Wie begegnet man dem Mörder des eigenen Kindes?

Bericht

Uraufführung von Charlotte Brays „American Mother“ am Theater Hagen

Die Violinen sirren in klirrender Höhe, als würde man beim morgendlichen Aufwachen die eigenen Nervenbahnen ihre Arbeit hochfahren hören. In die erwartungsvolle Spannung drängen immer mehr Instrumente und Gesten, dunkel brütende Bässe, mit Dämpfer schnarrende Trompeten und abrupt zuckende Figuren, als seien es quälende Erinnerungen und Gedanken, die sich nach erholsamem Schlaf umso qualvoller wieder ins Bewusstsein bohren. Der eindringliche Klang entpuppt sich als wiederkehrendes Motiv einer nicht nachlassenden Traumatisierung. Und der instrumentale Prolog führt direkt in den von Zweifeln und Fragen aufgewühlten Monolog der Diane Foley: Wie soll sie dem Mörder ihres Sohnes gegenübertreten? Mit Bitterkeit, Rache, Mitgefühl, Vergebung? Wie kann sie dem IS-Terroristen in die Augen sehen? Wie ihn ansprechen? Mit Vor- oder Nachnamen? Als Alexanda Kotey? Als Mister? In ihrer Unsicherheit betet die gläubige Katholikin zu Gott, er möge ihre Sprache lenken und sie zum Instrument seines Friedens machen.

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Charlotte Bray, „American Mother“ am Theater Hagen mit Timothy Connor, Roman Payer und Katharine Goeldner, Foto: Volker Beushausen

Verbrechen des IS

Charlotte Brays Einakter „American Mother“ entstand im Auftrag des Theater Hagen für die dort letzte Spielzeit von Intendant Francis Hüsers. Die 1982 in London geborene Komponistin war Schülerin von Mark-Anthony Turnage und Oliver Knussen und lebt seit 2012 in Berlin. Bereits 2015 thematisierte sie in ihrem Cellokonzert „Falling in the Fire“ die Zerstörung der antiken Stadt Palmyra durch den sogenannten „Islamischen Staat“. In ihrem auf zwei Hauptfiguren konzentrierten Kammerspiel kommt sie nun erneut auf die Verbrechen des IS zurück. Die Solopartien folgen deklamatorisch dem Text und sind durch verschiedene Kernintervalle und Artikulationsweisen charakterisiert. Regelrechte Arien oder Ensembles gibt es nicht. Nur ein einziges Mal vereinigen sich die Mütter von Opfer und Täter duettierend zur humanen Solidaritätserklärung. Die Uraufführung inszenierte Travis Preston, der Gründer des CalArts Centre for New Performance in Los Angeles. Christopher Barreca beschränkte sein wirkungsvolles Bühnenbild weitgehend auf zwei schwarze Stühle an einem schwarzen Tisch auf einer schwarzen Fläche, die sich über den Orchestergraben hinweg dem Publikum zuneigt. Geleitet wurden Ensemble, Chor und Philharmonisches Orchester Hagen von Chefdirigent Joseph Trafton.

Das englische Libretto extrahierten Diane Foley und der irische Erfolgsautor Colum McCann aus ihrem gemeinsamen Buch „American Mother“, das 2024 im englischen Original sowie in deutscher Übersetzung erschien. Die Hauptrolle darin hat die Autorin Diane Foley selbst, die den Verlust ihres Sohnes James Foley zu verarbeiten versucht. Dieser war 2012 als Journalist nach Syrien gereist, um über den Bürgerkrieg zu berichten. Dort wurde er von einer IS-Terrorgruppe entführt, fast zwei Jahre lang gefangen gehalten, grausam gefoltert und schließlich 2014 vor laufender Kamera enthauptet, um das Video im Internet zu verbreiten. 2020 wurden mehrere Täter gefasst und an die USA ausgeliefert, darunter der ursprünglich aus London stammende englisch-griechische Alexanda Kotey. Er war an der Ermordung von acht Geiseln beteiligt und konnte der Todesstrafe nur entgehen, indem er einwilligte, die Angehörigen seiner Opfer zu treffen. Einzig Diane Foley ließ sich auf drei solche Begegnungen ein und der Täter wurde zu lebenslanger Haft verurteilt.

Unüberwindbare Gräben

Die Personen und Geschehnisse der Oper sind real und entfalten gerade durch ihre persönliche Betroffenheit die allgemeinen Aspekte einer – durch welchen Krieg oder Terror auch immer – schicksalhaften Verstrickung von Individuen sowie ganzer Kulturen, Religionen oder Staaten. Die Frage, wie man dem Mörder des eigenen Sohnes begegnet, weitet sich dadurch zur generellen Frage, wie Menschen Hass und Feindschaft ablegen und zu Versöhnung finden können. Das Textbuch dokumentiert nicht Fakten, sondern verdichtet die Ereignisse zu einer Parabel über die Möglichkeit der (Selbst-)Überwindung und Befreiung des Menschen aus scheinbar ewig trennenden Gräben.

Während der Gefängniswärter (Dong-Won Seo in der hasserfüllt islamfeindlichen Rolle mit eindringlicher Chromatik) den IS-Fanatiker am liebsten mit eigenen Händen erwürgen würde, fasst sich die „American Mother“ ein Herz und trifft den Mörder ihres Sohnes. Die überragende Hauptrolle gestaltet die in Salzburg lebende US-amerikanische Mezzosopranistin Katharine Goeldner stimmlich variantenreich, hoch expressiv und schauspielerisch stark. Zu wiederkehrenden Rückblenden aus der Geiselhaft des Sohnes senkt sich der Journalist (Roman Payer als lyrischer Tenor mit zumeist konsonanten Intervallen) vom Schnürboden herab und es kehrt das pfeifend hohe Sirren der Streicher wieder. Den inhaftierten Terroristen verkörpert Bariton Timothy Connor mit erregter Anspannung und großen dissonanten Intervallsprüngen in vokal und gestisch beklemmendem Stakkato. Gegenüber der Mutter verteidigt er sich mit dem Hinweis, er hätte als Soldat nur ausgeführt, was ihm befohlen wurde. Das erste Treffen der beiden endet, ohne dass Reue verlangt oder um Vergebung gebeten wurde.

Alle haben verloren

Beim zweiten Treffen erzählt die Mutter von ihrem Sohn, um den Täter in seinem Opfer den Menschen und wahrheitsliebenden Journalisten sehen zu lassen. Dazu tritt der Sohn aus der gespenstischen Parallelwelt der Vergangenheit heraus in die Gegenwart der Bühne und setzt sich seinem Mörder gegenüber an den Tisch. Da erzählt auch der Täter von sich: Bereits mit zwei Jahren hatte er seinen Vater verloren, in der Schule wurde er verprügelt, man zeigte ihm den Koran als Weg der Befreiung, er konvertierte zum Islam und verließ Frau und Tochter, um sich in Syrien den IS-Kämpfern anzuschließen. Letztlich ist auch dieser Mann der verlorene Sohn einer Mutter (ausdrucksstark: Angela Davis), zu deren kurzem Erscheinen abermals der traumatische Triggerton der Verlassenen und Hinterbliebenen erklingt.

Die Musik schildert die Schrecken der Vergangenheit mit düster anrollenden Klangwellen und brutalen Schlagzeugkaskaden. Zum Chor der amerikanischen, englischen, syrischen und aller sonstigen Mütter säuseln dagegen sanft und liebevoll die Flöten. Das mag klischeehaft und gendernormativ erscheinen, ist aber gleichwohl expressiv und direkt verständlich. Zugleich offenbaren diese Zuschreibungen auch inhaltliche Schwächen von Text und Musik. Warum treten nur Mütter auf? Wo bleiben die Väter? Gibt es keine? Sind alle im Krieg? Welche Verantwortung tragen sie? Undeutlich bleibt schließlich auch die Rolle des überwiegend im Bühnenhintergrund verborgenen und daher weder musikalisch noch sprachlich verständlich singenden Chors.

Am Ende steht die Einsicht: alle haben verloren. Die Mutter trauert sowohl über ihren toten Sohn als auch über dessen Mörder, weil dieser den Rest seines Lebens allein in der Zelle mit seiner Schuld verbringen muss. Als Zeichen der Mitmenschlichkeit reicht die Mutter dem verstummten Gefangenen zum Abschied die Hand: „Take my hand“. Dazu erklingen metallisch-glockenhafte Schläge als Symbol der verstreichenden Zeit, die von sich aus keine Wunden heilt, sondern die man zum Handeln nutzen muss, um aktiv Hass und Leid zu überwinden. Der Täter ringt im Zwiespalt mit seinem Glauben und den von allen Seiten hörbaren Einflüsterungen des Chors, er dürfe keine andere Frau berühren. Doch schließlich überwindet er sich und ergreift die ihm gereichte Hand.

Über Hagen hinaus?

Nach der Premiere wurde auch die zweite Vorstellung gut besucht und euphorisch beklatscht. Dem chronisch unterfinanzierten Theater im hochverschuldeten Hagen war diese Uraufführung nur möglich dank zusätzlicher Förderungen durch NRW-Kultursekretariat und Kunststiftung NRW. Das Opernhaus mit seinen rund 750 Plätzen kümmert sich schon seit Längerem um Repertoireerweiterungen und Novitäten und findet dafür offenbar auch ein aufgeschlossenes Publikum. Mit der Premiere von Charlotte Brays „American Mother“ ist nun ein Wurf gelungen, der über die Stadtgrenzen ausstrahlen dürfte. Der Stoff ist aktuell, die Musik sprechend, Colum McCann als Romancier bekannt, der dramaturgische Bogen dicht, das Solopersonal übersichtlich und das englische Textbuch international verständlich: beste Voraussetzungen für weitere Inszenierungen.