Kosmos Boulez

Bericht

Das Lucerne Festival 2025 feiert den 100. Geburtstag von Pierre Boulez mit einer Konzertserie

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Pierre Boulez 2003. Foto: Stefano Schröter

Nach 26 Jahren geht diesen Herbst die Ära von Michael Haefliger als Intendant des Lucerne Festivals zu Ende. Er und sein Team machten aus einem leicht beschaulichen Musikfestival einen Ort, wo sich die Spitzenorchester der Welt die Klinke in die Hand gaben und parallel dazu junge Musiker:innen unter Anleitung kundiger Spezialist:innen sich dem Spiel moderner und zeitgenössischer Musik annäherten. Zu Haefligers Großtaten gehört das Engagement Claudio Abbados. Der Dirigent wurde 2003 berufen, um ein ausschließlich aus Solist:innen und Spitzenmusiker:innen zusammengestelltes Festivalorchester zu leiten, welches das Standard-Orchesterrepertoire auf allerhöchstem Niveau pflegte. Seit Abbados Tod 2014 liegt die Leitung in den Händen von Riccardo Chailly. Andererseits sorgte die Gründung der Lucerne Festival Academy 2004 für Furore. Diesem Orchester stand Pierre Boulez jeden Sommer bis 2015 vor, um jährlich rund 120 aus der ganzen Welt ausgewählten Studierenden "sein Verständnis von moderner und zeitgenössischer Musik mit auf den Weg zu geben" und so "weit über den eigenen Tod hinaus die Vermittlung dieses Repertoires und gleichzeitig seine Aufführungsmethoden über drei bis vier Generationen hinweg weiterzugeben". So begründete Boulez gegenüber dem Autor vor einigen Jahren sein Engagement. Die Proben wurden anfänglich durch Mitglieder seines Ensemble Intercontemporain eng begleitet. Auch hielt er parallel dazu Dirigierseminare ab. Der große Enthusiasmus für die Sache machte fehlende Routine oft wett. Dieses System wurde lange beibehalten und um weitere Kompositionsseminare des auf Boulez folgenden künstlerischen Leiters Wolfgang Rihm und des diesem zur Seite stehenden Schweizer Komponisten Dieter Ammann ergänzt. Dasselbe dürfte nach Rihms Tod im letzten Jahr nun auch vom designierten Nachfolger Jörg Widmann ab 2026 zu erwarten sein.

Der hundertste Geburtstag von Pierre Boulez, dem "monstre sacré" der Neuen Musik, wurde dieses Jahr mit Symposien in Paris am prestigeträchtigen Collège de France und der Cité de la Musique begangen, mit Wissenschaftler:innen vor allem aus der frankophonen und angelsächsischen Welt. Zudem erschien ein prächtig illustrierter Œuvre-Katalog sämtlicher 112 Werke durch die Cité de la Musique – Philharmonie de Paris. Herausgegeben wurde auch sein Briefverkehr von 1951 bis 2008 mit seinem langjährigen Mitstreiter in Sachen Serialismus, dem belgischen Komponisten Henri Pousseur, und seine Korrespondenz von 1947 bis 1985 mit dem russischen Emigranten, Kunstmäzen und Musikschriftsteller Pierre Souvtchinsky im Genfer Verlag Les Éditions Contrechamps. Ferner erschien eine gigantische, enzyklopädisch angelegte CD-Box bei der Deutschen Grammophon mit den meisten seiner 84 Einspielungen von Orchestermusik aus dem 19. und 20. Jahrhundert mit unterschiedlichen Klangkörpern. Hinzu kommen diverse exemplarische Einspielungen von Kammermusik mit Solist:innen oder Spezialensembles, wie etwa die bei Bastille Music erschienene "Eclat-Multiples" durch das über sich hinauswachsende Collegium Novum Zürich unter der Leitung von Michael Wendeberg. Schließlich gab es dem Andenken an Boulez gewidmete Konzertserien in Paris, New York, Berlin, Köln und eben auch Luzern. Das Lucerne Festival stellte diesen Sommer zwölf Werke aus allen seinen Schaffensperioden zur Disposition, worunter auch Raritäten anzutreffen waren.

Frühwerk

Was in der Nachkriegszeit der Brutalismus in der Architektur gewesen ist, dürfte wohl der Serialismus in der Neuen Musik gewesen sein. Beide Ausdrucksformen konzentrierten sich auf die Struktur, bei der alle relevanten Parameter radikal durchorganisiert wurden, und auf neue Materialien wie Beton respektive Elektronik. Der polyphone Kompositionsstil von Boulez erfuhr mit der Zeit "Glättungen und Polierungen" durch subtilere Klangfarbenbehandlung, wofür der Komponist oft seine Stücke überarbeitete.

So auch das kurze "Mémoriale (…explosante-fixe…Originel)" für Flöte und acht Instrumente (1985), das die Luzerner Serie "Kosmos Boulez" eröffnete und von dem der Komponist mehrere Bearbeitungen vornahm. Gespielt wurde es vom Hausorchester, dem Lucerne Festival Orchestra, mit seinem Soloflötisten Jacques Zoon unter Leitung von Riccardo Chailly. Das lyrische Werk wurde allerdings von den nachfolgenden Werken Mahlers, den Rückert-Liedern und der Zehnten Symphonie, ziemlich erdrückt, was nicht gerade eine programmatische Glanzleistung darstellte.

Boulez´ einziges Streichquartett, das "Livre pour quatuor", wurde von Beethovens letzten Streichquartetten sowie jenen von Bartók und der "Lyrischen Suite" von Berg inspiriert. Das sechssätzige, strikt seriell angelegte, rhythmisch hochkomplexe Stück revidierte Boulez nach dem ersten Wurf als Student 1948 während der nächsten Jahre Schritt um Schritt und erarbeitete auch Versionen für Streichorchester unter dem Namen "Livre pour cordes". Wegen gesundheitlicher Beeinträchtigungen ließ er den vierten, längsten und komplexesten Satz des Streichquartetts im Zuge seiner Bearbeitungen schließlich sogar ganz weg. Erst der langjährige "Hauskomponist" des IRCAM, Philippe Manoury, ergänzte diesen 2017 auf der Basis von umfangreichen Skizzen und Notaten nach Boulez´ Tod. Spiritus Rector dieser Nachbehandlung war Irvine Arditti, der charismatische Primus des Quartetts, der nach eigener Auskunft in einem Gespräch mit dem Dramaturgen Mark Sattler während seiner gesamten Karriere kein schwierigeres Stück zu spielen hatte als dieses. Die vier Streicher schafften das über einstündige Stück mit Bravour.

Eine interessante Gegenüberstellung brachte das Konzert mit dem brillanten Starpianisten Pierre-Laurent Aimard und dem Lucerne Festival Contemporary Orchestra unter Elena Schwarz. "Douze Notations", zwölf hochkomplexe Klavierstücke zu je zwölf Takten mit Zwölftonreihen, hat Boulez als Zwanzigjähriger innerhalb einer Woche komponiert (1945), um, wie er einst berichtete, sich über den Dogmatismus seines Lehrers René Leibowitz lustig zu machen. Mit der Bearbeitung der "Notations I–IV" (1977–1980, inklusive einer Revision 1984) und der "Notation VII" (1997) nahm sich Boulez der Miniaturen nach dreißig Jahren erneut an und ließ sie zu großen Orchesterstücken "wuchern". Jede dieser Notationen weist einen eigenen Klang auf und bietet verschiedenste technische Alternativen, die Boulez’ sämtliche Methoden der Orchesterbehandlung resümieren. Es handelt sich um ganz persönliche Stücke, sozusagen eine Art musikalische Selbstbiografie, so jedenfalls kommentierte kürzlich der Musiker und Boulez-Schüler Heinz Holliger das Werk.

"Poésie pour pouvoir"

Die erstmalige Wiederaufführung der rekonstruierten Fassung von "Poésie pour pouvoir" für drei Orchester und Elektronik nach dem gleichnamigen Gedicht des surrealistischen Dichters Henri Michaux wurde 67 Jahre nach der Uraufführung bei den Donaueschinger Musiktagen 1958 von Boulez-Kennern geradezu sehnsüchtig erwartet. Einzelne sagten sogar eine "Jahrhundertaufführung" voraus. Boulez hatte dieses Stück zurückgezogen, ja sogar aus seinem Werkkatalog gestrichen: Der elektronische Teil genügte seinen Ansprüchen nicht. Telefunken hatte dafür zwar extra das erste achtspurige Bandgerät gebaut. Aber allein dieses Gerät zu starten, machte solchen Lärm, dass der Orchesterklang zu stark beeinträchtigt wurde. Auch ließ sich die Elektronik nicht ausreichend präzis synchronisieren. Wie ein vor der Aufführung in Luzern präsentierter Live-Mitschnitt der Uraufführung in Donaueschingen bewies, war der artifizielle Klang ungenau und glich vielmehr einem Blubbern als komponierten Tönen, die mit den Orchestern hätten interagieren können. 

Die Zeit für eine Überarbeitung war nun reif geworden. Die Wiederaufführung in Luzern ging noch auf die Initiative von Wolfgang Rihm zurück, der als Academy-Leiter dafür sorgte, dass die beiden IRCAM-Forscher, der Komponist und diesjährige Composer in Residence Marco Stroppa und der Computer Music Designer Carlo Laurenzi, den elektronischen Part anhand der Skizzen des Komponisten und auf der Basis der vorhandenen Konzertaufnahmen mit heutigen Mitteln rekonstruierten. Da auch der von einem Schauspieler vorgetragene Text nicht mehr verwendbar war, wurde mit Hilfe einer künstlichen Intelligenz der durch Yann Baudot neu eingesprochene Text mit der lädierten Vorlage gemorpht. Die Arbeit der Pariser Spezialisten war aufwendig und beanspruchte vier Jahre.

Bei der Aufführung in Luzern gelang die Balance zwischen analogen Orchester- und elektronischen Klängen leider nicht ganz, was eher an den miserablen akustischen Bedingungen des Saals, einem Nebenraum des großen Konzertraums, lag als an der Arbeit der beiden Rekonstrukteure. Die zum Teil mit dem Rücken zum Publikum sitzenden Musiker:innen des Lucerne Festival Contemporary Orchestra wurden präzis von einem der früheren Chefs des Ensemble Intercontemporain, David Robertson, und Molly Turner, einer Teilnehmerin des Academy-Programms, geleitet. Auf eine erste Wiederbegegnung unter besseren Aufführungsbedingungen am 12. Dezember 2025 im flexibel veränderbaren, sprich: modulablen Konzertsaal des IRCAM darf man sich freuen.

Auch die Aufführung des späten Meisterwerks "Répons" aus dem Jahr 1981 für sechs Solist:innen, Ensemble und Live-Elektronik, das Boulez bis 1984 erweiterte, litt unter diesen akustischen Beeinträchtigungen: Elektronik, Orchester und Solist:innen waren nicht synchron. Hier machte sich das Fehlen eines "salle modulable", eines noch von Boulez selber vorgeschlagenen Konzertorts mit flexibel anpassbaren Wänden, schmerzhaft bemerkbar. Dessen Errichtung war am Votum des Stimmvolkes für ein geeignetes Gelände gescheitert, obwohl es einen privaten Donator gab, der dafür hundert Millionen Franken bereitgestellt hätte.

Ensemblewerke

Als eigentlicher Höhepunkt der Boulez-Reihe entpuppte sich im großen Saal die Aufführung von "Don", dem ersten Teil des fünfsätzigen "Pli selon pli", durch das Netherlands Radio Philharmonic Orchestra und der US-Sopranistin Liv Redpath unter der einfühlsamen und deshalb sehr musikalischen Leitung von Chefdirigentin Karina Canellakis. Hier unternahm Boulez seit 1957 den Versuch, den symbolistischen Dichter Stéphane Mallarmé zu portraitieren, für den der Klang der Verse im Vordergrund stand, die vage und schwebend wirken sollten. Die Solostimme und das groß besetzte Orchester harmonierten perfekt und verzauberten den leider nicht voll belegten Saal mit der 1989 überarbeiteten Fassung.

Die "Messagesquisse" für Violoncello solo und sechs Cellist:innen wurde zum siebzigsten Geburtstag seines Mäzens und Förderers Paul Sacher (1976) vom berühmten Cellisten Mstislaw Rostropowitsch in Auftrag gegeben. Die Anfrage, ein Stück mit der Tonfolge "Es-A-C-H-E-Re" zu komponieren, ging auch an Luciano Berio, Benjamin Britten, Henri Dutilleux, Wolfgang Fortner, Alberto Ginastera, Cristobal Halffter, Heinz Holliger, Hans Werner Henze und Witold Lutoslawski. Da Boulez sein Stück mit seiner typischen extremen Kleinschrift notierte, wurde es von Rostropowitsch zunächst zurückgewiesen, der zur anspruchsvollen Entzifferung nicht bereit war. Erst nach den ersten Erfolgen von "Messagesquisse" änderte der Starmusiker seine Haltung. Dass dies eine richtige Entscheidung war, belegten nun die Solocellistin Elide Sulsenti und ihre sechs Kolleg:innen des Ensemble des Studios für zeitgenössische Musik der Hochschule Luzern. 

Dasselbe Tonmaterial nutzte Boulez auch für "Dérive 1" für sechs Instrumente (Flöte, Klarinette, Violine, Cello, Klavier und Vibraphon), das von den jungen Mitgliedern des Ensemble des Lucerne Festival Contemporary Orchestra vorgetragen wurde. Variationen desselben Tonmaterials strukturieren das Stück, wobei die Polyphonie für eine gewisse Komplexität sorgt, ohne dass das Werk an Eleganz und Transparenz einbüßt. Im Vergleich mit der Aufführung desselben Stücks durch Mitglieder des Ensemble Intercontemporain anlässlich des Symposiums am Collège de France zeigten sich allerdings eklatante Qualitätsunterschiede. Boulez ging es jedoch vor allem um die Weitergabe an die jungen Musiker:innen … Zu hoffen bleibt, dass in Zukunft bessere Trainer:innen hinzugezogen werden.

Zum Abschluss des Festivals wurde die kaum bekannte "Initiale" für sieben Blechbläser:innen gespielt. Die seriell durchgearbeitete Gelegenheitskomposition wurde zur Eröffnung der Menil Collection in Houston unter dem Namen "Fanfare" uraufgeführt (1987; revidiert 2010). Wie alle aufgeführten Werke bestach auch dieses durch das glänzende Handwerk und den Einfallsreichtum des Komponisten. Zudem bestätigte das Stück das Diktum von Heinz Holliger, wie schade es gewesen sei, dass Boulez ob seines vielen Dirigierens nicht mehr zum Komponieren gekommen sei.