Klangwandlerisch
PorträtDie Komponistin Lucia Kilger

„Das Modell des offenen Kunstwerks ist unabhängig von der tatsächlichen Existenz als ‚offen‘ bestimmbarer Werke. Es geht um eine Beziehung zum Rezipienten“, schreibt Umberto Eco 1962 in „Opera aperta“, seinem Text über das „offene Kunstwerk“.1 Und an anderer Stelle in „Opera aperta“ bemerkte der italienische Denker:„Die Ambiguität zu akzeptieren und beherrschen zu wollen, in der wir uns befinden und in der wir unsere Definitionen der Welt einlösen, bedeutet nicht, die Ambiguität in eine Ordnung einzusperren, welche ihr fremd und in welcher sie mit einer dialektischen Opposition verbunden wäre. Es geht vielmehr darum, Modelle von Beziehungen auszuarbeiten, in welchen die Ambiguität eine Legitimation erhalten und einen positiven Wert darstellen kann.“2 In Anbetracht mehr- und doppeldeutiger Werke wird für Umberto Eco jede:r Betrachter:in zu einer Instanz, die ein Werk auf Basis individueller Prägungen, Erfahrungen und Wahrnehmungen subjektiv deutet. Das offene Werk vollendet sich in der Mannigfaltigkeit der Deutungen auf vielfache und vor allem unterschiedliche Weise. Aber widerspricht dieser Vieldeutigkeit nicht die Gepflogenheit in der Neuen Musik, Werke mit programmatischen oder erläuternden Titeln zu versehen? Und widersprechen nicht erst recht Programmtexte, die einem Publikum an die Hand geben werden, dieser Offenheit des Deutungsrahmens? Genau dieser Gepflogenheit im Musikbetrieb widersetzt sich Lucia Kilger. Die in einer kleinen Gemeinde in der Nähe Freiburgs aufgewachsene Komponistin versieht ihre Stücke mit poetischen und lautmalerischen Titeln, die keine konkrete Bedeutung haben. Sie gibt weder Auskunft darüber, aus welchen semantischen oder phonetischen Elementen sie zusammengesetzt wurden, noch klärt sie darüber auf, wie denn diese Neologismen auszusprechen sind. Und auch erläuternde Programmtexte aus Kilgers Feder sind nicht zu finden. Die Komponistin macht Ernst mit der Ambiguität des offenen Kunstwerks. Sie übereignet ihre Werke vollends unserer Wahrnehmung und unserem Urteil und sie verweigert kurzerhand konzeptionelle, ästhetische oder theoretische Hinweise, die ja vor allem von der Musikkritik allzu gern entgegengenommen werden.
Die Titel, die ich für meine Stücke wähle sind Chiffren. Das sind keine realen Begriffe. Es sind Zusammensetzungen aus verschiedenen Silben, die ich zusammenwürfle, um eine Art poetischen Namen für das Stück zu wählen, der sehr spezifisch ist, weil ich es mag, wenn die Menschen meine Musik unvoreingenommen hören können, ohne dass ich mit einem Titel zusammenfasse, was ich eigentlich wollte. Ich bin der Meinung, die Musik ist das Medium, in das ich sehr viel Zeit investiert habe, um dahin zu kommen, wie es dann präsentiert wird, und das ist für mich das, was bei den Menschen ankommen soll. Und dann finde ich es berechtigt, dass Menschen es unterschiedlich wahrnehmen und darin hören, sehen, empfinden, was sie gerade können und wollen. Ich finde es einfach schwierig, aufzuoktroyieren, was ich dabei gedacht habe.
Wie eingangs von Eco festgestellt, muss das offene Werk nicht zwingend offen im dem Sinne sein, dass es Zufall, Improvisation, variable Form oder Publikumspartizipation einbezieht. Die „Offenheit“ zeitgenössischer Kompositionen lässt sich ebenso durch formale Brüchigkeiten, Collage-Techniken und Stilpluralismen und durch ein multimediales oder hybrides Auskragen in andere Künste und Medien festmachen. All das ist in Lucia Kilgers Werken zu finden. Stilpluralistisch sind ihre Kompositionen etwa in der Verwendung populärer Idiome wie Rock und Techno, die oft blockartig, geradezu abrupt in das filigrane Klanggeschehen ihrer Stücke eingefügt sind. Multimedial sind viele ihrer Werke durch den Einbezug von Video und zeitgenössischem Tanz; technologisch hybrid ist ihr Komponieren durch die Verwendung digitaler Medien. Gerade in der subtilen Art und Weise, mit der Elektronik und Instrumentalklang in ihren Werken verschmelzen, kommt eine außergewöhnliche Expertise zum Tragen, die das Ergebnis eines beeindruckenden Ausbildungswegs ist: Die Komponistin arbeitete zunächst in angewandten Berufen, bevor sie relativ spät zur neuen Musik fand. In einer großen Familie aufgewachsen, in der alle Kinder die Möglichkeit erhielten, ein Instrument zu erlernen, wurde sie viele Jahre klassisch an der Geige unterrichtet. Später kam der Jazz-Unterricht bei einem Lehrer hinzu, der Kilger mit elektronischen Pedal-Effekten bekannt machte. Neben dem Jazz wurde dann in den Jungendjahren zunächst der Hip-Hop wichtig. Schließlich ebneten ihre ersten mehrkanaligen Tonaufnahmen den Weg in die Komposition.
Ich würde sagen, ich habe immer schon komponiert. Ich habe tatsächlich schon als Kind immer schon Klänge kombiniert, viel improvisiert, und habe dann eben gemerkt: Wenn ich Sachen durchs Aufnehmen festhalten kann, dann kann ich verschiedene Layer erzeugen. Das war für mich erst mal die Art des Komponierens: Sachen zu kombinieren. Dann natürlich mit der Geige, wenn man improvisiert, da war ich immer ganz nah an der Komposition dran. Über das Musikdesignstudium, wo Komposition schon ein Teil war, habe ich dann zum ersten Mal richtig Noten geschrieben, die andere Leute spielen sollen.
Obwohl viele Jahre solide an ihrem Instrument ausgebildet, wurde eine musikalische Laufbahn in ihrer Familie nicht als ernstzunehmender Berufswunsch betrachtet. Der Schulbank überdrüssig entschied sich Lucia Kilger nach dem Abitur für eine Ausbildung als Bild- und Tongestalterin. Nach der Lehre und ersten Arbeitsjahren in diesem Beruf führte sie ihren Bildungsweg an der Hochschule für Musik in Trossingen fort. Hier machte sie 2017 ihren Bachelor im Fach Musikdesign – ein technisch orientiertes Musikstudium, das nicht explizit im Zeichen der Neuen Musik steht, in ihrem Fall aber für ihre künstlerische Laufbahn prägend war, da sie im Rahmen eines Praktikumssemesters das Freiburger Experimentalstudio des SWR kennenlernte.
In Trossingen muss man ein Semester lang ein Praktikum machen, da hatte ich die Chance, im Experimentalstudio ein halbes Jahr lang zu arbeiten. Und das war eine prägende Zeit für mich. Da hatte ich plötzlich Zugriff auf ein riesiges Archiv mit Material, sowohl Partituren als auch CDs mit Mehrkanalaufnahmen, die man ja so einfach nicht in die Hände bekommt. Wenn ich nicht an Produktionen beteiligt war, habe ich mich hingesetzt und die Sachen angehört und tief in die Musik hineingeschaut, und das war sehr prägend für mich. Das war für mich die Erfahrung, wo ich sagte: Da will ich sein! Ich würde behaupten, dass es nirgendwo so viele Klangregisseur:innen gibt, die Partituren lesen können, technisch sehr versiert sind, die programmieren können, die wirklich mit Komponist:innen so eng zusammenarbeiten, dass da wirklich alles möglich ist. Das ist sehr beeindruckend. Da auch zu sehen, auf welch hohem Standard dort elektronisch gearbeitet wird und wie präzise. Das ist Wahnsinn.
Dem Trossinger Studium folgten von 2017 bis 2019 das Kompositionsstudium bei Michael Beil in Köln und ein Masterstudium mit Schwerpunkt Klangregie an der Frankfurter Internationale Ensemble Modern Akademie (IEMA) in den Jahren 2019/2020. Mit einem Konzertexamen 2023 schloss Lucia Kilger dann ihre Ausbildung bei Brigitta Muntendorf in Köln ab.
Witzig war, dass ich mich bei Michael Beil mit sehr multimedialen Stücken beworben hatte und er relativ zu Beginn des Unterrichts zu mir gesagt hat: „Das Multimediazeug, das kannst du. Jetzt spezialisiere dich bei mir mal mehr auf die Instrumente!“ Also auf das, was die Instrumente live auf der Bühne machen. Und das habe ich als Chance wahrgenommen und gesagt: „Hey, das kannst du hier nochmal ganz anders lernen!“ Und ich hatte auch die Möglichkeit, mit der Musikfabrik extrem viel auszuprobieren. Mit solchen Musiker:innen zu arbeiten, ist ein großes Privileg. Also habe ich gesagt, ich fokussiere mich wirklich auf die Musiker:innen auf der Bühne in Kombination mit der Elektronik oder Live-Elektronik. Das war wirklich mein erster Fokus bei Michael. Von Brigitta Muntendorf habe ich extrem viel mitgenommen, was das Notieren angeht – wie man notiert und was sich eignet. Ich habe bei ihr extrem viel gelernt, was Probendynamik angeht, wie man kommuniziert mit Musiker:innen. Ich habe bei ihr gelernt, wirklich Sachen auszuprobieren und nicht Ideen zu schnell zu verwerfen und zu kritisch zu sein. Also den Begriff des „Try Outs“, den habe ich durch sie kennengelernt. Dass man wirklich mit einer noch so kleinen Idee auf jemanden zugehen kann und sagen: „Hey, was würdest du dazu machen?“ Und dann arbeitet man mit Menschen zusammen und die interpretieren das auf ihre Art, und dann kann man mit Leuten ganz andere Sachen erarbeiten als das, was man sich zuhause im Kämmerlein vorstellt, wo man schon, bevor man es gehört hat, sagt: „Nee, das ist es nicht wert, es weiterzudenken.“ Und diese konstruktive Herangehensweise hat mir sehr gutgetan. Mutiger zu sein und wirklich Sachen auszuprobieren. Vielleicht auch mit einer Ungewissheit in die erste Probe zu gehen und das auch auszuhalten, dass man noch nicht alles kontrollieren kann und noch nicht genau weiß, wie es klingt.
Bei der Verwendung live-elektronischer Mittel und bei der Beschäftigung mit neuen Spieltechniken ist die Komposition eines neuen Werks kaum ohne einen intensiven Austausch mit den Interpret:innen möglich. Die von Kilger erwähnte Praxis des „Try-Outs“ steht für Experimente in Einzelproben, die den meist knapp bemessenen Ensembleproben vorgelagert sind. Hier geht es um die Erprobung bzw. Findung von Neuem. Ein Beispiel für diese Praxis ist das 2021 für die Streicher:innen des Ensemble Musikfabrik komponierte Quartett „Quify“, das während der Corona-Pandemie entstand. Neben der Verzahnung von Live-Elektronik und Streicherklang beschäftigte sich Kilger im Austausch mit den Musiker:innen mit der Erweiterung bekannter Spieltechniken. Stellenweise exponiert in dem Stück ist das Ricochet, bei dem der Bogen leicht auf die Saite geworfen wird, um hüpfend abzuprallen. Zusammen mit den Musiker:innen erprobte Kilger, wie weit verschiedene Arten der Tonerzeugung ausgereizt werden können.
Es geht viel um Balance und Stabilität. Das ist ja auch für mich eine besondere Gattung als Streicherin, das war sozusagen mein eigenes Instrument. Und dann noch diese große Gattung! Wie nähere ich mich dem Ganzen? Und da habe ich zum einen gesagt, ich möchte die Elektronik spielen wie ein Streichinstrument, also es geht viel um Glissandi, es geht viel um Vibrato und um Flageoletts. Das sind Spieltechniken, die für mich ganz arg mit einem Streicherklang zusammenhängen. Und ich möchte auch mit der Elektronik diese Spielarten machen. Und deshalb habe ich mir einen Fader eingerichtet, mit dem ich den Klang bewegen konnte, wie ich es auf der Geige auch machen kann, d.h. ich habe die Elektronik eigentlich gespielt wie ein Streichinstrument, habe aber den Streicherklang in Bereiche erweitert, in die die Streicher nicht reinkommen. Oder es gibt eine Stelle, wo die Elektronik ein Vibrato macht, und dann geht es ins Cello über und man hört gar nicht den Moment, wo es ins echte Cello übergeht, so dass sich das elektronische Streichinstrument zum Teil mit den Streichern verbindet und zum Teil nicht.

Das Kölner Ensemble Musikfabrik kooperiert seit vielen Jahren in den Veranstaltungsreihen „Studio Musikfabrik“ und „Adventure“ mit der Kölner Hochschule für Musik und Tanz und fördert so junge Instrumentalist:innen und Komponist:innen. Das Ensemble bündelt seine pädagogischen Angebote unter dem Titel „Akademie Musikfabrik” und ist gewissermaßen das nordrhein-westfälische Pendant zur IEMA, die seit 2003 in Kooperation mit der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt Ausbildungsprogramme für den musikalischen Nachwuchs auflegt. An der IEMA machte Lucia Kilger einen Master in Klangregie bei Norbert Ommer, der seit den 1990er Jahren als Sounddesigner und Klangregisseur mit dem Ensemble Modern zusammenarbeitet. Bis heute plant und realisiert Lucia Kilger die Setups für Ihre Werke selbst, und auch die Abmischungen der Aufnahmen ihrer Stücke sind in der Regel aus ihrer Hand. Ein Werk aus ihrer Zeit an der IEMA ist das 2020 komponierte Flötenstück „drift“, das zum Ende ihres Studiums in Frankfurt entstand. Sie komponierte „drift“ als Beitrag für ein einstündiges Soloprogramm der Flötistin Lina Andonovska, die zeitgleich in Frankfurt studierte und heute international tätig ist. Das Stück schöpft aus den Möglichkeiten des erweiterten Flötenspiels und erprobt mit verschiedenen Mitteln die live-elektronische Verzahnung. Die rund sieben Minuten der Komposition werden durch zwei ausgedehnte Generalpausen in drei Abschnitte untergliedert. Der erste Abschnitt, in dem die Elektronik nur sparsam zum Einsatz kommt, ist mit einem Flötenspiel, das durch Rauschklänge und Vokaleinschübe erweitert ist, als virtuos gestaltete Exposition komponiert. Extrem verhallte oder elektronisch eingefrorene Flötenspektren bestimmen den mittleren Teil. Hier ist der Flötenklang mit Hilfe der Elektronik zeitlich ausgedehnt und scheint von der Begrenzung des Atembogens befreit zu sein. Der abschließende dritte Teil ist wie die Exposition solistisch virtuos angelegt; die Flöte erklingt nun jedoch in pointierter Synchronisation mit elektronischen Klängen.
Das Flötensolo „drift“ war der Probelauf für eine weitere Zusammenarbeit mit Andonovska. Im Dezember 2023 folgte die Dubliner Uraufführung eines großen Solo-Stücks, das den Namen „nournimity“ trägt. Das einstündige Werk für Kontrabass- und C-Flöte solo, Vierkanal-Elektronik, Licht und Performance greift Ideen aus „drift“ auf, ist jedoch als abendfüllendes Stück flächiger angelegt, und es ist wie viele Werke von Kilger performativ erweitert. Schon mehrfach zuvor, etwa in dem Ensemblestück „oscian“ oder dem Video zum Streichquartett „quify“, hatte Kilger mit Ria Rehfuß zusammengearbeitet. Die Tänzerin und Choreografin hat in Trossingen Bewegung, Tanz und Klavier studiert und ist dort seit 2010 Lehrbeauftragte für Bewegung und Tanz.
Wir haben gemeinsam an einem Musikvideo von einem Freund von mir gearbeitet, wo sie die Hauptperson war, die gefilmt wurde, und ich war hinter der Kamera. Ich fand, dass sie sich unheimlich gut bewegen kann. Wenn man eine Anweisung gibt, bietet sie fast wie eine Schauspielerin eine sehr spannende Interpretation an, und wenn man etwas anderes möchte, hat sie auch Alternativen in petto. Und ich finde, dass sie ein wahnsinnig gutes Gespür hat für Timing. Timing war für mich immer schon so ein Thema auch mit Video und Musik, und jetzt auch nochmal das Verhältnis von Timing mit Tanz, Bewegung und Musik usw. Eigentlich ist die Zeit ein ganz wichtiger Faktor in der Komposition und in der Musik, und wenn da ein Mensch ist, der ein ganz bestimmtes Zeitgefühl hat, das spüre ich irgendwie – da hatten wir schnell eine Connection. Sie hat die Gabe, sich Sachen auch unheimlich gut übers Ohr zu merken, d.h. sie orientiert sich in meiner Musik über bestimmte Cues, die sie hört, die für andere vielleicht gar nicht offensichtlich sind. Wir arbeiten ganz viel mit Bildern, und deswegen würde ich sagen: Sie ist immer eine Figur, sie hat eine Rolle, und diese Figur entwickelt sich und dann legen wir ganz bestimmte Bilder zu einem Timing und die Entwicklung von Bild zu Bild fest. Wir haben inzwischen schon verschiedene Arbeitsprozesse durchgemacht, z.B. auch, dass wir viel digital arbeiten und uns gar nicht treffen, eine Art Ping-Pong Arbeit. Und ich liebe einfach ihre Bühnenpräsenz, und sie ist einfach wahnsinnig hart im Nehmen, und wenn ich mir etwas wünsche, versucht sie es möglich zu machen.
Ein weiteres Beispiel für die wechselseitige Inspiration der beiden Künstlerinnen ist die im November 2023 in Köln uraufgeführte Komposition “demouirise“ für Ensemble, Elektronik und Performance. Die ersten Entwürfe für das Stück machte Kilger in Reaktion auf eine gefilmte Tanzimprovisation von Rehfuß. Aus der musikalischen Ausdeutung des Videos, dass bei der Aufführung keine Rolle mehr spielt, entstand eine rund achtzehnminütige Komposition, die von Rehfuß dann live auf der Bühne tänzerisch interpretiert wird. Obwohl Kilgers Musik durchaus eruptive Momente haben kann – „demouirise“ etwa mündet nach einem ausgedehnten Instrumentalteil in ein rein elektronisches Finale, das Elemente des Techno verwendet –, verweilen ihre Stücke meist im Zarten und Transparenten. Ohne dass sie ein Vorbild im konkreten Sinne wäre, schätzt Kilger die Musik Mark Andres, die oft am Rande der Stille jene Zwischenräume öffnet, welche ein intensives Horchen in die Klänge hinein ermöglichen. Kilger geht es um Balancen, die das innermusikalische Gleichgewicht ebenso betreffen wie das Gleichgewicht zwischen den unterschiedlichen Künsten oder Medien, die zum Einsatz kommen. In „demouirise“ spielen sich die fein verwobenen Instrumentalstimmen nirgends durch solistische oder expressive Gesten in den Vordergrund. Kilgers Mixturen stehen uneingeschränkt im Dienst einer Klangfarbigkeit, die einen vielgestaltigen, aber auch verhaltenen Hintergrund für Ria Rehfuß‘ Bewegungskunst liefert. Musik und Tanz bedingen sich hier, ohne in Konkurrenz zu treten.

Die Komposition „demouirise“ wurde im November 2023 in der Kölner Feuerwache im Rahmen des Festivals „Frau Musica Nova“ von dem Freiburger Ensemble „Scope“ uraufgeführt. Das von der Dirigentin Friederike Scheunchen gegründete Ensemble versteht sich als Kollektiv, das durch den Einbezug von Elektronik, Licht, Video, Performance und Set Design neue Konzertformate erproben möchte. Die Ensemble-Programme werden von Scheunchen, dem Komponisten Clemens K. Thomas und auch von Lucia Kilger kuratiert. Kilger betont, dass die inzwischen langjährige, intensive Zusammenarbeit mit Scheunchen, Thomas und den Musiker:innen von Scope wichtig für ihre eigene künstlerische Entwicklung war.
Das Ensemble Scope wurde zunächst mal 2018/19 von Friederike Scheunchen gegründet, einre Dirigentin in Freiburg, aber in sehr enger Zusammenarbeit mit mir und Clemens K. Thomas, einem Komponisten aus Freiburg bzw. jetzt Hamburg. Wir haben uns erst mal angefreundet und dann sehr schnell gemerkt, dass uns ähnliche Sachen interessieren, und zwar ein thematischer Bezug zu Projekten. Wir wollen aus dem klassischen Konzertformat ein bisschen ausbrechen und uns zusätzlich einen thematischen Bezug setzen. Und wir haben einen relativ großen Klangkörper als Ensemble, der dirigiert wird durch Friederike. Gleichzeitig komponieren Clemens und ich immer ein Stück pro Programm und wir laden auch immer noch zwei oder drei Gäste mit ein, die auch komponieren für dieses Projekt. Es wird ein Stück mit thematischem Bezug angefragt, und die Pflicht ist dann für alle, die da arbeiten, dass man ganz viel kommuniziert bevor das Stück da ist, damit man eine Ahnung hat, um was es thematisch geht, was die anderen machen, damit man sich selber positioniert in einem gesamten dramaturgischen Bogen. Und gleichzeitig ist uns wichtig, dass auch mit Video, Licht, Tanz gearbeitet wird, also mit verschiedenen Sparten, so dass die Musik Teil des Ganzen ist. Es ist insgesamt eine riesige Show.
Bei „Scope“ geht es um thematische Setzungen und um die dramaturgische oder szenografische Verbindung der für einen Abend programmierten Stücke. Der „Frau Musica Nova“-Abend in der Kölner Feuerwache trug den Titel „*In_Charge“, ein Motto, das als „verantwortlich“, „federführend“ oder „in leitender Position“ übersetzt werden kann. Da Führung in der Ensemble- und Orchesterarbeit eine wichtige Rolle spielt, thematisierten die Kompositionen von Sara Stevanovic und Clemens K. Thomas mit pointiertem Einsatz von Video und Performance die Rolle des Dirigats.
Für Lucia Kilger dürfte das Motto noch weitreichendere Bedeutung gehabt haben, denn die Komponistin übernahm 2023 die Leitung der „Frau Musica Nova“-Reihe von ihrer ehemaligen Lehrerin und Kollegin Brigitta Muntendorf und der Dramaturgin Beate Schüler.
1997 von der Musikpublizistin Gisela Gronemeyer und der Pianistin Deborah Richards gegründet, steht „Frau Musica Nova“ seit über fünfundzwanzig Jahren für die Eigeninitiative und Selbstermächtigung von Musikerinnen und Komponistinnen, die bedauerlicherweise bis heute weit von der paritätischen Repräsentation im Musikbetrieb entfernt sind.
Das ist die meist gestellte Frage zu dem Festival: Braucht es noch dieses Festival? Und ich muss und werde das mit einem ganz klaren Ja beantworten, denn es ist noch lange nicht da, wo es hinmuss. Es ist zwar etwas passiert, das ist richtig, aber es ist noch nicht genug passiert. Und deswegen habe ich dieses Erbe gerne angetreten. Dazu muss ich sagen, dass ich seit einigen Jahren schon mit Brigitta Muntendorf gemeinsam im Vorstand war, weil hinter diesem Festival ein Verein steht. Es klingt immer so komisch zu sagen, dass Frauen benachteiligt sind und dass man sich dann wie eine Minderheit fühlt, weil Frauen ja die Hälfte der Menschheit sind. Aber es gibt bestimmte Erfahrungen, die man macht, die alltäglich sind und die einfach wahnsinnig verbünden. Und die vielleicht auch nicht wirklich nachvollziehbar sind, für Menschen, die davon nicht – ich sage es mal in Anführungszeichnen, weil es ein großes Wort ist – „betroffen“ sind.
Der Me-Too-Debatte war es zu verdanken, dass sich in den letzten Jahren das gesellschaftliche Bewusstsein für strukturelle Diskriminierung und Missbrauch verstärkt hat. Der Schlagkraft der Debatte ist es geschuldet, dass in der Kultur inzwischen spürbare Konsequenzen gezogen wurden, Dirigentinnen und Komponistinnen sichtbarer und Intendanzen und Festivalleitungen häufiger in die Hände von Frauen gelegt werden. Andererseits sind bedenkliche Rückschläge zu verzeichnen, etwa die ausufernde Misogynie und Homophobie in den sozialen Netzwerken oder der extrem sexualisierte Mainstream, der überholten Rollenmustern eine Renaissance bereitet. So sind dann im Widerstreit zwischen Gender-Debatte und Populismus Künstlerinnen, die mit ihrer Arbeit sichtbar werden, immer noch notgedrungen und notwendigerweise „Role Model“ für einen gesellschaftlichen Wandel. Lucia Kilger, die sich mit ihrem Ausbildungsweg in eine noch weitgehend männliche Domäne begeben hatte, kann dieser Rolle erfreulicherweise als Professorin für Komposition und Sounddesign für digitale Medien am Kreativinstitut-Ost-Westfalen-Lippe in Detmold nachkommen. Das im Verbund der Universität Paderborn, der TH Ostwestfalen-Lippe und der Hochschule für Musik Detmold gegründete und 2023 in einem Neubau eröffnete Institut wird zukünftig als Schnittstelle zwischen Kreativwirtschaft und Kultur in allen Bereichen der digitalen Medienproduktion forschen:
Mein spezifisches Steckenpferd wird in Richtung 3D-Audio gehen, also virtueller Raum, virtuelle Komposition für Projekte, die vielleicht irgendwann gar keinen Bezug mehr zu Realität haben werden, bis dahin aber beide Elemente miteinander verbinden. Wir bauen in das Institut eine Abisonics-Anlage rein, wir können dann ohne Kopfhörer wirklich 3D abhören, also nicht binaural, sondern wirklich im Raum. Wir können Projekte mit unterschiedlichen Speaker-Lay-Outs machen, die wir dann verschieben können. Und nebenan ist ein Green-Screen-Studio für Body Tracking, wo man Videoaufnahmen machen kann, auch Body Scans, 3D-Aufnahmen vom eigenen Körper, die man dann später über eine virtuelle Figur, die sich bewegt, legen kann. Das können wir dann gemeinsam in Bezug setzen und gemeinsam erarbeiten. Also Game Design und Sound für virtuelle Anwendungen, für digitale Anwendungen. Aber natürlich gibt es an der Musikhochschule viele Instrumental:istinnen und die Neue Musik. Was wir auch machen wollen, ist Mikrophonie für virtuelle Welten, weil es ja sehr aufwendig ist, Aufnahmen zu machen, die einen 3D-Raum bieten, und da wollen wir eben forschen: Wie können wir welche Mikrophone positionieren, dass man sich vielleicht sogar im Ensemble befindet? Wie kann man es umsetzen, dass man sich in diesem Raum bewegen kann und es trotzdem natürlich klingt, auch wenn da ein ganzes Orchester sitzt? Also in meinem Team, dem HfM-Bereich in diesem Kreativ-Institut, sind wir zu fünft, und da werden viele spannende Sachen entstehen.
Immersion und virtueller Raum betreffen heute im hohen Maße die Spiele- und Filmindustrie, aber selbstverständlich beschäftigen sich Künstler:innen auch in der Neuen Musik mit der Gamifizierung und Hybridisierung von Kompositionen und Konzertformaten. Dass Lucia Kilger auf diesem Gebiet nun am Kreativinstitut in Detmold forschen kann, ist wohl der Tatsache zu verdanken, dass sie sich gemeinsam mit ihrem Kollegen Nicolas Berge schon recht früh mit hybriden Formaten beschäftigte. Für die Münchener Biennale 2022 realisierten Kilger und Berge ein immersives, intermediales Musiktheater mit dem Titel „GOOD FRIENDS CLUB“ für Viola, Kontrabass, Schlagwerk, Schauspiel, Video und Elektronik. 2021 entstand für das „Next Level Festival For Games“ auf der Zeche Zollverein in Essen der Videowalk „deviation“ für Viola, Kontrabass, Perkussion, Tanz und mobiles/binaurales Videozuspiel über Tablet. Und schon 2018 hatten Kilger und Berge dieses Set-Up in ihrem Wandelkonzert „frames“ erstmalig erprobt.
Wir haben uns tatsächlich an der Hochschule kennengelernt, über ein Projekt, wo wir mutigerweise direkt zusammengearbeitet haben, ein Videoprojekt für Michael Beils Klasse. In der Hochschule haben wir einen Video-Walk gemacht, der nach einer festen Zeitvorgabe durch die Katakomben der Hochschule geführt hat. Wir haben diese Räumlichkeiten und Performance-Elemente gefilmt. Gleichzeitig ist der Ton binaural aufgenommen, über Mikrophone in den Ohren, und wenn man sich das später über Kopfhörer anhört, hört man das dreidimensional, man hört hinten, vorne, oben, unten. Diese Kopfhörer sind so speziell gebaut, dass sie halb offen sind, d.h. man hört alles, was in Wirklichkeit passiert, genauso gut wie das, was vorproduziert ist, d.h. man kann nicht mehr unterschieden, was der Klang ist, der über den Kopfhörer kommt, und was ich in Wirklichkeit höre. Gleichzeitig läuft das Publikum mit diesem Tablet, auf dem das Video läuft, die gleiche Strecke ab im gleichen Timing, aber es passieren andere Sachen. Man ist die ganze Zeit in einem Modus: “Was ist echt? Den habe ich jetzt schon mal gesehen, aber war das im Tablet oder war es in echt?“ So hat man wirklich wahnsinnig viele Spielräume mit Verschiebungen, verschiedenen Abstraktionsgraden, welche Ebene in den Vordergrund rückt und warum. Das ist ein riesiges Verwirrspiel und eine wirklich intensive Erfahrung, die wirklich nur auf die Person abzielt, die da gerade langläuft.
Kilgers Projekte mit Nicolas Berge untersuchen die Frage, ob durch die Verbindung und Überlagerung von Konzert und virtuellem Raum gänzlich neue Aufführungsformate denkbar sind. Vermutlich haben wir heute noch nicht ansatzweise eine Vorstellung davon, in welcher Weise virtuelle Welten mit der Musikpraxis verschmelzen können, denn Projekte dieser Art stecken noch im Stadium der künstlerischen Forschung. Als Komponistin und künstlerische Forscherin am Kreativinstitut in Detmold wird Lucia Kilger hier in Zukunft sicherlich spannende Beiträge leisten. Doch auch wenn sie in der Handhabung audiovisueller und digitaler Medien fundiert ausgebildet ist und Elektroakustik und digitale Medien in ihren Werken allgegenwärtig sind, zeigt doch ihr ausgeprägtes Interesse am Tanz als einer archaischen Kunst, die ohne technische Hilfsmittel auskommt, dass künstlerisches und technologisches Interesse bei ihr nicht gleichzusetzen sind.
Häufig verhalten und zurück genommen setzt ihre Musik nie auf digitalen Effekt oder medialen Zauber. Im balancierten Einbezug von Tanz, Bewegung, Performance und Video gewährt ihre Musik den jeweils anderen Künsten Raum, ohne ihre Autonomie und Stärke einzubüßen.
Eine Sendung für den DLF Kultur/Neue Musik am 13. Februar 2024, Redaktion: Carolin Naujocks.
Das Interview mit Lucia Kilger führte Hubert Steins am 16. Januar 2024 in Köln.
1 Das offene Kunstwerk Frankfurt/M. 1977 , S. 36.
2 Ebd.