Stockhausens "Hymnen"

Essay

Eint sein Werk die Menschen Europas?

Es gibt Sätze, die man gerne und weidlich zitiert. Sie zu lesen, sie zu hören, ist eine Freude, ungeachtet ihres Wirklichkeitsgehaltes. Dazu gehören auch jene, die Johann Gottfried Seume 1804 unter dem Titel „Die Gesänge“ ersann: „Wo man singet, lass dich ruhig nieder, / Ohne Furcht, was man im Lande glaubt; / Wo man singet, wird kein Mensch beraubt: / Bösewichter haben keine Lieder.“ Schön wär’s, indes lehrt die Geschichte anderes. Die Zahl der Gräueltaten, während derer auch gesungen worden ist, kennt niemand. Sie dürfte aber vielstellig sein und stetig wachsen. 

Dann gibt es Sätze, die man weniger oft herbeiruft, deren Lektüre missmutig stimmt, weil ihre Aussage etwas Wahres hat. Arnfrid Astel dichtete solche 1970 und kommentierte mit seinem Epigramm „Männerchor“ die Seume’schen Gedanken folgendermaßen: „Wo man singt, / da lass dich ruhig niederschlagen. / Deutsche Sänger / lieben keine Zwischenfragen.“1 Eine steile These, eine heftige Anklage, die ins Mark trifft, die sicher, gerade (und gottlob) für ihren zweiten Teil, keine Allgemeingültigkeit beanspruchen kann. Das aber hat sie mit Seumes Vers gemeinsam. 

Musik, ob Lieder, Sonaten oder Sinfonien, ist eine überaus elastische Kunst; sie kann Gutes wie Schlechtes flankieren, für oder gegen etwas benutzt werden. Frieden und Einigkeit, Gerechtigkeit und Liebe lassen sich mit ihr letztlich nicht komponieren. Das bedarf ganz anderer Arrangements, vor allem gänzlich anderer Engagements. 

Gleichwohl gab und gibt es zahlreiche musikalische Unternehmungen, die Missstände unter den Menschen zu verringern, Trennungen zu überwinden, Gemeinsinn zu stiften und eine Gemeinschaft zu schaffen. Nicht zuletzt deswegen entstanden überhaupt (National-)Hymnen. Sie sollten vereinen, was zuvor gar nicht oder noch nicht so richtig zusammengehörte. Es ging und geht bei ihnen um Identifikation: mit dem Land, der Region, der Heimat, dem Glauben, der Konfession, der Innung, dem Verein, kurzum: mit einer Idee, mit einem Ideal. Und deshalb haben auch 99 Prozent aller (National-)Hymnen stets einen Text. Denn nur er macht ganz deutlich, was gemeint ist, was der Gesang überhaupt besagen will. Irgendwann genügt dann gar die Melodie, um die mitschwingende Aussage auch textlos zu transportieren. Die hymnischen Klänge sind wegen ihrer großen Bekanntheit, ihrer sozialen wie medialen Verbreitung selbst Begriffsträger geworden, und das durchaus als ein-eindeutig semantischer Botenstoff. Aber so wie dieser nach innen Identität garantieren soll, so symbolisiert er nach außen zugleich die Grenze. Die Deutschen singen ihr Lied, aber nur sie; die Franzosen singen ihre „Marseillaise“, aber ebenfalls nur sie; und die Briten singen „God Save the Queen/King“, selbstverständlich auch nur sie. 

Als Karlheinz Stockhausens elektronische und konkrete Musik „Hymnen“, ein fast zweitstündiges Werk, am 30. November 1967 in der Aula des Kölner Apostelgymnasiums uraufgeführt wurde, gab es Lob und viel Tadel. Man warf dem Komponisten vor, das überkommene nationalstaatliche Denken musikalisch stabilisiert zu haben. Dabei hatte Stockhausen genau das Gegenteil im Sinn: Er wollte mit diesem Stück, das in verschiedenen Besetzungen gespielt werden kann (nur elektronisch oder teils mit Solist:innen oder gar Orchester), verbinden statt trennen, Grenzen überschreiten, statt sie (neu) zu setzen. Zur Vorbereitung dieser Idee hatte Stockhausen damals die akustischen Hoheitszeichen von über hundert verschiedenen Staaten als Tonbandaufnahmen zusammengetragen. Etwa vierzig davon verwendete er dann in seinem Werk: afrikanische, asiatische, viele europäische Nationalhymnen sowie (überaus markant und extensiv) die der USA und der UdSSR. Überdies integrierte er die sozialistische „Internationale“ und platzierte – hörspielhaft – einen historischen Rekurs in die deutsche Vergangenheit. Ins Werk eingegangen ist ein Gespräch aus der Produktionsphase im Kölner WDR-Studio für elektronische Musik, in dem das nationalsozialistische „Horst-Wessel-Lied“ thematisiert wird, das im Verbund mit der ersten Strophe des „Deutschlandliedes“ die Hymne des nationalsozialistischen Deutschlands war. 

Zu jeder der von Stockhausen in seinem collageähnlichen Stück verwendeten Nationalhymnen, die kompositorisch ineinander gleiten, sich stufenweise annähern oder miteinander verschmelzen und Gemeinsamkeiten ausprägen, um dann andere musikalische (und in diesem Fall zugleich andere geologische und politische) Regionen anzusteuern, ließe sich vieles erzählen. Man denke nur an die komplexen Geschichten der deutschen Hymnen nach 1945. Hier die der BRD, die nach langem Hin und Her und zeitweiligem Erwägen anderer Möglichkeiten dann doch wieder die von Haydn und von Fallersleben sein sollte (allerdings nur noch die dritte Strophe), dort die der DDR, die Hanns Eisler ohne Staatsauftrag auf Johannes R. Bechers Text „Auferstanden aus Ruinen“ komponiert hatte, die erst kurz danach zur Hymne erkoren und ab den 1970er Jahren bei offiziellen Anlässen allerdings ohne Text aufgeführt wurde.

„Faites vôtre jeu, Messieurs, dames, s‘il vous plaît“, lässt Stockhausen zu Beginn seiner „Hymnen“ einen Croupier sagen. Und die Damen und Herren machen ihr Spiel, bis nichts mehr geht – „rien ne va plus“. Die politische Weltenkarte ist keine stabile, sie verändert sich, und vor allem: Sie wird stetig umgestaltet. Die Hymnen der Welt sind ebenso vage. Und fiele das Komponieren der „Hymnen“ in die heutige Zeit, so fiele nun auch der Inhalt des Werkes, zumindest in manchen Details, ganz anders aus. 

Seit den 1960er Jahren sind etliche neue Nationalhymnen entstanden, andere sind hingegen ganz oder teilweise verschwunden. Australiens Hymne etwa wurde erst 1974 offiziell dekretiert und löste das seit 1788 gültige „God Save the Queen/King“ der englischen Kolonialmacht ab. Am ästhetischen Grundprinzip der „Hymnen“ rütteln solche politisch-musikalischen Veränderungen freilich nicht. Nationalhymnen sind und bleiben, wie Stockhausen einmal bei einer Pressekonferenz vor einer Aufführung gesagt hat, das musikalisch „Banalste und Selbstverständlichste, was man sich denken kann“. Ihre Popularität und besonders ihre Funktion aber lädt sie per se mit Inhalten auf. Die mit ihnen verbundenen Assoziationen evozieren Protest oder Zuspruch, Identität oder Ablehnung. Sie repräsentieren wie wohl keine andere Musik Freiheit und Menschenrechte oder Repression und Völkermord.

Gegen Ende seines Werkes präsentiert Karlheinz Stockhausen gar noch eine eigene Hymne. Er nannte sie „HYMUNION in der HARMONDIE“. Und diese harmonische Welt signierte der Komponist schließlich mit seinem Ausruf „Pluramon“, einem – so der sprechend-singende Komponist – „symbiotischen Wesen, das die Aspekte des Pluralistischen und Monistischen verbindet“. Und damit wären alle (National-)Hymnen wohl überwunden. 

Stockhausens „Hymnen“ handeln von der Vielfalt in der Einheit und behandeln diese Idee mit kunstvollen musikalischen Mitteln, klanglich wie dramaturgisch. Ob seine Musik indes die Menschen, die in Europa lebenden oder gar – wie es das Stück nahelegt – die gesamte Weltbevölkerung, zu vereinen vermag, lässt sich nicht sagen. Die politische Chance hatten die „Hymnen“ bisher nicht. Die Europäische Union wählte (wie schon ihre Vorgängerinstitutionen) ein stark verkürzendes, eigens dafür von Herbert von Karajan eingerichtetes Instrumental-Arrangement des Schlusschores aus Beethovens 9. Sinfonie zur „Europahymne“, ohne die Nationalhymnen der Mitgliedstaaten außer Kraft zu setzen. 

Aber können sich alle (unierten) Europäer:innen mit „An die Freude“ identifizieren? Wir wissen es nicht. Für Stockhausens Musik ist das etwas einfacher zu beantworten. Der ungarische Komponist Peter Eötvös, der als Pianist, Klangregisseur und Dirigent an zahlreichen „Hymnen“-Aufführungen beteiligt war, erzählte 2012: „Ich glaube, es gibt zwei Arten von Stockhausen-Fans: die einen, die gerade die Kraft in seiner Musik lieben, und die anderen, die die esoterische Seite an ihm lieben. Sie sind wirklich wie Tag und Nacht getrennt. Die Esoteriker mögen keine Kraft und die Kraft-Leute mögen keine Esoterik. Ich gehöre eher zu der Kraft-Gruppe. Ich finde, die Energie, die er verwendet und die er gibt, ist unbeschreiblich. Sein Orchesterstück ‚Gruppen‘ lebt von dieser unglaublichen Kraft, auch ‚Hymnen‘.“2

Musik, ob von Karlheinz Stockhausen oder Ludwig van Beethoven, von Wolfgang Rihm oder Joseph Haydn, von Helmut Lachenmann oder Johann Sebastian Bach, bewirkt zweifellos vieles. Aber man darf von ihr auch nicht zu viel erwarten. Die Probleme der Welt kann sie nicht lösen, womöglich aber geeignete Wege aufzeigen. Alles Weitere findet außerhalb der Musik statt.

1 Arnfrid Astel, „Neues (& altes) vom Rechtsstaat & von mir. Alle Epigramme“, Frankfurt am Main: Zweitausendeins 1978, S. 584.
2 „Auf Weltempfang. Über die Aufführungsgeschichte von Stockhausens ‚Hymnen‘”. Stefan Fricke im Gespräch mit Peter Eötvös, in: dissonance 120 (Dezember 2012), S. 14–18; hier S. 18.

„Die ewige Baustelle. Kulturkonstrukt Europa“ lautete das Thema, dem der Deutsche Musikrat 2013 im Heft 4 seines damaligen Publikationsorgans „Musikforum. Musikleben im Diskurs“ nachging. Darin war Stefan Fricke der Bitte nachgekommen, unter der Frage „Eint Karlheinz Stockhausens Werk die Menschen Europas?“ einen Text über dessen Komposition „Hymnen“ zu schreiben. In leicht modifizierter Fassung erscheint er neuerlich in dieser Ausgabe.