Klein-Texas
BerichtUraufführung von Ludger Vollmers „Rummelplatz“ an der Oper Chemnitz
Mit der Uraufführung von „Rummelplatz“ widmet sich die Chemnitzer Oper einem Stoff, der tief in die ostdeutsche Erinnerungsgeschichte eingeschrieben ist: dem Uranabbau im Erzgebirge. Grundlage bildet das gleichnamige Romanfragment des in Chemnitz geborenen Werner Bräunig, das von Jenny Erpenbeck zu einem Libretto verdichtet und von Ludger Vollmer in eine zweieinhalbstündige Komposition gefasst wurde. Umrahmt von einem zweitägigen Symposium, wurde die Produktion als Prestigeprojekt des europäischen Kulturhauptstadtjahres ausgewiesen und stieß am Premierenabend auch auf ein ausverkauftes Haus.
Bräunigs Romanfragment
Werner Bräunigs fragmentarisch gebliebener Roman gilt als einer der Schlüsseltexte der DDR-Literatur. Der Autor beschreibt darin das Leben junger Männer in den frühen fünfziger Jahren, die im Bergbau der Wismut AG Uran für die sowjetische Atomindustrie abbauen. Im Oktober 1965 veröffentlichte die Zeitschrift für Neue Deutsche Literatur erstmals ein Kapitel daraus, woraufhin Bräunig sofort ins Visier der Parteiführung geriet. Damals selbst SED-Mitglied und als Vertreter des sozialistischen Realismus hochgeschätzt, wurde der Autor im berüchtigten „Kahlschlag-Plenum“ öffentlich demontiert. Die Schilderungen einer im Rausch entgrenzten Männerrunde auf dem Rummelplatz galten der Parteiführung als Angriff auf das sozialistische Menschenbild. Bezeichnend ist Walter Ulbrichts Verdikt:
„Dort werden nun alle Schweinereien geschildert, die möglich sind und damals möglich waren: wie sie [die Bergmänner] saufen, wie sie mit den Frauen umgehen, wie sie sich Krankheiten beschaffen usw. […] Ich stelle hier ganz einfach die Frage der gemeinsamen Verantwortung aller für die moralische Entwicklung. […] Wir geben uns Mühe [, die Jugendlichen] zu erziehen. Aber mit solchen Romanen wie ,Rummelplatz’ kann man sie nicht erziehen.“1
Bräunig wurde daraufhin aus der Partei ausgeschlossen und entwickelte eine Alkoholsucht, an der er zehn Jahre später starb. Nach der Wiedervereinigung gingen die Manuskripte an seine Erben. 2007 erschien das 660 Seiten umfassende Romanfragment mit einem Vorwort von Christa Wolf. Heute gilt „Rummelplatz“ vielen als zentraler Identitätsroman der DDR. Dass die Oper Chemnitz diesen Stoff in Auftrag gab, ist nicht nur kulturpolitisch bedeutsam, sondern auch ein wichtiger Versuch, ostdeutsche Erinnerungsgeschichte im Musiktheater zu verhandeln.

Unter Tage
Regisseur Frank Hilbrich und Szenograph Volker Thiele verorten das Geschehen auf einer schlammverschmierten, in dunkles Grau gehüllten Bühne, vor deren Hintergrund hohe Betonmauern den Eisernen Vorhang antizipieren. Obersteiger Hermann Fischer empfängt neue Arbeitskräfte für seinen Schacht. Unter ihnen: Christian Kleinschmidt, ein Professorensohn, der sich die Studienerlaubnis „im Schacht“ verdienen muss, und Peter Loose, ein Kleinkrimineller, der seine Strafe unter Tage abbüßen soll.
Den Abend vor dem ersten Arbeitstag verbringen Christian und Peter in einer Bahnhofskneipe bei reichlich Bier, wobei die zentralen Themen gesetzt werden: Identität, Ideologie und Exzess – eindrucksvoll illustriert durch die Gegenüberstellung der drei Riesen und der drei grellen Mädchen. Während die Riesen die „übermächtigen Kräfte“ darstellen, die das Leben der Bergarbeiter bestimmen, kommentieren die Mädchen als in die Handlung integrierte Metafiguren diese Verhältnisse. Trotzdem bleibt die Figurenkonstellation übersichtlich.
Auffällig ist die konstante Bewegung aller Darstellenden in Zeitlupe. Die Musik arbeitet im Kontrast dazu stark rhythmisch, vorwiegend in triolischen Figuren, und mit zahlreichen Zitaten. Schon nach wenigen Minuten erklingt die von Stalin eingeführte Hymne der Sowjetunion. Vollmer arbeitet wie einst Wagner mit einer Leitmotivtechnik. Der Komponist selbst spricht von „Klangsymbolen“. Das „maschinelle Funktionieren“ etwa übersetzt er in auf- und absteigende Ganztonleitern, die erstmals im Schacht auftreten. In der vierten Szene des ersten Aktes hebt sich die Bühnenversenkung und führt zu einer illusionistischen Raumtransformation. Der Gesamtraum wird nach unten geöffnet. Dort zeigt die Bühne einen Frontalschnitt durch die Untertage-Schächte – pechschwarz bis auf die leicht beleuchteten Gänge, in denen Erz abgebaut wird.

Die gesundheitlichen Risiken dieser harten Arbeit wurden damals kaum kommuniziert, sondern durch die ökonomischen Anreize relativiert: Bis zu 4000 Ost-Mark Monatslohn machten den gefährlichen Dienst für viele attraktiv. Zudem bot die Wismut AG zahlreiche Vorteile, darunter Kaufhäuser mit Sondergeschäften, die ausschließlich Mitarbeiter:innen vorbehalten waren und nicht zuletzt den berüchtigten „Bergmannsfusel“ verkauften.
Rummelplatz
In der titelgebenden Szene drängen unterdrückte Affekte und Alkoholdurst ins Freie – so auch bei Christian und Peter. Letzterer will sich an der Überschlagsschaukel beweisen und schafft zweiunddreißig Umdrehungen. Dass sich der Rummelplatz auf einem ehemaligen Friedhof befindet, steigert die Szene zu einem Ort des Widerspruchs.
Die Inszenierung verliert aber nach starkem Beginn zunehmend an Präzision. Lichterketten, Projektionen und Schattenspiele verharren im Dekorativen. Auch die Überschlagsschaukel wird nicht überzeugend theatralisch realisiert, sondern in eine Video-Traumsequenz überführt, die im Vergleich zur reduzierten Strenge der ersten Szenen disparat wirkt – auch wenn sie der Idee einer Nahtoderfahrung entspricht. Neben Flageoletts beim Überschlagen und zahllosen Volksmusikzitaten wirkt spätestens hier auch die permanente Zeitlupenbewegung der Darsteller:innen überstrapaziert und unpassend zur Musik. Hilbrich fällt eine ästhetische Entscheidung, die den Realismus der Handlung ohne Rücksicht auf Verluste in eine artifizielle, fast statuarische Dimension verschiebt.
Die stets repetitive und aus komplexen rhythmischen Läufen bestehende Musik überlagert die Handlung, besonders wenn mehrere Chöre die Bühne füllen, die das Bühnengeschehen kommentieren und die Generation repräsentieren, die teils vom Krieg gezeichnet und traumatisiert ist und zwischen Täter- und Opferrolle ringt. In Chemnitz treten neben dem Opernchor auch der Kinder- und Jugendchor des Theaters auf.

Wir machen Erz. Das Erz macht uns.
Im Zentrum des zweiten Akts steht Ruth, die Tochter von Hermann Fischer. Anders als viele ihrer Altersgenossinnen entscheidet sie sich, unter Tage zu arbeiten. Während Christian und ein Chor aus Bergmännern vom kollektiven Durchhalten und Vertrauen singen – „Wir machen Erz. Das Erz im Gegenzug macht uns“ –, bricht plötzlich ein Feuer aus. Das Grubenunglück markiert eine klangliche Zäsur: Während zuvor homophone Männerchorsätze die Gemeinschaft beschworen haben, kippt das musikalische Gefüge nun in orchestrale Clusterbildungen und endet in einer Generalpause. Die Positionierung der Pause zwischen Katastrophe und Tod wirkt jedoch deplatziert und unterbricht den Spannungsbogen. Die emotionale Anschlussfähigkeit wird blockiert.
Nach der Pause sieht man unvermittelt die mit Leichentüchern bedeckten Bergarbeiter am Boden liegen – nur einen konnte man retten. Ruth und Christian lernen sich bei der Katastrophe kennen. Es stellt sich heraus, dass Sabotage das Unglück verursacht hat. Parteifunktionär Nickel fordert, die „Feinde des Kommunismus“ auszumerzen, während Altkommunist Fischer die Partei in der Pflicht sieht, die Arbeiter:innen für sich zu gewinnen. Die Auseinandersetzung wird choreografisch in einem Tanzprotest fortgeführt: Vollmer transkribiert dafür einen Elektropop-Beat ins Orchester, die Darsteller:innen brechen aus der bis dahin strengen Zeitlupenbewegung mit tänzerischen Gesten aus. Historisch ließe sich dies als postmoderne Neuinterpretation des „Lipsi-Tanzes“ lesen, jener von der DDR-Führung propagierten Alternative zum Rock’n’Roll. Dramaturgisch wirkt die Tanzszene jedoch etwas zu lang. Auch der Protest in der Handlung bleibt erfolglos – die Staatsmacht greift durch und Peter Loose wird verhaftet.

Hohes Gericht
Der dritte Akt akzentuiert die philosophische Dimension von Bräunigs Roman, die dort insgesamt jedoch stärker ausgeprägt ist. Zu Beginn besucht Christian Kleinschmidt seinen kranken Vater im Leipziger Krankenhaus. Ihr Gespräch ist weniger von familiärer Nähe als von ideologischer Distanz geprägt. Vollmer arbeitet dabei wieder stark mit Zitaten: „Freude, schöner Götterfunken“ und „Eine kleine Nachtmusik“ erscheinen als Marker einer kulturellen Tradition, die zugleich affirmiert und infrage gestellt wird. Im Dialog wird die zentrale Frage formuliert: „Ist der Mensch reif sich zu beherrschen und das, woraus er gemacht ist?“.
Peter Loose steht vor Gericht. Er schweigt und wird als Staatsfeind verurteilt – er sei Sohn eines SS-Mannes und ideologisch ungefestigt. Während sich Ruth für ihn einsetzt, protestiert der Chor für die Freilassung aller politischen Häftlinge und für den Rücktritt der Regierung. Hermann Fischer stellt sich gegen sie. Als Altkommunist glaubt er an die „gute Seite“ der Partei. Während der Protest gewaltsam niedergeschlagen wird, fällt ein Schuss. Fischer bricht zusammen und stirbt mit den Worten: „Die Wahrheit ist so ein endloses Ereignis, dass man sich ihr immer nur nähert, an kommt man nie.“ Es ist der Aufstand des 17. Juni 1953.
Epilog
Jenny Erpenbeck ergänzt im Libretto einen Epilog, der in die 1990er Jahre führt. Nach der Abwicklung der Wismut begegnen sich Ruth und Christian erneut. Ruth ist an Krebs erkrankt, Christian hat eine Professur in Boston angenommen. Dieser dramaturgische Rahmen schlägt zwar einen Bogen in die Nachwendezeit, nicht aber in die Gegenwart, etwa durch Reflexion des US-amerikanischen Kontextes. Die inszenatorische Setzung wirkt unbefriedigend, weil sie die historischen Konfliktlinien zwar markiert, aber nicht in eine weiterführende Perspektive überführt. In jedem Fall aber zeigt die Szene diejenigen, die als Sieger hervorgehen, und jene, die von der Arbeit zerstört wurden.

Identitätsoper
Die Uraufführung von „Rummelplatz“ endet in einer eigentümlichen Schwebe: Fragen nach Freiheit, Identität und individueller Verantwortung werden aufgeworfen, aber nicht stringent beantwortet, viele biografische Linien werden angedeutet, aber nicht konsequent weitergeführt. Angesichts der Fülle historischer Bezüge und der Komplexität von Bräunigs Roman hätte eine stärkere dramatische Durchdringung die Wirkung der Aufführung erheblich gesteigert. Die Transformation eines literarischen Schlüsselwerks der DDR in eine Oper ist ein seltenes Unterfangen. Leider bleibt die Umsetzung von Bräunigs Romanfragment hinter den Möglichkeiten zurück. Die Inszenierung verliert sich in Wiederholungen, das Libretto reduziert die sprachliche und philosophische Dichte der Vorlage, und die Musik illustriert mehr, als dass sie eigenständige ästhetische Setzungen vornimmt.
Trotz dieser Schwächen ist die Uraufführung für die Chemnitzer Oper und die Stadt ein großer Gewinn. Der Großteil der Sänger:innen, insbesondere Mezzosopranistin Menna Cazel als Ruth und Countertenor Etienne Walch als Christian, meistert die weiten Tonsprünge von Vollmers Partitur eindrucksvoll. Die Robert-Schumann-Philharmonie profitiert zudem vom jüngst eingesetzten Generalmusikdirektor Benjamin Reiners, der es versteht, die zuletzt etwas eingeschlafene Musikkultur der Stadt durch progressive Projekte neu zu beleben.
„Rummelplatz“ lässt sich als „Identitätsoper“ verstehen. Die Stärke dieses Musiktheaterstücks liegt in der Verhandlung sowohl individueller als auch kollektiver Identitäten des Erzgebirges (wegen der Bodenschätze im Volksmund auch „Klein-Texas“ genannt). Es bestätigt die Gefühle derer, die vom Bergbau betroffen waren, und schafft zugleich eine regionale Verortung im Medium des Musiktheaters. Kein Wunder also, dass die weiteren Aufführungen innerhalb einer Woche ausverkauft waren. Die Idee des Dramaturgen Johannes Frohnsdorf führte damit nicht nur zu einem Höhepunkt des Europäischen Kulturhauptstadtjahres 2025, sondern auch zu einem der bedeutendsten Musiktheater-Ereignisse in der Region seit Jahrzehnten.
1 Günter Agde, „Zur Anatomie eines Tests. Das Gespräch Walter Ulbrichts mit Schriftstellern und Künstlern“, in: „Kahlschlag. Das 11. Plenum des ZK der SED 1965. Studien und Dokumente“, hrsg. v. dems., Berlin 1991, S. 128–147, hier S.136.