke durch ein klares dramaturgisches Konzept zu einem audiovisuellen Gesamtablauf. Weil die benötigten Settings an verschiedenen Stellen der Bühne bereits fertig aufgebaut waren, erübrigten sich zeitraubende Umbauten und es entstand ohne Konzentrationsverlust und Applaus-Unterbrechung ein ebenso pausenloser wie abwechslungsreicher Spannungsbogen. Schon vor dem ersten Ton sah man auf großer Videoleinwand ein Fenster projiziert. Mit Beginn von Sebastian Clarens „Fehlstart [Detail]“ von 1999 ging es dann ins Innere eines Wohnraums mit Zimmerpalme und flatternden Plastikfolien über einer Couchgarnitur. Das an sich statische Foto wurde durch wechselnde Ausschnitte und Helligkeit bewegt. Bei leisen Stellen verengte es sich zu einem schmalen Schlitz in der Mitte, als würde von beiden Seiten ein schwarzer Vorhang zugezogen. Mit zunehmender Dynamik vergrößerte sich der Bildausschnitt dagegen bis zur vollen Projektionsfläche. Da Clarens Stück aus Pulsationen zwischen zarten Tupfern und knallenden Tutti-Akkorden besteht, tanzte das Video regelrecht im Rhythmus des Dynamikverlaufs.
Damian Marhulets zeigt dazu virtuelle Räume. Man sieht Zimmer mit Lampen, Topfpflanzen, Tischen, Sesseln, auch leere Räume nur mit Fenstern, Tapeten, Heizkörpern, oder Flure, Gänge, Treppenhäuser, Wasserbecken. Surreal belebt werden die realistischen Ansichten durch wechselnde Perspektiven, Beleuchtung und Wind. Wandernde Lichtkegel und Schatten verformen Objekte und Wände. Wie von Gespensterhand flattern Gardinen, Tischdecken, Teppiche, Folien, Pflanzen, zuweilen auch Laub, Staub und Sand. Die KI-generierten Räume kennen in Wirklichkeit überhaupt keine Außenwelt jenseits des Computerprogramms und scheinen dennoch von Licht und Luft durchflutet. Marhulets gestaltet vertraute Umgebungen, die existieren könnten, deren Alltäglichkeit er jedoch zugleich durch seltsame Licht- und Farbgebung als unwirklich und artifiziell entlarvt. Genau wegen dieser Mischung aus vertraut und fremd wirken die Bilder beunruhigend. Statt wohnlicher Räume sind es unheimliche „RAUME“, menschenleere Orte wie im Traume.
Expertise fachfremd
Bára Gísladóttirs „tif“ von 2015 für Klarinette, Klavier, Violine und Violoncello beginnt mit wuchtigen Klavieranschlägen, die sich schnell in eine insektenhafte Knisterwelt zurückziehen, die Geigerin Jae A Shin und Cellist Niklas Seidl mit feinsten Akzente hervorbringen. Zur Musik der isländischen Komponistin und Kontrabassistin zeigt Marhulets eine bewegte Wasserfläche mit libellenhaft daraus hervorschwirrenden Funken. In Hanan Hadžajlićs „Hardcore: beyond the transneural machine“ von 2019 verschmelzen Klarinettistin Heni Hyunjung Kim, Pianist Thibaut Surugue am Keyboard und Cellist Seidl ihre Partien zu einer Art neuem Hyperinstrument. Bei Manuel Rodríguez-Valenzuelas „T(t)-Blocks D“ von 2014 bespielen Flötist Daniel Agi, Schlagzeuger Moritz Koch und Cellist Seidl elektrische Schreibmaschinen mit genau vorgeschriebenen Anschlägen, Repetitionen und Zeilenwechseln, die über Lautsprecher verstärkt werden. Der 1980 geborene Spanier zeigt dazu ein eigenes Video in drei Segmenten, in denen sich Lettern und Typen zu fantastischen Mustern, Symmetrien und rotierenden Rosetten vervielfältigen.
Seit Gründung 2011 hat sich hand werk zur Aufgabe gemacht, ausgewählte Kompositionen der letzten zwanzig Jahre wiederaufzuführen. Die „Pierrot“-Stammbesetzung mit Flöte, Klarinette, Klavier, Violine und Violoncello plus Schlagzeug möchte Stücken eine zweite Chance geben, die nach den Uraufführungen zu Unrecht verschwanden. Vor allem will man dem im Konzert- und Festivalbetrieb verbreiteten Zwang zur Präsentation immer neuer Kompositionen entgegenwirken und stattdessen zur Bildung eines Repertoires herausragender Werke der letzten Dekaden beitragen. Gerne und häufig agiert das Ensemble szenisch, theatral sowie jenseits seines angestammten Instrumentariums mit diversen Materialien, Objekten, Medien und Bewegungsabläufen. Ganz unabhängig davon, was die sechs exzellenten Musiker:innen anfassen und machen, sie tun es hoch konzentriert mit großer Musikalität, Intensität, Präsenz und Ausstrahlung.
Alltäglicher Zauber
Bereits mehrfach brachte hand werk Stücke von Michael Maierhof zur Aufführung. Der 1956 in Fulda geborene und seit seinem Studium in Hamburg lebende Komponist verlangt meist spezielle Aufbauten, Präparationen und Gerätschaften. Seine „Specific Objects“ von 2012 erfordern eigenes handwerkliches Geschick. An vier Tischen wird zunächst nur Licht rhythmisch ein- und ausgeschaltet. Auf erleuchteten Objekten erzeugen vier Mitwirkende dann mit kleinen Vibratoren höchst vielfältige und differenzierte Klänge. Man hört zartes Zirpen, vielstimmiges Sirren wie von einem Bienenschwarm und metallisches Kreischen wie von einem bremsenden Güterzug. Gleichzeitig werfen rotierende Scheinwerfer ein lebhaftes Farben-, Licht- und Schattenspiel auf die Leinwand hinter den Ausführenden. Die seltsame Heimarbeit bleibt zwar rätselhaft, folgt aber streng formalisierten Abläufen mit stets nachvollziehbarer Kausalität von Aktion und sicht- und hörbarer Wirkung.
Welche Apparate auf welche Weise mit welchem Effekt bedient werden, lässt sich erst nach Ende des Konzerts bei nüchterner Saalbeleuchtung erkennen. Mit je zwei elektrischen Zahnbürsten samt flachen Plättchen als Aufsätzen traktierten die vier Spielenden jeweils PET-Wasserflaschen, die durch Lampen wie futuristische Apparaturen aufleuchteten und durch kleine Löcher verschiedene Tonhöhen über Mikrophone verstärkt hörbar machten. Zudem kreisten je zwei Zahnbürsten mit einem LED-Scheinwerfer auf den Arbeitsplatten, so dass rotes, blaues und grünes Licht auf die Mitwirkenden und in den Konzertsaal strahlte. Wer das Setting nach dem Konzert in Augenschein nahm, war doppelt verwundert. Der Ernüchterung über die Einfachheit und Alltäglichkeit der verwendeten Mittel folgte umso größeres Erstaunen über die Varianz, Komplexität und Poesie der sicht- und hörbaren Ereignisse, die sich mit diesen profanen Gegenständen gestalten ließen. So fügte sich am Ende alles harmonisch zur Gleichung: Alles kann neue Musik sein – und neue Musik kann alles sein!