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Galen Tipton & Shmu: „dewCLAWS“

dewclaws
artwork: Mas Guerrero

Es ist nicht verwunderlich, dass die jüngsten Schaltkreise, Ökosysteme und Subgenres der postdigitalen und aktuellen elektronischen Musik immer wieder zu den gleichen Mitteln zurückkehren: frenetische Musik mit exakten und gestotterten Rhythmen, autotune-gesättigte Vocals und Melodielinien, der völlig chaotische und zerhackte Einsatz von Samples sowie abrupte Stilwechsel und simulierte Räume. Die Szene rund um die PC-Musik liegt definitiv im Sterben, aber ihr Vermächtnis hallt noch immer in jeder Club- und Popszene nach, sowohl im Untergrund als auch im Mainstream.

Galen Tipton ist Produzentin, Sängerin und DJ, die sich seit langem als eine der einfallsreichsten Stimmen der elektronischen Musik, der Klangcollage und des Glitch-Pop profiliert hat. Beeinflusst von experimentellen Vorreiter:innen wie SOPHIE und Iglooghost, hat sich Tipton darauf spezialisiert, komplizierte, unvorhersehbare Rhythmen mit einem unverwechselbaren, taktilen Sounddesign zu kreieren, das fesselnd bleibt, auch wenn der Höhepunkt seiner Popularität bereits überschritten ist. Ihr letztes Album war ein gemeinsames Projekt mit death’s dynamic shroud.wmv, „You Like Music“ (Ghost Diamond, 2024), eine laute, kühne, chaotische Platte, die sowohl unheilvoll online als auch unglaublich eingängig klingt, aufgebaut auf atemberaubenden Grooves, abgehackten und verschraubten Samples, energiegeladenen Impulsen und unerbittlichen Klangimpulsen.

Jetzt hat sich Tipton mit Shmu zusammengetan, einem innovativen Produzenten von progressiver Elektronik und Glitch Ambient mit einer Vorliebe für die verrückten und psychedelischen Grooves elektronischer Fantasie, um „dewCLAWS“ (Orange Milk, 2025) zu schaffen. Das Album ist ein maximalistisches Abtauchen in Footwork, dekonstruierten Club, Bubblegum-Bass, spacige und glitchige Stimmeinlagen und liefert uns eine der bisher wildesten Pop-Platten des Jahres. Jede Harmonie wird durch Schichten von granularen Sounds, bizarren Lasern und ansteckenden AI-Vocals (vielleicht: Charli XCX Dream Track AI Vocals von YouTube?) versüßt. Das Album versammelt auch eine ganze Reihe von Produzent:innen und Künstler:innen, um die Klangpalette noch zu erweitern, wie die Bubblegum-Beats von Ko T.C. auf „⚔️knights fka nosferatu 🧛🏻‍♂️“ und Hakushi Hasegawa, der der Leadsingle „猫額 Byōgaku🐱“ seine charakteristische Mischung aus Jazz und J-Pop-infizierter Produktion verleiht.

„dewCLAWS“ ist dicht. Es passt perfekt in den Katalog von Orange Milk, einem Label, das für seine digitale Avantgarde der 2010er Jahre mit Künstler:innen wie Machine Girl, Giant Claw, Nmesh und vielen anderen bekannt ist. Das Album verzichtet bewusst auf eine traditionelle Dramaturgie: Es gibt keine Entwicklungen auf einzelne Höhepunkte zu oder Momente von vorausgeplanter Katharsis. Jeder Track ist eine in sich geschlossene Überladung, eine schwindelerregende Kollision von mechanischen Retro-Rhythmen und zeitgenössischem Chaos (und doch gibt es inmitten der Überladung Momente süßer Zärtlichkeit wie in den schmerzenden Synthesizern der ersten Hälfte des Schlusstracks „🎆🌌🌉Fantasia Hyperion🌉🌌🎆“). In einer Zeit von Algorithmen dominierter Streaming-Dienste, in der jeder Song seine Existenz sofort rechtfertigen muss, ohne sich auf größere narrative Zusammenhänge zu stützen, behauptet sich dieses Album mit unapologetischer Intensität. Es verlangt danach, kompromisslos und in Gänze gehört zu werden.

Die Einflüsse auf diesem Album sind zu zahlreich, um sie aufzuzählen, und es ist die Art von Album, bei der sich wiederholtes Anhören lohnt, da einfach zu viel passiert, als dass man es beim ersten, zweiten oder sogar fünften Hören heraushören könnte. Ein Nonstop-Thrill-Ride von Anfang bis Ende und einer der dichtesten Kreativitätsschübe, die die elektronische Musik in diesem Jahr zu bieten hat. Experimentelle Musik, die die Unmittelbarkeit des Pop beibehält, ohne in die Selbstgefälligkeit der leeren Spielereien zu verfallen. In einem musikalischen Ökosystem, das mit Querverweisen und algorithmischer Nostalgie gesättigt ist, lehnt „dewCLAWS“ die Überreizung nicht ab, sondern blüht in ihr auf.

Auch lohnend:

Death’s dynamic shroud.wmv & Galen Tipton – „You Like Music“ (Ghost Diamond, 2024)

Galen Tipton – „Clean Dreams“ (Self-Released, 2024)

Shmu – „Diino Power: Plastiq Island“ (Orange Milk, 2023)

Hakushi Hasegawa – „Mahōgakkō“ (Brainfeeder, 2024)