Neue Musik für alle!

Essay

Die Initiative CoMA in Großbritannien

„Musik sollte nicht diskriminieren. Leider kann ich nicht behaupten, dass sie das nicht täte, denn oftmals tut sie es – im Musikbetrieb und in der Welt, in der wir leben. Aber gerade deshalb versuchen wir, eine Umgebung zu schaffen, in der wir alle gemeinsam Musik machen können. Eine Umgebung, in der es völlig egal ist, wer du bist. Du bist willkommen.“ – Das sagt die gebürtige Australierin Tamara Kohler. Sie ist professionelle Flötistin und seit der Zeit der Coronapandemie Geschäftsführerin und künstlerische Leiterin der Initiative CoMA in Großbritannien, kurz für „Contemporary Music for All“. Der Gründer und langjährige Leiter Chris Shurety ergänzt: „Unsere Arbeit umfasst Prinzipien, die viele Menschen als essenziell erachten – für unsere Gesellschaft, für Teilhabe und Gemeinschaft. Diese Prinzipien sind die Stützen von CoMA. Die grundsätzlichen Regeln sind: künstlerisch kompromisslos, aber technisch leicht zugänglich. Und alle Komponist:innen, die nach diesen Vorgaben ein Stück für uns geschrieben haben, haben gesagt: ‚Das ist die härteste Aufgabe, die ich je hatte‘.“

Neue Musik wurde und wird immer wieder missverstanden – als eine Domäne für Spezialist:innen; als Kunstform, die nur Kenner:innen, Akademiker:innen und eisernen Avantgardist:innen vorbehalten ist, die für einen kleinen Adressat:innenkreis bestimmt ist. Doch eigentlich sollte sie genau das Gegenteil bewirken: eine Erweiterung der musikalischen Ausdrucksmittel und damit auch der Möglichkeiten, Menschen anzusprechen.

Diesen Widerspruch erkannte eine kleine Gruppe von Amateurmusiker:innen in England im Laufe der 1980er Jahre. Daraufhin etablierten sie Schritt für Schritt ihr Netzwerk für interessierte Lai:innen und Hobbymusiker:innen, bei dem Neue Musik im Zentrum steht: „Contemporary Music for All“ heißt die Initiative noch heute. Seit den frühen 1990er Jahren hat sich das Netzwerk über das gesamte Vereinigte Königreich ausgebreitet und hat inzwischen auch Partner:innen in anderen Ländern, wie Tamara Kohler erklärt:

„Bei CoMA bieten wir unseren Mitgliedern die Möglichkeit, mit zeitgenössischer Musik in Kontakt zu kommen. Da gibt es eine ganze Reihe von Aktivitäten: Du kannst zum Beispiel einem unserer Ensembles beitreten, das in deiner Gegend ansässig ist. Alle Ensembles proben wöchentlich oder monatlich mit den gleichen Mitgliedern. Du kannst aber auch bei einem einzelnen Projekt mitmachen – einem Kompositionskurs, einer ‚Summer school‘ oder einer Jugendgruppe. Um CoMA-Mitglied zu werden, muss man sich einfach nur anmelden. Wir haben zwölf Ensembles in verschiedenen Städten im Vereinigten Königreich, denen man beitreten kann. Außerdem gibt es noch drei weitere Ensembles in Deutschland und den Niederlanden. Aber natürlich kann man sich auch einfach für ein bestimmtes Projekt einschreiben, einen Workshop und ein anschließendes Konzert zum Beispiel. Dafür muss man nicht unbedingt permanentes CoMA-Mitglied sein.“

„Contemporary Music for All“ – der Name der Initiative wird wörtlich genommen: Teilhabe, Inklusion und generationsübergreifendes Musikmachen stehen genauso im Zentrum wie die kompromisslose Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Musik und ästhetischem Neuland. Eine reizvolle Kombination und eine europaweit einzigartige Initiative, die sowohl feste Ensembles als auch projektweise Sommerakademien und Festivals umfasst.

„Die meisten professionellen Instrumentalist:innen haben ‚grenzenlose‘ spieltechnische Fertigkeiten. Sie können so gut wie alles umsetzen, was Komponist:innen von ihnen verlangen. Amateurmusiker:innen dagegen haben diese technischen Fertigkeiten nicht, aber natürlich können sie einige Dinge. Manche Dinge können sie vielleicht sogar besser als Profis. Aber es ist ziemlich schwierig, ein Musikstück zu schreiben, bei dem so viele Menschen wie möglich mitspielen können – gerade, wenn ihre Erfahrung auf den Instrumenten stark variiert. Ein sinnvoller Ansatz beim Komponieren wäre zum Beispiel, sich auf ein bestimmtes Element zu fokussieren: Es könnte ein Stück werden, in dem es vor allem um Rhythmus geht, um Schwung, um einen rhythmischen Drive. In einem solchen Stück sollten dann die Töne und Melodien eher simpel sein, so dass die Musiker:innen sich voll und ganz auf den Rhythmus konzentrieren können. Das wäre eine mögliche Herangehensweise. Ein anderer Ansatz wäre es, ein Stück zu schreiben, das mehr improvisatorischen Freiraum erlaubt. Dann müssten die Musiker:innen sich nicht so sehr darauf konzentrieren, ob sie Noten exakt interpretieren, sondern sie können kreativ experimentieren. Es gibt so viele verschiedene Möglichkeiten, wie man ein Stück Neue Musik für Amateur:innen konzipieren kann. Aber wichtig ist es vor allem, dass es genug Zeit gibt, sich reinzuarbeiten. Alle Komponist:innen, die wir beauftragen, sind angehalten, Proben zu besuchen, Workshops zu geben, und einfach Zeit mit den CoMA-Mitgliedern zu verbringen.“

Diese intensive Art der Zusammenarbeit, die Tamara Kohler beschreibt, und die besondere Auseinandersetzung zwischen Profi-Komponist:innen und Hobbymusiker:innen war beim CoMA-Festival 2024 zu beobachten. Vom 1. bis zum 24. März fanden an verschiedenen Orten inner- und auch außerhalb Großbritanniens Konzerte, Diskussionen, Proben und Workshops statt. Am letzten Festivaltag bündelten sich gleich mehrere Veranstaltungen im märchenhaft viktorianischen Octagon der Queen Mary University in East London. Höhepunkt des Tages war der Auftritt einer großen Gruppe von Musiker:innen, bestehend aus Mitgliedern von „CoMA London“, den „CoMA Singers“ und „CoMA Sussex“. Tagsüber hatten sie noch geprobt: das neue Stück „MARCH“ des Komponisten Uri Agnon, das den Eigenheiten von Märschen und politischen Parolen nachspürt und in dem es vor allem darum geht, das rhythmische Element herauszuarbeiten.

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Octagon bei der Generalprobe des Abschlusskonzerts des Festivals 2024, Foto: Leonie Reineke

Besonders faszinierend ist die Altersspanne bei den CoMA-Projekten. Hier arbeiten Menschen ganz selbstverständlich auf Augenhöhe zusammen, die Großeltern und Enkel sein könnten, sagt Tamara Kohler:

„Es ist eines der bemerkenswertesten Dinge an CoMA, dass es komplett intergenerational ist. Der jüngste Musiker in der großen Gruppe beim Festival 2024 ist 14 Jahre alt, die älteste Instrumentalistin ist 78. Ich denke, das ist wirklich einzigartig. Im Konzert habe ich bei den Geiger:innen eines unserer älteren neben einem der jüngsten Mitglieder sitzen sehen. Es ist schön zu erleben, dass Menschen aus so verschiedenen Generationen die gleichen Erfahrungen teilen können – und das sogar über einen längeren Zeitraum: Das CoMA-Festival dauert insgesamt drei Wochen und es ist ein multi-lokales Festival. Es findet an 26 verschiedenen Orten und sogar online statt. Und es gibt nicht nur Konzerte, sondern auch Workshops und Gespräche. Wir versuchen damit, eine Kultur der Teilhabe zu etablieren. Wenn man bisher nicht CoMA-Mitglied war, ist das Festival eine Gelegenheit, reinzuschnuppern und vielleicht sogar als festes Mitglied weiterzumachen. Am letzten Festivaltag in London waren 17 neue Leute dabei, die zum ersten Mal bei CoMA mitgemacht haben. Sie haben gemeinsam mit den langjährigen Mitgliedern gespielt.“

Was Tamara Kohler schildert, erfasst den Kern des CoMA-Konzepts: Von Anfang an ging es um Teilhabe, um das gemeinsame Gestalten von Neuer Musik, egal mit wieviel oder wenig Vorerfahrung. Die Initiative geht im Wesentlichen auf einen einzelnen Menschen zurück: Chris Shurety, der schon in den 1980er Jahren die Vision hatte, unserer vom Kapitalismus und marktliberalen Leitbildern beherrschten Welt etwas entgegenzusetzen – das gemeinsame Tun und Erfahren, die Begegnung vieler verschiedener Stimmen in einem künstlerischen Erlebnisraum, bestenfalls ohne Eliten- oder Exzellenzdruck, wie er erzählt:

„Wir wollen niemanden, der Musik komponiert, in seiner künstlerischen Mission einschränken. Aber wir wollen, dass den Komponist:innen bewusst ist, dass es praktizierende Musiker:innen gibt, die Amateure sind; und dass es notwendig ist, Musik zu schreiben, die technisch machbar ist. Denn einer der besten Wege, um ein Musikstück besser zu verstehen, ist es, selbst ein Instrument zu spielen. Musikhören ist natürlich auch wichtig. Aber die Möglichkeit der unmittelbaren Teilhabe ist wirklich essenziell, wenn es darum geht, zeitgenössische Musik lebendig zu halten.“

Chris Shurety hat CoMA nicht nur gegründet, sondern auch lange künstlerisch geleitet – etwa 30 Jahre lang, bis zur Coronazeit, in der Tamara Kohler die Leitung übernommen hat. Wie aber kam Shurety überhaupt dazu, sich für Amateur:innen im Bereich der zeitgenössischen Musik einzusetzen? Auf der Hand lag das keineswegs, denn seine berufliche Laufbahn begann an völlig anderer Stelle: Shurety ist studierter Geologe, er arbeitete als Botaniker und später in einem Krankenhaus. Nach einer Phase der Politisierung und des Aktivismus in den 1960er Jahren wechselte er in die Kinderbetreuung, danach in die Kommunal- und Stadtentwicklung, und schließlich landete er als Umweltschutzbeauftragter in der Politik. Parallel zu diesem verschlungenen Werdegang nahm aber auch eine unerwartete musikalische Entwicklung in Shuretys Leben ihren Lauf. Sie begann mit dem bemerkenswert umfangreichen Musikunterricht seiner Tochter in der Grundschule. Eine politische Initiative in den 1980er Jahren zur besonderen Stärkung der musikalischen Bildung war der Anlass:

„Es ging bei dieser Initiative um Anti-Elitismus. Und tatsächlich wurde Musik als Kernfach in den Schulen eingeführt – neben Mathematik und Englisch. Mindestens dreimal die Woche hatte die ganze Klasse Musikunterricht. Einmal kam eine Gruppe von Lehrer:innen in die Klasse meiner Tochter. Sie spielten ein Streichquartett und hielten danach eine Geige in die Luft: ‚Wer von Euch möchte so eine haben?‘ – haben sie gefragt. Und so wurden allen Kindern Instrumente gegeben. Meine Tochter, damals sieben Jahre alt, kam mit einem Cello nach Hause. Das war ein wirklich tolles, ambitioniertes Projekt. Es gab Gruppenunterricht für die Kinder und verschiedene Initiativen, die gemeinschaftliches Musikmachen ermöglicht haben. Ich als Elternteil habe das Ganze stark unterstützt. Und irgendwann bin ich einer Lerngruppe für Lehrer:innen beigetreten, die Instrumente spielten. Es ging mir auch darum, besser zu verstehen, was meine Tochter da eigentlich lernte. Ich war 39 Jahre alt und hatte noch nie ein Instrument gespielt. Aber dann trat ich dieser Lehrer:innengruppe bei und lernte erst Geige und danach noch weitere Streichinstrumente. Und weil ich mitbekommen hatte, dass manche der anderen Eltern auch sehr interessiert an all dem waren, habe ich 1983 eine Streichergruppe mit ihnen gegründet. Ich habe den anderen dort jede Woche das beigebracht, was ich in der Vorwoche bei den Lehrer:innen gelernt hatte. Und daraus wurde dann ein Ensemble, dem wir 1985 den Namen ‚East London Late Starters Orchestra‘ gegeben haben.“

Mit der Zeit wurde aus Chris Shuretys Elternmusikgruppe ein festes Ensemble, das regelmäßig Konzerte spielte. Zeitgenössische Musik wurde selbstverständlicher Teil des Repertoires; und nach einer Weile begann das „East London Late Starters Orchestra“ auch Kompositionsaufträge zu vergeben:

„Als unser zehnjähriges Jubiläum anstand, war das Ganze eine ernsthafte Sache geworden. Wir hatten Diskussionen, Workshops, Einzelgruppen, und wir haben uns intensiv mit der Frage beschäftigt, wie wir unsere bis dahin entwickelten Hauptprinzipien weiterverfolgen können: Community-Arbeit zu betreiben, Teilhabe für alle zu ermöglichen und gleichzeitig den Fokus auf zeitgenössische Musik zu richten. Ich habe damals Kontakt zur ‚London Sinfonietta‘ aufgebaut, dem ersten Profi-Ensemble für zeitgenössische Musik zu dieser Zeit. Die Musikvermittlerin war Gillian Moore, die sich zum Beispiel um musikalische Angebote in Schulen und Gefängnissen kümmerte. Mit ihr überlegte ich, ob man nicht ein systematisches Angebot für erwachsene Anfänger:innen an Instrumenten schaffen könnte. Sie war begeistert von der Idee und wir gaben gemeinsam eine Komposition in Auftrag: Michael Finnissy komponierte eine Reihe von Stücken, die für uns Amateurmusiker:innen wunderbar geeignet waren. Und daran schlossen sich dann weitere Projekte mit zeitgenössischer Musik und Aufträgen an verschiedene Komponist:innen an. Irgendwann wollten wir das Ganze richtig institutionalisieren. Wir wollten das neue Repertoire, das für uns über die Jahre entstand, mit anderen Amateurmusikgruppen teilen. Und das war der Beginn der Initiative ‚Contemporary Music for All‘.“

Die erste große „Summer School“ im Rahmen von CoMA fand 1993 statt, in einem zauberhaften alten Landhaus in Yorkshire. Über 60 Menschen aus ganz Großbritannien reisten dort an, um gemeinsam Neue Musik zu entdecken, zu proben und schließlich auch aufzuführen. Unter den Tutor:innen waren Persönlichkeiten wie der Pianist John Tilbury, ein ehemaliges Mitglied des „Scratch Orchestra“, und auch die Musikvermittlerin und später langjährige Musikdirektorin des Londoner „Southbank Centre“ Gillian Moore. Im Abschlusskonzert dieser ersten CoMA-Sommerakademie wurde unter anderem ein Stück der Komponistin Diana Burrell uraufgeführt: „Anima“ für Streichorchester. Es ist ein markantes Beispiel für die Vision, einfach zu realisierende, aber trotzdem anspruchsvolle Musik zu schreiben. In der Konzerteinführung äußerte sich die Komponistin mit beeindruckend klaren Worten:

„Ich finde, dass ein Großteil der Musik, die für Kinder und Amateur:innen geschrieben wird, etwas unangenehm Bevormundendes hat. Denn selbst wenn du dein Instrument nicht in Perfektion beherrschst oder nicht gut Noten lesen kannst, heißt das doch nicht, dass du kein Gehirn hast; oder dass du nicht intelligent genug wärst, um komplexer Musik etwas abzugewinnen? Ich denke, der Geist und die Musikalität eines Menschen können durchaus differenziert und profund ausgebildet sein – auch wenn seine spieltechnischen Fertigkeiten dahinter zurückstehen. Und darauf sollte man die Musik ausrichten. Ich kann diese ganzen banalen Liedchen und Kindergarten-Reime wirklich nicht ertragen.“

Es geht bei CoMA also keinesfalls darum, Musik für Amateur:innen besonders harmlos oder gefällig klingen zu lassen, sondern im Gegenteil: Es darf und soll herausfordernd, vielleicht sogar auch mal unbequem sein. Denn gerade das kann Spaß machen – sowohl den Musiker:innen als auch dem Publikum. So sieht es auch die langjährige Southbank-Centre-Musikdirektorin Gillian Moore, die oft mit CoMA kooperiert hat:

„Wer denkt, dass ‚Contemporary Music for All‘ bedeutet, dass die Musik besonders sanft, langsam, minimalistisch oder easy-listening sein müsste, der vertut sich gründlich. Und das schätze ich so sehr an CoMA. Denn natürlich gibt es auch brave Minimal-Music für Amateur:innen, aber vieles von dem, was die CoMA-Ensembles spielen, ist ziemliche Hardcore-Musik – radikale, kompromisslose Stücke, die sehr bewegend sind. Und das finde ich inspirierend: Egal, welches spieltechnische Niveau du hast, du kannst dich in wirklich ernste Musik hineinfuchsen.“

Die CoMA-Initiative fokussiert sich nicht auf einen bestimmten Bereich der zeitgenössischen Musik, sondern versucht vielmehr einen eklektischen Mix von Stilen und kompositorischen Handschriften zu kultivieren. Über die Jahrzehnte hat sich ein breites Repertoire an Kompositionen für Amateurmusiker:innen angehäuft. Aber wie komponiert man eigentlich für Amateur:innen? Offenbar ist das gar nicht leicht. Das beschreibt auch die Flötistin Rebecca Lenton. Sie lebt in Berlin und ist Mitglied des professionellen Neue-Musik-Ensembles „KNM Berlin“, leitet aber seit 2011 auch das „KNM campus ensemble“, eine Gruppe von erwachsenen Amateurmusiker:innen, die wöchentlich proben und mittlerweile auch Partner des CoMA-Netzwerks sind.

„Komplexe Partituren aus der Neuen Musik, die vielleicht sogar erweiterte Spieltechniken umfassen, sind oft sehr schwer zu realisieren – selbst für Profis. Insofern stellt sich für viele Komponist:innen die Frage, was sie beachten müssen, wenn sie für Amateur:innen schreiben. Denn die Musiker:innen wollen eine Herausforderung. Sie wollen etwas Neues, wollen etwas lernen. Ein zu einfaches Stück kommt also meistens nicht gut an. Dazu kommt, dass das Stück für die gesamte Besetzung passen muss, denn natürlich wollen alle immer mitspielen. Da gibt es aber eine gute Lösung: Viele Komponist:innen schreiben wie für einen Chor – mit Sopran, Alt, Tenor und Bass. Und dann kann jedes Instrument, je nach Register, dabei sein. Natürlich muss man in diesem Fall als Komponist:in darauf verzichten, sich auf bestimmte Klangfarben zu kaprizieren. Denn wenn das, was letzte Woche noch die Oboe gespielt hat, nächste Woche von einer Geige gespielt wird, klingt es eben anders. Das muss man als Komponist:in immer im Kopf haben. Und Persönlichkeiten wie etwa Stephen Montague haben sich da über lange Zeit hineingearbeitet. Ich finde seine Kompositionen für Amateur:innen wirklich fantastisch.“

Der gebürtige US-Amerikaner Stephen Montague hat eine ganze Reihe von Stücken für CoMA geschrieben – darunter etwa das Werk „Dark Sun“, ein groß besetztes Stück, das er in Gedenken an die Opfer der Atomkatastrophe von Hiroshima und Nagasaki komponiert hat. Montague erinnert sich, wie er den Auftrag für diese Komposition bekam, die schließlich bei der „CoMA Summer School“ 1995 uraufgeführt wurde:

„Für Amateur:innen zu schreiben ist deutlich schwieriger als für Profi-Musiker:innen. Ich erinnere mich noch genau daran, wie ich den Kompositionsauftrag bekam. Da fragte ich Chris Shurety, welche Besetzung das Ensemble habe, für das ich komponieren sollte, und er antwortete: ‚Ich weiß nicht genau.‘ Das hat mich ziemlich irritiert und ich habe gefragt, was er damit meine. Er müsse doch wissen, wie viele erste Geigen es gibt und so weiter. Daraufhin sagte Chris: ‚Naja, es könnten sechs erste Geigen sein, vielleicht aber auch zehn. Oboen – da haben wir nur eine. Hörner haben wir gar keine, dafür aber ein Althorn. Kontrabässe haben wir auch keine, aber 27 Celli.’ Als ich das hörte, war ich fassungslos und dachte: ‚Wie bitte? Wie soll ich ein Stück für eine solche Besetzung schreiben, die dann noch nicht einmal feststeht?’ Das war erstmal wirklich schwierig für mich und ich hatte keine Ahnung, wie ich damit umgehen sollte.“

Schließlich gelang es Stephen Montague doch noch, seine Komposition auf die Bedürfnisse und unterschiedlich ausgeprägten Fähigkeiten der CoMA-Mitglieder anzupassen. Eine große Orchesterbesetzung ist die einzige nicht verhandelbare Voraussetzung in seinem Stück. Vieles andere ist variabel. Zum Beispiel braucht es vergleichsweise viel Schlagwerk, allerdings können viele der Perkussionsinstrumente auch von anderen Instrumentalist:innen gespielt werden. Die Uraufführung von „Dark Sun“ schließlich wurde ein voller Erfolg; das Publikum muss von der kraftvollen, spannungsreichen Musik regelrecht überwältigt gewesen sein. Möglicherweise lag das auch daran, dass Montague bei seiner Arbeit mit Amateurmusiker:innen festgestellt hat, dass hier andere Kompositionskonzepte als die gewohnten sinnvoll sein können:

„Manchmal stolpern wir Komponist:innen einfach in etwas hinein, das gut funktioniert; etwas, wovon wir keine Vorstellung hatten bis zu dem Zeitpunkt, zu dem wir die Musiker:innen spielen hören. Und genau so etwas ist mir beim Komponieren von ‚Dark Sun‘ passiert: Es gibt eine Stelle, an der die Musiker:innen aufgefordert sind, einen hohen Ton zu spielen – nicht einen bestimmten, sondern irgendeinen –, je nachdem, wie hoch sie kommen und was auf ihrem Instrument möglich ist. Es ging mir darum, dass eine besonders starke Energie entstehen sollte. Und tatsächlich hat das etwas Unglaubliches in Gang gesetzt: Der Klang, der entstand, hatte eine markerschütternde Kraft. Er war grell und durchdringend, auf eine gute Weise aggressiv. Ich bekam Gänsehaut beim Dirigieren. Und ich glaube, das lag daran, dass es nicht darum ging, einen bestimmten Ton möglichst sauber zu treffen, sondern jede:r konnte so viel Energie freisetzen wie möglich. Denn im Grunde war ja alles erlaubt. Und das haben die Musiker:innen gemeinsam gespürt. Genau so sollte es klingen.“

Stephen Montagues „Dark Sun“ ist ein Meilenstein in der Repertoiregeschichte von CoMA. Die Uraufführung 1995 ist lange vorbei, die Zeiten haben sich geändert, aber CoMA hat weiterexistiert – bis heute. Und es ist gewachsen, in alle möglichen Ecken des Vereinigten Königreichs hinein, und sogar bis aufs europäische Festland hat die Initiative sich ausgebreitet. Mittlerweile gibt es auch CoMA-Ensembles in den Niederlanden und das Partnerensemble „KNM campus“ in Berlin. Jede dieser Gruppen fühlt sich als Teil des Netzwerks, hat aber trotzdem ihr eigenes Gesicht, erklärt die künstlerische Leiterin Tamara Kohler:

„Jedes unserer Ensembles hat seine eigene Identität. Wir – die CoMA-Zentrale sozusagen – kümmern uns um die organisatorischen Strukturen, damit die Ensembles gut arbeiten können. Wir geben Kompositionen in Auftrag, die sie spielen können, wir helfen ihnen mit Proberäumen, wir geben ihnen finanzielle Unterstützung für Projekte und so weiter. Aber in allen musikalischen Fragen sind sie für sich selbst verantwortlich. Sie alle haben eine professionelle künstlerische Leitung, aber die Ensemblemitglieder entscheiden darüber, wie sie sich künstlerisch aufstellen wollen. Unser Londoner Ensemble zum Beispiel spielt eine Menge unseres Kernrepertoires, viel notierte Musik. Unser East-Midlands-Ensemble wiederum interessiert sich sehr für die Arbeit mit Spoken Word und Improvisation. Unser Ensemble in Glasgow arbeitet sowohl in Präsenz als auch online zusammen. Und so sind die Gruppen alle ganz unterschiedlich – auch in ihren Größen und Besetzungen. Da entwickeln sich automatisch verschiedene Vorlieben und Ausrichtungen.“

Die bislang einzige mit CoMA assoziierte Gruppe in Deutschland ist das Berliner „KNM campus ensemble“. Die Flötistin und Leiterin der Formation Rebecca Lenton schätzt die Arbeit mit den Amateurmusiker:innen enorm. Denn gerade für sie als Profimusikerin ist es erfrischend zu erleben, dass Nicht-Profis einen völlig anderen Blick auf zeitgenössische Musik haben können:

„Die Arbeit mit Amateur:innen ist für mich immer wieder inspirierend. Jede:r im Ensemble macht beruflich etwas völlig anderes. Entsprechend unterschiedlich sind die Perspektiven in der Gruppe. Und natürlich ist die Arbeitsatmosphäre bei ‚KNM campus‘ auch eine andere als in unserem Profiensemble. Bei uns wird sehr diszipliniert gearbeitet, alle kommen vorbereitet in die Proben und der Arbeitsprozess ist klar zielgerichtet: Am Ende muss das Konzert abgeliefert werden. Bei ‚KNM campus’ geht es natürlich auch zum Teil darum, etwas aufzuführen, aber eben nicht nur. Oft entstehen auch ganz neue Ideen in den Proben, das gemeinsame Musikmachen ist sehr viel entspannter und weniger zweckorientiert.“

Ähnliche Erfahrungen wie Rebecca Lenton macht auch Tamara Kohler, die selbst professionell ausgebildete Flötistin ist:

„Profimusiker:innen sind oft beinah gelähmt von ihrem Anspruch, perfekt in dem sein zu wollen, was sie tun. Oft sind die gesamte Identität und das Selbstwertgefühl an die instrumentalen Fähigkeiten geknüpft. Und oft gehören dazu heftige Selbstzweifel. Den meisten Amateurmusiker:innen dagegen geht es besonders um den Spaß am Musikmachen und um das Gemeinschaftsgefühl beim Spielen. Sie haben keine zu große Angst vor Fehlern und müssen sich nicht ständig selbst abwerten. Diese Mentalität vieler CoMA-Mitglieder hat mich fasziniert. Natürlich möchte man als Musiker:in gut in dem sein, was man tut. Und man darf auch Ehrgeiz entwickeln. Aber letztendlich geht es hauptsächlich darum, Freude an einer gemeinsamen Kunsterfahrung zu haben.“

Was Tamara Kohler beschreibt, ist nicht trivial: Lernen ist im besten Fall keine Einbahnstraße, und manchmal lernen dann auch die Profis von den Nicht-Profis. Mit den städte- und länderübergreifenden Projekten von CoMA sind nicht nur neue musikalische Erfahrungen und künstlerische Weiterentwicklung möglich, sondern es sind auch echte Freundschaften entstanden. Das ist nicht zu übersehen, wenn man die Musiker:innen in ihrem Umgang miteinander beobachtet. Wahrscheinlich sind solche in künstlerischen Forschungs- und Entdeckungsprozessen entstehenden menschlichen Verbindungen das beste Mittel, um eine grundsätzliche Aufgeschlossenheit der Welt und ihren Bewohner:innen gegenüber zu entwickeln und damit – auch in schwierigen Zeiten wie der heutigen – ein demokratisches Selbstverständnis zu leben und zu erleben.

Eine Sendung für den DLF Kultur/Musikszene am 25. Juni 2024.