Nachruf auf eine Nationalhymne
HervorgeholtAls um Mitternacht mit dem letzten Glockenschlag die Geisterstunde des wiedererweckten deutschen Nationalstaats eingeläutet wurde, endete nicht nur ein einundvierzigjähriger gesellschaftlicher Modellversuch, der im Verlaufe seiner Existenz mit den unterschiedlichsten schmückenden Beiworten, jubelnd oder hämisch, bedacht wurde: der ,,Erste Arbeiter- und Bauern-Staat auf deutschem Boden“, die „Sowjetische Besatzungszone“ oder kurz „SBZ“ oder auch – fast so kurz – „Ostzone“, die „sogenannte DDR“, der „Tüttelchen-Staat“, das „Antifaschistische“ oder auch „Antiimperialistische Bollwerk“, das „Gebilde“, schließlich die allseits und zuletzt sogar von der Verweigerungsjournaille des Springer-Konzerns tüttel-los betitelte Deutsche Demokratische Republik, in den vergangenen Monaten in sich beschleunigendem Abschwung die „Noch-DDR“.
Nicht nur diese also hat nun ausgedient, sondern auch, als klingende Visitenkarte, ihre Nationalhymne. „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt“ hatte 1949 Johannes R. Becher gedichtet, und Hanns Eisler, einst Schüler Arnold Schönbergs, Mitstreiter Bert Brechts und 1948 aus dem amerikanischen Exil zurückgekehrt, hatte die Verse vertont, innerhalb einer halben Stunde, in einem Warschauer Hotel beim Nachmittagskaffee, in der Pause des Internationalen Goethe-Kongresses zu dessen 200. Geburtstag.
Daß Eisler in jungen Jahren mit dem Kommunismus sympathisierte, hätte ihm das restaurative Bildungbürgertum der westdeutschen Nachkriegszeit ja eventuell noch verziehen, die „Spalterhymne“ für den roten „Besatzerstaat“ von Stalins Gnaden – nie. Bis heute sind die Werke des Komponisten in bundesrepublikanischen Konzertplänen nicht nennenswert heimisch geworden. Die Hymne aber ward „drüben“ kanonisiert, gesungen, gesäuselt und gebrüllt und brachte Tantiemen, mehr als alle anderen Werke Eislers, die in der DDR nie so gepflegt wurden, wie es das Ansehen und das Engagement des Komponisten hätten erwarten lassen.
Dann wendeten sich die Zeiten, und die Hymne wurde nur noch gespielt – die Textzeile „Deutschland, einig Vaterland“ war den Abgrenzungsstrategen um Ulbricht und später um Honecker im Wege. Daß eben diese auch aus sozialistischer Sicht fragwürdige Abgrenzungspolitik wesentlich zum Bankrott des politischen und gesellschaftlichen Systems DDR beigetragen hat, erlebten die Schöpfer der Nationalhymne nicht mehr.
Sie hatten dafür aber andere Probleme: Unecht sei die Hymne, bölkte aus dem Westen der Erfolgskomponist Peter Kreuder, die Melodie sei von seinem Schlager „Good bye, Johnny“ geklaut worden! Oh Graus: das anheimelnd rauh-herzliche Organ des Reeperbahn-Caruso Hans Albers gegen freideutschjugendliche Singebewegung – wer würde gewinnen? Keiner hat gewonnen, das Gericht wies Kreuders Klage ab: Die Melodie sei so einfach und volkstümlich, daß keiner darauf ausschließliche Urheberrechte anmelden könne. Wie recht sie hatten, die Herren in den schwarzen Roben, und nachdem sich das Problem nun von selbst erledigt hat, können wir ihnen, zur Beschwichtigung eventueller scholastischer Beweisnotängste, sogar noch das Kronzeugnis nachliefern.
Wenn nämlich hier geklaut wurde, dann von allen beiden; dann waren Kreuder und Eisler beide Plagiatoren. Denn erfunden hat die Melodiezeile ein anderer, ein ganz Großer, und zu hören ist sie in einem durchaus bekannten Werk. Auch Kreuder und Eisler, gestandene und ausgebildete Musiker alle beide, mußten das Stück kennen, es mußte, wenn auch vielleicht nur halbbewußt, in ihren kleinen grauen Zellen herumspuken, als sentimentaler Ohrwurm beim einen, als Beschwörung des humanistischen Erbes beim anderen; Unterhaltungsklischee hier, pathetisches Staatsritual dort.
Und Wolfgang Amadeus Mozart, der die Melodie für den langsamen Satz ,,Adagio ma non troppo“ seines Streichquintetts g-Moll KV 516 komponiert hatte, – er sitzt im Himmel der Tonkunst und hält sich den Bauch vor Lachen.
Hervorgeholt aus MusikTexte 36 (Oktober 1990)
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