Klassische Musik zu Kriegszeiten in der Ukraine
EssayEin Akt des kulturellen Widerstands oder die Herausbildung eines neuen Diskurses?
Ein typischer Tag kulturbegeisterter Ukrainer:innen folgt einem fast unverrückbaren Rhythmus: Morgenkaffee, tagsüber Arbeit und abends Freizeit – Letzteres bedeutet oft den Besuch von Konzerten in der Philharmonie oder von häufig ausverkauften Aufführungen in den Schauspielhäusern, die in den letzten drei Jahren einen starken Aufschwung erlebt haben. Nachts jedoch nimmt das Leben eine gespenstische Qualität an: kein orchestrales Fortissimo, sondern nur ein Sforzando, das im eigenen Herzschlag widerhallt. Die Menschen haben gelernt, im Klang der nahenden Waffen Klangfarbe und Tempo zu erkennen und sogar eine Art tonaler Strukturen zu unterscheiden.
In einem Land, in dem seit mehr als zehn Jahren Krieg wütet –und in dem die letzten drei Jahre beispiellose Zerstörungen mit sich brachten, könnte man erwarten, dass die klassische Musik zu einem Banner des Heldentums geworden ist, zu einem Symbol der Widerstandsfähigkeit, reduziert auf neue Hymnen oder Klagelieder zum Gedenken an die Gefallenen. Was jedoch selbst die Ukrainer:innen überrascht, ist die Vielfalt der Themen, Genres und Formate, die in der zeitgenössischen Musikszene auftauchen, neben dem außergewöhnlichen Engagement der vielen Interpret:innen, Komponist:innen, Musikwissenschaftler:innen und Kulturmanager:innen, die in der Ukraine leben und arbeiten.
Trotz einer insgesamt düsteren Stimmung erlebt die ukrainische Kultur eine unbestreitbare Renaissance. Aber was hat der Krieg aus ihr gemacht – ein Werkzeug des Widerstands oder eine Wiederbelebung von Tradition?

Der Weg zur Anthologie
Ein starkes Beispiel ist das jüngste Konzert der „Anthology of Ukrainian Symphonic Miniatures“, das am 25. April in der National Philharmonic of Ukraine in Kiew in Zusammenarbeit mit dem „Kyiv Music Premieres of the Season“-Festival für neue Musik stattfand. Das Programm bot seltene Einblicke in ukrainische Musik noch aus Zeiten vor dem Krieg 2014.
Von der Ouvertüre zu Dmytro Bortnianskyis Oper „Falcon“ über die romantische Symphonie Nr. 1 von Mykhailo Verbytskyi bis hin zu impressionistischen Werken von Fedir Yakymenko („Gondolier's Dream“, „Nocturne“) stand „Signs“, eine Komposition von Hanna Havrylets im Fokus. Die Komponistin verstarb am 27. Februar 2022 in einem Kiewer Hochhaus an einem schockbedingten Herzversagen angesichts der Sirenen und Explosionen. Ihre symphonische Dichtung reflektiert die Ereignisse des Euromaidan in 2014 („Revolution der Würde“), die sie an ihrer Alma Mater, der „National Music Academy of Ukraine“, hautnah miterlebte. Das Werk klingt wie der Nachhall einer vergangenen Epoche: Auf typisch spätromantische Weise vermischt sich vergangenes Elend mit einer Art naivem Optimismus, unruhig Richtung Hoffnung weisend. Diese Art von Musik fand innerhalb der engen Grenzen statt, die kulturellem Austausch gesetzt waren. Doch nach 2014 begann sich die Situation zu ändern.
Die im Konzert präsentierten Stücke waren Teil einer größeren Initiative des „Ukranian Institute“, einer staatlichen Institution zur Förderung der nationalen Kultur im Ausland. 2024 veröffentlichte das Institut auch die „Anthology of Ukrainian Contemporary Symphonic Miniature“, eine frei zugängliche Sammlung von acht Kompositionen aus den Jahren 2009 bis 2023, geschrieben von zwei promintenten Persönlichkeiten: Bohdana Frolyak aus Lviv und Yevhen Petrov aus Kiew.

Symphonische Musik ist das Herzstück von Bohdana Frolyaks Schaffen (übrigens die Schwester von Hanna Havrylets). Durch strukturelle Feinheiten und expressive Nuancen formt sie in ihren Werken ein Netz aus Symbolen, die ihre zentrale künstlerische Idee zum Ausdruck bringen – die Suche nach Licht durch Musik. Ihre Kompositionen versuchen, Momenten spiritueller Erleuchtung Gestalt zu geben, die in einer Katharsis kulminieren, sei es in dramatischen oder epischen Formen. Diese Höhepunkte entfalten sich mittels nahtloser orchestraler Texturen, sorgfältig ausgearbeiteter Klangfarben und erweiterter Spieltechniken, geprägt von Präzision und Zurückhaltung.
Frolyaks künstlerische Reise begann in einem kleinen Dorf in der Nähe des Flusses Prut, ein Ort, den sie noch immer jeden Sommer besucht. Sie studierte bei Vasyl Kufliuk, einem Schüler von Janusz Korczak, der vor dem Zweiten Weltkrieg aus Warschau zurückkehrte und im ländlichen Vydyniv blieb. Dort entwickelte er eine Methode zur Ausbildung des absoluten Hörens bei Kindern, wobei er sich stark auf regionale Volksmusiktraditionen stützte. Frolyaks Musik ist zwar tief in dieser Folklore verwurzelt, integriert die Tradition aber auf eine völlig neue Art und Weise.
Zu den führenden ukrainischen Komponisten der mittleren Schaffensphase gehört Yevhen Petrov, bekannt für seine Auseinandersetzung mit verschiedenen Formen von Polystilistik. Sein Werdegang spiegelt sowohl die nationale als auch die internationale Entwicklung wider und ist von einer entschieden staatsbürgerlichen Haltung geprägt: Kurz nach Beginn der Invasion trat Petrov in die Streitkräfte ein. Er setzte seine Ausbildung in zeitgenössischer Komposition fort und erhielt 2008 ein Stipendium der „Gaude Polonia“, das er an der Krakauer Musikakademie bei Zbigniew Bujarski absolvierte. Die Auseinandersetzung mit akustischer Musik einerseits und elektroakustischer Musik andererseits hat seinen Stil tief geprägt. Sein Werk „Gravity“ (2023) wurde vom Pohoda Festival (Slowakei) in Auftrag gegeben. Darin verbindet Petrov Techniken des Sound-Processing mit ukrainischen Volksmusikelementen. Seine Musik ist von geometrischer Klarheit geprägt und vereint konsequent konzeptionelle Tiefe, technologische Raffinesse und nationale Erinnerung.

Ein Höhepunkt des Aprilkonzerts war die ukrainische Erstaufführung von „Domi Res Militaris“ des jungen Komponisten Yurii Pikush, 2024 in Auftrag gegeben vom Festival Warschauer Herbst und dem Adam-Mickiewicz-Institut, für die Basel Sinfonietta. Es hat in Polen und der Schweiz großen Eindruck hinterlassen und rief beim Kiewer Publikum eine eindringliche Vertrautheit hervor.
Anna Dębowska schrieb in der „Gazeta Wyborcza”: „Pikushs Musik hatte etwas von einer Klanglandschaft, sie war eine Synthese vieler starker, subjektiver Eindrücke, die der Künstler zu Beginn des Krieges gehabt haben könnte. Diese Musik ist so kommunikativ und suggestiv, dass sie die emotionale Temperatur schrecklicher Erlebnisse auf die Vorstellungskraft und Sensibilität der Zuhörer:innen übertragen konnte.”
Internationale Kollaborationen und Musik über den Krieg
Junge ukrainische Komponist:innen werden in der europäischen Festivallandschaft immer sichtbarer. Im Sommer 2023 veranstaltete das Ensemble Proton Bern (Schweiz) ein Konzert mit Auftragswerken für experimentelle Instrumentalmusik von Denys Bocharov, Katarina Gryvul, Yana Shliabanska, Maksym Kolomiiets und Yurii Pikush. Im Herbst 2023 fand in Zusammenarbeit mit dem wiederbelebten ukrainischen Ensemble für neue Musik, Nostri Temporis (gegründet 2007), ein großes Konzert im Rahmen der 19. Tage der Neuen Musik Bamberg statt. Auf dem Programm standen Werke der ukrainischen Komponist:innen Denys Bocharov, Leonid Hrabovskyi, Vitalii Vyshynskyi, Bohdan Sehin, Anastasiia Lozova und Olena Ilnytska sowie Uraufführungen von Danylo Hetman und Yurii Pikush, beides Auftragswerke des Ensembles.
Nach diesem Erfolg wurde das Ensemble Botschafter des COURSE-Projekts – der zehnten Ausgabe der internationalen Meisterkurse für neue Musik der Nationalen Philharmonie Lviv. Kofinanziert durch das EU-Programm „Creative Europe“ war zum ersten Mal eine ukrainische Institution Teil der „Ulysses-Plattform“. Ein weiteres Kollektiv der Philharmonie, das sich für neue Musik einsetzt, ist das Sinfonieorchester INSO-Lviv. Während des Krieges hat es neue Werke ukrainischer Komponist:innen in Auftrag gegeben, darunter Ivan Nebesnyis „Path to Heaven“ und „High Castle“, die siebte Sinfonie des in Deutschland lebenden Yevhen Orkin.


Im Rahmen eines offenen Wettbewerbs von August 2024 bis März 2025 wurden aufstrebende Komponist:innen bei COURSE ausgewählt, um in enger Zusammenarbeit mit den Interpret:innen und in Begleitung der Mentor:innen Alla Zagaykevych, Luxa (DE) und Sławomir Wojciechowski (PL) Werke für Kammerensemble zu schreiben. Die neuen Stücke von Yelyzaveta Voloshyna, Anna Hurina, Maksym Ivanov, Denys Kucher und Fedor Pershko wurden schließlich vom 17. bis 22. Februar uraufgeführt. Im Zuge dessen konnten die jungen Komponist:innen ihrer Kreativität auch in Gesprächen und Performances Ausdruck verleihen.
Im Mittelpunkt des Programms stand die Sopranistin und Komponistin Viktoriia Vitrenko mit einem Vortrag über ihr erstes Soloalbum LIMBO, veröffentlicht beim Label Kyiv Dispatch. Vitrenko ist nicht nur Interpretin des Albums, sondern auch Pianistin, Konzeptautorin und Initiatorin der meisten Stücke, die auf dem Album zu hören sind. Das neue Label „Kyiv Dispatch“ wurde von der ukrainischen Kunstformation UKHO gegründet.


Die in Deutschland ausgebildete Vitrenko ist bereits auf zahlreichen renommierten Bühnen in Europa aufgetreten. Während der Veranstaltung in Lviv spielte sie Auszüge aus ihrem Album, erläuterte dessen Konzept und demonstrierte die verwendeten Gesangstechniken. In LIMBO sind Werke von fünf Komponist:innen zu hören: Agata Zubel, Alla Zagaykevych, Yin Wang, Sven-Ingo Koch und Maksym Shalygin. Die Platte ist Vitrenkos enger Freundin, der weißrussischen Flötistin und politischen Gefangenen Maria Kalesnikava gewidmet. Obwohl sehr persönlich, hat das Album doch eine kollektive Botschaft: LIMBO ist eine Reflexion über die entscheidenden Ereignisse unserer Zeit – entstanden im Frühjahr 2021 inmitten globaler Unsicherheit, Protest, Unterdrückung und dem Kampf um Freiheit.
Krieg bleibt ein unvermeidliches Thema in der Musik. Die Komponistin Olena Ilnytska, Bewohnerin der Villa Concordia (2023), floh zu Beginn der Invasion aus Kiew nach Frankreich. Lange konnte sie nicht komponieren. „Es fühlte sich an, als ob sich mein Gehirn in eine Eichel verwandelt hätte“, erinnert sie sich. Durch die Ermutigung der ukrainischen elektroakustischen Komponistin Alla Zagaykevych und des französischen Professors für elektronische Musik, Gino Favotti, erhielt sie Zugang zu einem Studio, in dem sie „Univers vivant“ schuf, uraufgeführt in Paris und später präsentiert in Kiew und Lviv.
Auf Einladung des Dirigenten Roman Rewakowicz schrieb Ilnytska im November 2022, zum Abschluss des Festivals „Days of Ukrainian Music in Warsaw“, ein Stück für Vokalsextett und Sinfonieorchester mit dem Titel „To Victory“. In die Orchestrierung integrierte sie ukrainische Zimbeln. Der emotionale Kern des Stücks ist „Plyve Kacha“, das Ilnytska als Symbol für ihre eigenen Erfahrungen beschreibt: "Ich habe all unsere Revolutionen auf dem Maidan persönlich miterlebt."

Die Orgelhalle in Lviv ist seit kurzem mehr als nur ein Veranstaltungsort – sie ist Ausgangspunkt für eine neue, vom Krieg geprägte Sinfoniekultur. Die Sinfonie Nr. 3 „Victorious“ (2024) von Zoltan Almashi, die Sinfonie „Krieg und Hoffnung“ (2024) von Dmytro Malyi und „Resilience“ (2024) von Oleh Bezborodko sind keine rein akademischen Übungen, sondern emotionsgeladene Manifeste, die die ukrainische Erfahrung durch die Erhabenheit der traditionellen sinfonischen Form widerspiegeln. Ein weiteres bedeutendes Werk wurde im April 2022 in besagter „Lviv Organ Hall“ uraufgeführt: die Gran[D]-Opera „The Art of War“, inspiriert von der klassischen chinesischen Militärabhandlung „The Art of War“ von Sun Tzu, verwoben mit Reflexionen über die Geschehnisse im Land. Das Stück stammt von Serhii Vilka, wurde von Bohdan Polischuk inszeniert und vom Sed Contra Ensemble & NOVA OPERA aufgeführt, bekannt für ihren Einsatz von Improvisation und erweiterten Spieltechniken.
Ebenso ergreifend ist das „Concerto Grosso with Positive“ (2023) für Chor, Solist:innen, Streicher, Cembalo, Theorbe und Portativorgel von Yevhen Petrychenko. Das Libretto basiert auf Gedichten von Viktoria Amelina und Volodymyr Vakulenko – beide im Krieg gefallen – sowie auf Versen von Roman Melish, Oleksandr Kozynets und Nadija Kosarevych. Neben der Aufführung beim „Kyiv Music Fest“ wurde das Werk auch beim „Contrasts International Festival of Contemporary Music“ in Lviv präsentiert. In Zusammenarbeit mit dem Barockensemble, das für seine historisch informierten A ufführungen bekannt ist, gewann das Stück an emotionaler und ästhetischer Tiefe. Die Kritik hob seine therapeutische Kraft hervor.
Roman Hryhoriv ging sogar noch einen Schritt weiter und präsentierte drei neue Werke, die um das Metallgehäuse einer Streubombe eines russischen Uragan MLRS herum angeordnet waren, aufgeführt durch das Kyiv Kamerata Kammerorchester. Eine Rakete wird zu einem Musikinstrument ...

Inzwischen wurden außerdem Aufnahmen vieler ukrainischer Werke des 20. Jahrhunderts zum ersten Mal produziert. So verantwortete das deutsche Label ARS Produktion ein Album mit den wichtigsten Klavierkonzerten von Borys Liatoshynskyi und Viktor Kosenko, gespielt vom Symphonieorchester der Philharmonie Lviv und der Pianistin Violina Petrychenko unter der Leitung von Volodymyr Syvokhip. Eine weitere Veröffentlichung umfasst Streichquintette von Lyatoshynskyi und Vasyl Barvinskyi, gespielt von Petrychenko und dem Phoenix Quartett. Im Sommer 2024 erhielt die unabhängige Plattform „Open Opera Ukraine“ den REMA-Preis für das „Heritage Project of the Year“ für ihr Album „Ukrainian Baroque: Concordacii Animos“.
Wo wird ukrainische Musik aufgeführt?
BERLIN-KYIV INTERSECTIONS
Die Wiederbelebung lange verstummter Figuren wurde fortgesetzt. Zum Anlass des 280. Geburtstags des Komponisten Maksym Berezovskyi fand am 23. Februar dieses Jahres im Berliner Dom ein Konzert mit dem Titel „Bach/Berezovsky: Ukrainische Entdeckungen aus dem Archiv der Singakademie zu Berlin" statt. Das Projekt wurde von der ukrainischen Dirigentin Olga Prykhodko (Ensemble Alter Ratio) und Christian Filips, Programmdirektor der Sing-Akademie, mit Unterstützung des Ukrainischen Instituts initiiert.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das "Bach-Archiv" nach Kiew verlegt und kehrte 2001 nach Deutschland zurück, beherbergt von der Singakademie. 2022 erhielt Olga Prykhodko Zugang und stieg in die Arbeit an der legendären, inzwischen fast drei Jahrhunderte alten Akademie ein.
Filips bemerkte: "Leider hatten wir bis 2021 nie ukrainische Musik aufgeführt. In jenem Jahr, zum 20. Jahrestag der Rückkehr des Archivs nach Berlin, wollten wir der Ukraine danken und uns auf die Werke Berezovskys konzentrieren, dessen Manuskripte in Kiew verblieben. Wir begannen, Beziehungen zu ukrainischen Musiker:innen aufzubauen. Dann änderte der große Krieg alles."
Später im Jahr 2023 führte die von Prykhodko geleitete zeitgenössische Band Alter Ratio das Programm „Lux aeterna. Psalms of the Fall“ in Kiew auf. Neben einer historischen ukrainischen Erstaufführung von György Ligetis „Lux Aeterna“ (anlässlich seines hundertsten Geburtstags) standen Auftragswerke der ukrainischen Komponist:innen Maksym Kolomiiets, Maksym Shalyhin, Alla Zagaykevych und des bulgarischen Komponisten Peter Kerkelov auf dem Programm. Jedes neue Werk, das für Vokalensemble und Elektronik geschrieben wurde, war ukrainischen Künstler:innen gewidmet, die im Krieg gefallen sind. Bei der Aufführung von Ligetis Stück durch Alter Ratio wurden anstelle von Live-Sänger:innen vier voraufgenommene elektronische Stimmen verwendet, die die Abwesenheit der verlorenen Stimmen symbolisierten.


Zeitgenössische ukrainische Musik fand auch in Berlin Anklang. Im Frühjahr 2025 präsentierten das Ensemble KNM Berlin und die Kyiv Contemporary Music Days (KCMD) ein vielseitiges Programm aus Konzert, Ausstellung und Party. Unter dem Motto „re.construction“ wurde erforscht, wie künstlerische Gemeinschaften über Grenzen hinweg Solidarität aufbauen können. Teil III bestand aus Auftragswerken der ukrainischen Komponist:innen Albert Saprykin, Alexey Shmurak, Renata Sokachyk und Alla Zagaykevych, präsentiert von KNM und Gästen.
Eine weitere gemeinsame Initiative, „tvvo:id“, startete im November 2024 als Zusammenarbeit der Klangwerkstatt Berlin mit dem KCMD, unterstützt durch das Goethe-Institut. Im Rahmen des Projekts wurden Werke ukrainischer Komponist:innen in einem einzigartigen Format aufgeführt: eine Live-Aufführung in Berlin durch den Klarinettisten Theo Nabicht, gepaart mit einer vorab aufgezeichneten Aufführung in Kiew durch den Kontrabassisten Nazarii Stets. Dieses asynchrone Duett symbolisierte den bruchstückhaften, aber unverwüstlichen musikalischen Dialog über die Grenzen des Krieges hinweg. Das Konzert umfasste Werke von Anna Arkushyna, Albert Saprykin und Ihor Zavhorodnii, die sich alle mit der krisenbedingten Zerbrechlichkeit menschlicher Beziehungen befassen.

Die Initiativen von KCMD gehen über reine Aufführungen hinaus. Ihr Portfolio der wichtigsten Akteure der neuen Musik in der Ukraine verbindet Konzertagenturen, Künstler:innen, Ensembles, Medien und Komponist:innen mit potenziellen Partner:innen weltweit.
Mit ihrer Unterstützung wurde auch das „Ensemble 24“ gefördert, ein in Kiew ansässiges Kollektiv aus Studierenden und Absolvent:innen der Nationalen Musikakademie. In Verbindung mit Freiwilligenprogrammen für Jugendliche, wie dem „Center for Young Musicians“ und der Studierendenvereinigung „Octopus“, präsentierte die Gruppe ein Programm mit internationalen und ukrainischen Komponist:innen, darunter die Uraufführung eines Stücks von Alexey Shmurak, wobei sich jede Komposition um ein bestimmtes Tier drehte.
Im Herbst 2024 absolvierten das National Symphony Orchestra of Ukraine und die deutsche Cellistin Raphaela Gromes eine große Europatournee mit Auftritten in Berlin, Hamburg, Essen, Antwerpen und Ingolstadt. Auf dem Programm standen das Cellokonzert von Dvořák und Werke ukrainischer Komponist:innen. Ihre Zusammenarbeit begann ursprünglich mit einem Konzert im Dezember 2023 in Kiew und führte schließlich zu einem gemeinsamen Album bei Sony Classical mit Werken von Sylvestrov, Havrylets, Shevchenko und Czarnecki.
Nicht nur deutsche, sondern auch ukrainische Solist:innen bauen aktiv kulturelle Brücken zwischen unseren Ländern. Ein Beispiel hierfür ist die Bratschistin Kateryna Suprun, die als Flüchtling 2022 das Ensemble Mriya („Traum“) gründete. Was als Streichquartett begann, war von Anfang an größer gedacht und wuchs bald zu einem kompletten Sinfonieorchester mit ausschließlich ukrainischen Musiker:innen heran, die in Deutschland und anderen europäischen Ländern Zuflucht gefunden haben.
Das Debüt in der Hamburger Laeiszhalle im April 2022 markierte einen Wendepunkt: Die Kammermusik wich einer kraftvollen orchestralen Präsenz. Seitdem hat Mriya ukrainische Musik an einigen der berühmtesten Spielstätten Deutschlands aufgeführt. Heute ist es ein vollwertiges Sinfonieorchester.

Im Jahr 2023 gründete die in Köln lebende ukrainische Pianistin Violina Petrychenko das „Sounds of Ukraine“-Festival – das erste Festival für ukrainische Kammermusik in Deutschland. Einzigartig ist sein breites künstlerisches Spektrum: Das Publikum kann legendäre ukrainische Komponist:innen des 20. Jahrhunderts ebenso kennenlernen wie Zeitgenoss:innen wie Vasyl Barvinskyi, Myroslav Skoryk und Valentyn Sylvestrov. Das Festival bietet zudem einen Einblick in die ukrainischen Feiertagstraditionen.
NEW YORK
Jenseits des Atlantiks sorgte das 2020 von der Musikwissenschaftlerin Leah Batstone gegründete New Yorker „Ukrainian Contemporary Music Festival“ (UCMF) für Furore. Die Ausgabe 2025 erforschte die Schnittmenge von Musik und Literatur und gipfelte in „Ukrainian Tone Poems“, einem Programm, das ukrainische und amerikanische literarische Inspirationen – von Lesia Ukrainka bis Stephen King – einander gegenüberstellte.
Auch die Metropolitan Opera hat sich dieser Bewegung angeschlossen. 2023 gab sie „Mothers of Kherson“ in Auftrag, eine Oper des renommierten ukrainischen Komponisten Maksym Kolomiiets mit einem Libretto des amerikanischen Dramatikers George Brant. Erzählt wird die Geschichte zweier fiktiver Mütter, die 3.000 Meilen reisen, um ihre Töchter aus einem russischen Lager auf der Krim zu befreien. Obwohl die Handlung fiktiv ist, beruht sie auf wahren Berichten ukrainischer Mütter, denen es gelungen ist, ihre Kinder aus den besetzten Gebieten zu retten.
Die Idee für die Oper entstand bei einem Treffen im Jahr 2022 zwischen Peter Gelb und der ukrainischen First Lady, Olena Zelenska, die betonte, wie wichtig es sei, dem Schmerz ukrainischer Mütter weltweit Gehör zu verschaffen. Die Uraufführung ist für 2026 in Warschau geplant und wird 2027 in das Repertoire der Met aufgenommen. Eine Suite aus der Oper wird vom „Ukrainian Freedom Orchestra“ (bestehend aus den ausgewählten Künstler:innen) auf seiner vierten Europatournee im August 2025 aufgeführt, mit Konzerten in Polen, Litauen, Lettland, Estland, der Schweiz, Rumänien, den Niederlanden und dem Vereinigten Königreich. Das Orchester, erneut von der kanadisch-ukrainischen Dirigentin Keri-Lynn Wilson geleitet, wird auch Beethovens Fünfte Symphonie aufführen.
Kolomiiets, der derzeit in Deutschland lebt, ist in der ukrainischen und internationalen Szene für neue Musik weiterhin sehr aktiv. Im Mai 2025 wurde sein Concertino für Kontrabass und Orchester auf dem 44. Virtuosos Festival in Lviv uraufgeführt, gespielt vom amerikanischen Bassisten James VanDemark. Ebenfalls zu hören war Mykhailo Shveds stimmungsvolles Werk „The Candle“.

ODESA
Das populärste Festival für zeitgenössische Musik in Odesa, „Two Days and Two Nights of New Music“, findet jährlich statt. Es wurde 1995 in den Anfangsjahren der unabhängigen Ukraine ins Leben gerufen. Im Jahr 2022 präsentierte das Odesa-Ensemble „Senza Sforzando“ (künstlerischer Leiter: Oleksandr Perepelytsia) in Zusammenarbeit mit dem renommierten österreichischen Bassbariton Rupert Bergmann in Odesa und Lviv ein einzigartiges Programm. Im Rahmen von „Ukrainian Women Artists and Their Weapon“ wurden Werke der lokalen Künstlerinnen Karmella Tsepkolenko, Hanna Kopiyka, Asmati Chibalashvili, Kira Maidenberg-Todorova, Yuliya Gomelskaya, Yelena Sataite und Anna Stoyanova uraufgeführt.
Das Ensemble tourte auch durch Deutschland und trat im Februar 2023 beim Provinzlärm Festival in Eckernförde auf. Im September dieses Jahres wird die Band ein ukrainisches zeitgenössisches Programm in der Berliner Philharmonie, der Hamburger Elbphilharmonie und in München in der Allerheiligenhofkirche präsentieren.
KHARKIV
Die Festivallandschaft wächst weiter. Ein Beispiel dafür ist das „Kharkiv Music Fest“, das in der widerstandsfähigen nordöstlichen Stadt nahe der russischen Grenze stattfindet. Aus Sicherheitsgründen werden die Veranstaltungsorte wegen der ständigen Bedrohung durch Raketen und gezielte Angriffe auf die zivile Infrastruktur geheim gehalten. Dank dieses vorsichtigen Vorgehens kann das kulturelle Leben auch unter Beschuss weitergehen.
Am 30. Mai fand in Kharkiv das erste elektroakustische Musikkonzert seit Beginn der groß angelegten Invasion statt. Auf dem Programm standen Werke von Studierenden, Doktorand:innen und Lehrkräften des Fachbereichs für Komposition und Instrumentation an der Kotljarewski-Charkiwer Nationalen Universität der Künste. Die Interpret:innen waren Mitglieder des neu gegründeten Ensembles für zeitgenössische Musik der Universität, das vom Komponisten Volodymyr Bohatyrov geleitet wird.

LVIV
Trotz des Krieges hat der Klarinettist Mykola Hrechukh das LvivChamberFest „Dzerkalo“ mit Unterstützung der GVL ins Leben gerufen. 2025 wird das Festival international und empfängt Gäste aus Japan, den USA, Deutschland und Litauen. Während ein Großteil der ukrainischen Musikaktivitäten in letzter Zeit von Stipendien und Sponsorengeldern abhängig war, nimmt das institutionelle Engagement zu. Das Festival findet im Spiegelsaal der Lviv National Opera statt.
Renaissance der Oper
Die Spielzeit 2024/2025 markiert eine bemerkenswerte Renaissance der ukrainischen Oper. Drei große neue Produktionen wurden uraufgeführt: „Terrible Vengeance“ von Yevhen Stankovych (Nationaloper Lviv), „Kateryna“ von Oleksandr Rodin (Nationaloper Odesa) und das Mysterienspiel „Genesis“ des Experimental-Labs „Opera Aperta“ (im Khanenko Museum in Kiew). Die Opernhäuser von Lviv und Odesa erhielten internationale Anerkennung und wurden bei den International Opera Awards in Madrid als "Bestes Opernhaus" ausgezeichnet.


Weitere Anerkennung erhielt „Opera Aperta“ am 14. Mai 2025, als es den „Classical:NEXT Innovation Award“ in Berlin gewann – nicht nur für Produktionen wie „Chornobyldorf“, „Genesis“ und „Opera of Memory“, sondern auch für ihre kontinuierlichen Beiträge zur ukrainischen zeitgenössischen Oper.
Ein großer Moment war die Kiewer Wiederaufnahme von „Gaia-24. Opera del Mondo“, die als Reaktion auf die Zerstörung des Kakhovka-Staudamms entstand. Das Werk wurde am 10. Mai 2024 uraufgeführt und war seitdem in Rotterdam, Wien, Venedig und Berlin zu sehen.


Der hundertste Geburtstag von Borys Liatoshynskyi, dem Begründer der modernen ukrainischen Musik, war Anlass, über das Vermächtnis des Komponisten nachzudenken. Pünktlich zu seinem Geburtstag am 3. Januar wurde das Projekt „Liatoshynskyi Space 2025“ präsentiert, organisiert von der Nationalen Philharmonie der Ukraine und der Liatoshynskyi-Stiftung. Am 30. Mai 2025 hat die Nationaloper Lviv Liatoshynskyis modernistische Oper „The Golden Hoop“ wiederaufgenommen, die auf Iwan Frankos Novelle Zakhar Berkut basiert. Diese Rückkehr auf die Bühne ist mehr als eine historische Geste – sie zeichnet die Position der ukrainischen Oper als dynamische Tradition, die nicht auf ethnografische oder ideologische Rahmen beschränkt ist.
Wie die Kritikerin Liuba Morozova anmerkte, „spiegelt das Libretto von ‚The Golden Hoop‘ die aktuelle Realität der Ukraine mit verblüffender Genauigkeit wider: die Aggression eines mächtigen Eindringlings; Kollaborateure, die um des persönlichen Vorteils willen betrügen; eine sich selbst organisierende Gemeinschaft, die ohne Hilfe von außen Widerstand leistet; und moralisch schwierige, aber gemeinsame Entscheidungen. Die Frauenfiguren sind stark und entschlossen.“
Neue Stimmen der ukrainischen elektroakustischen Musik: Zeitgenössische Komponistinnen
Seit den 1950ern hat die elektroakustische Musik der experimentellen Kunst neue Wege eröffnet und Komponistinnen die Möglichkeit gegeben, traditionell akademische Grenzen der zeitgenössischen Komposition zu überschreiten. In der Ukraine erlangt die Elektroakustik dank der zunehmenden Präsenz von Frauen, die diese musikalische Landschaft nicht nur beherrschen, sondern auch anders gestalten, neue Bedeutung. Alla Zagaykevych, eine Pionierin der ukrainischen elektroakustischen Musik, hat diesen Diskurs in den 1990er Jahren angestoßen. Unter den neuen Künstlerinnen, die ihre Ausbildung am IRCAM, an der Kunstuniversität Graz, an der Krakauer elektroakustischen Akademie usw. erhielten, ragen Anna Arkushyna, Yana Shliabanska, Alisa Kobzar, Kateryna Gryvul und Tetiana Khoroshun heraus.
Arkushyna ist eine der konsequentesten Erforscher:innen des texturalen Ausdrucks in der elektronischen Live-Performance. In ihrer Kunst verwischt oft die Grenze zwischen akustischem und elektronischem Klang. Shliabanska arbeitet häufig interdisziplinär mit Videokünstler:innen, Choreograph:innen und Theaterregisseur:innen zusammen. Die Kompositionen von Kobzar hingegen tragen häufig soziale Untertöne – von der persönlichen Erinnerung bis hin zum kollektiven nationalen Trauma. Sie erforscht auch die Live-Performance von Instrumenten, wobei sie häufig Elektronik einsetzt, um die Körperlichkeit von Instrumenten zu erweitern. Gryvul, Absolventin von Musikhochschulen in Österreich und Deutschland, ist eine der wichtigsten Stimmen der neuen europäischen Szene. Ihre herausragenden Fähigkeiten der elektronischen Klangproduktion verbindet sie mit einem kompositorischen Mindset.
Fazit
In den letzten drei Jahren hat sich die ukrainische Musikszene zu einer treibenden und innovativen Kraft der zeitgenössischen Kunst entwickelt, die sich intensiv mit den sozialen und politischen Herausforderungen unserer Zeit auseinandersetzt. Angesichts des anhaltenden Konflikts und des großen Verlusts hat sich die klassische ukrainische Musik zu einem dynamischen Raum der künstlerischen Erneuerung entwickelt, mit Hunderten von Konzerten im Ausland und Dutzenden von neuen Musikkompositionen. Zeitgenössische ukrainische Komponist:innen und Interpret:innen erweitern die Grenzen des instrumentalen und vokalen Ausdrucks und verweben Tradition, Moderne und persönliche Erfahrungen – weit davon entfernt, sich auf patriotische Hymnen oder Klagelieder zu beschränken. Durch internationale Zusammenarbeit, neue Plattformen und ein unerschütterliches Engagement für Kreativität inmitten von Widrigkeiten schmiedet die ukrainische Musikszene einen neuen Diskurs. So blüht die Kunst auch in Zeiten des Krieges. Im Jahr 2022 wurde auf Initiative des gemeinnützigen „Vere Music Fund“ der neue Kammersaal in Kiew eröffnet, in dem der jüngsten Künstler:innengeneration Auftrittsmöglichkeiten geboten werden. Im vergangenen Herbst wurde die legendäre Orgel der ukrainischen Künstlerin und Bildhauerin Zhanna Kadyrova im Bahnhof von Lviv aufgestellt. Die Pfeifen der Orgel sind mit Fragmenten von Raketengeschossen verschmolzen, die in der Region Kiew explodiert sind.

In Memoriam
Tragischerweise dienen viele der Musiker:innen, die einst an den genannten Orten, Veranstaltungen und Festivals mitwirkten, heute beim Militär, und einige befinden sich derzeit in Gefangenschaft. Seit dem Beginn der groß angelegten Invasion Russlands wurden mindestens 205 Kulturschaffende getötet:
Im September 2022 wurde der 46-jährige Dirigent, Akkordeonspieler und Komponist Jurij Kerpatenkoin seinem Haus in Cherson hingerichtet, weil er sich weigerte, mit den Besatzungsbehörden zusammenzuarbeiten. Er leitete die Orchester der Chersoner Philharmonie und des Chersoner Musik- und Dramatheaters, unternahm Auslandstourneen und war Mitbegründer eines Tonstudios in Cherson.

Im Juni 2023 wurde der 29-jährige Multiinstrumentalist Andrii Chepil bei einem Gefecht in der Nähe von Robotyne, Saporischschja, getötet. Er trat mit den Bands „Frisson Band“, „Smerichka“ und „KoraLLi“ auf.

Am 13. April 2025 starb die 47-jährige Organistin Olena Kohut bei einem russischen Raketenangriff auf Sumy. Sie war Solistin der Sumy-Philharmonie, Mitglied des Theaterorchesters und Lehrerin an einer Musikhochschule, wo sie aktiv für die ukrainische Kultur im Ausland warb.

Musik kann den Krieg nicht aufhalten. Sie hilft uns, ihn zu ertragen und uns an all die Opfer zu erinnern, die wir gebracht haben.
Über die Autorin:
Dzvenyslava Safian (geb. 1998) ist Leiterin der Literaturabteilung der Nationalen Philharmonie Lviv und Kuratorin zahlreicher Musikprojekte. Sie ist Mitbegründerin und ehemalige Chefredakteurin von „The Claquers“, dem führenden Online-Magazin der Ukraine für klassische Musik. Als Doktorandin der Musikwissenschaft an der National Music Academy of Ukraine (Kyiv) und Stipendiatin des ukrainischen Präsidenten ist Safian auch als Musikjournalistin tätig. Ihre Artikel erschienen in angesehenen europäischen Zeitschriften für zeitgenössische Musik wie „Glissando“, „Ruch Muzyczny“, „Positionen“ und „Zbruc“.