Wo die Stimme alles darf

Bericht

Cage-Workshop für zeitgenössische Vokalmusik 2025 unter der Leitung von Sarah Maria Sun und Christoph Ogiermann

In der Vorstellungsrunde wird klar: Ich war noch nie in einem Raum mit so vielen Sängerinnen zeitgenössischer Musik. Der Raum füllt sich mit Menschen, die alle dieselbe Sprache sprechen, eine Sprache jenseits konventioneller Gesangstechnik. Alle sind bereit, Klänge jeglicher Art zu erkunden – das Experimentelle, das die klassische Ausbildung oft ausgrenzt. Was den Workshop besonders macht, ist seine Offenheit: Es gibt keine Altersgrenze, alle – Studierende wie Profis – haben die Möglichkeit, sowohl aktiv als auch passiv als Teilnehmerin dabei zu sein. Die Bewerbungsanforderungen sind klar, aber nicht elitär: zwei bis drei Videolinks, mindestens ein ungeschnittenes Video, Repertoire nach 1960. Die Ausschreibung öffnet dabei bewusst Raum für elektronische, improvisierte und performative Formen.

Der Workshop findet an einem historischen Ort statt: das Cage-Haus in Halberstadt, Sachsen-Anhalt, untergebracht im ehemaligen Gutshaus einer landwirtschaftlichen Hofanlage auf dem Gelände des jahrhundertealten Klosters Sankt Burchardi. Überall im Haus sind Spuren von John Cage präsent: Kunstwerke, Bücher, Noten, Merchandise. Seit 2001 erklingt in der teilweise zerstörten mittelalterlichen Sankt-Burchardi-Kirche „ORGAN²/ASLSP (As SLow aS Possible)“, ein Musikstück mit einer geplanten Aufführungsdauer von 639 Jahren. Rund um die Uhr bildet dieser Klang eine stetige, kaum hörbare Präsenz.

Ute Schalz begrüßt uns. Die inzwischen über 80-jährige Gründerin des Hauses ist weit mehr als seine Seele. Als Musikwissenschaftlerin und Journalistin hat sie die Neue Musik in Deutschland über Jahrzehnte entscheidend mitgeprägt, auch als Organisatorin, Vermittlerin und Denkerin. Sie kocht für alle, schafft eine fast familiäre Atmosphäre und zugleich einen Raum, in dem künstlerisches und theoretisches Forschen selbstverständlich zusammenfinden. In dieser Umgebung, zwischen historischer Substanz und radikaler Zeitlichkeit, entfaltet sich vom 8. bis 14. September 2025 ein Workshop, der die Grenzen dessen erkundet, was Stimme sein kann.

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Workshop bei Gunnar Brandt-Sigurdsson, Foto: Vanessa Guinadi

Die ersten beiden Tage gehören dem Sänger und Toningenieur Gunnar Brandt-Sigurdsson und seinem Workshop „Stage Devices“, jeweils vierstündige Sessions rund um kreative Tontechnik mit analogen und digitalen Tools. Im Zentrum steht die Erforschung der Software Ableton Live, speziell im Hinblick auf den Live-Einsatz durch Sänger:innen. Wir dürfen alles ausprobieren, eigene Konzepte mitbringen oder gemeinsam neue Wege entwickeln. Es wird schnell klar: Die technischen Erweiterungen sind keine Spielerei, sondern ernstzunehmende Werkzeuge für die künstlerische Praxis. Danach beginnt der erste Gesangsunterricht bei Sarah Maria Sun sowie Korrepetition mit Hyerim Byun.

Der modulare Alltag

Ab dem dritten Tag entfaltet sich die eigentliche Struktur des Workshops – und sie ist radikal offen. Täglich stehen neben den Stunden mit Sarah Maria Sun und Hyerim Byun Body Training mit Yeri Anarika, Improvisationssessions mit Christoph Ogiermann auf dem Plan. Das Besondere: Alle Module lassen sich kombinieren. Gesangsunterricht und Korrepetition in einem, Improvisation und Körpertraining miteinander oder einfach das, was man gerade braucht. Die Planung ist modular, die Teilnahme individuell, jede kann jeden Tag alles machen.

Christophs Improvisationen folgen keinem vorgegebenen Plan, sondern entstehen aus situativer Wahrnehmung und spontaner Interaktion. Zu Beginn initiiert er oft eine freie Phase. „Wir improvisieren erst einmal fünf, zehn Minuten“ – als Einstieg in kollektives Hören und Reagieren. Er nutzt dabei wechselnde Modi des Agierens: instrumental, geräuschhaft oder rein rezeptiv. Im anschließenden Gespräch werden klangliche Prozesse, energetische Verläufe und Momente gegenseitiger Resonanz herausgearbeitet, um daraus Ansatzpunkte für weiteres Arbeiten zu entwickeln.

Wo Christoph den Raum über das Hören öffnet, arbeitet Yeri Anarika mit dem Körper als Resonanzfläche. Als Tänzerin, Yoga- und Körperkunstlehrerin verbindet sie Bewegung, Atmung und Wahrnehmung zu einer Praxis des Loslassens. Sie bietet Unterstützung, wenn man Entspannung sucht, zu viel Spannung fürs Singen spürt oder eine Choreografie, eine Performance oder schlicht den Bühnenauftritt proben möchte. Einmal bin ich so erschöpft, dass wir uns gemeinsam auf den Boden legen und einfach einer Meditation auf YouTube folgen.

Von der Angst zur Lösung

Was diesen Workshop von vielen klassischen Gesangsausbildungen unterscheidet, wird im Einzelunterricht bei Sarah Maria Sun besonders deutlich: Hier herrscht nicht das Prinzip des Verbots, sondern das der technischen Lösung. Entgegen den Ängsten, die in der klassischen Gesangsausbildung oft geschürt werden – „du darfst das nicht“, „davon geht deine Stimme kaputt“ –, gibt es hier für alles eine Lösung. Die Pädagogik dreht sich um: Statt Warnung vor Schäden steht die Ermächtigung im Vordergrund. “Versuche einfach, deinen Mund so zu formen, deinen Körper so zu halten, darauf zu achten, dass sich deine Stimme so oder so anfühlt.” Extended Techniques werden nicht als Gefahr, sondern als erlernbare Fähigkeit behandelt.

Ich arbeite hier am „Pierrot lunaire", der nächstes Jahr auf meinem Programm steht. Sarah Maria Sun hat es über 60 Mal gesungen, und diese Erfahrung trägt. Nicht nur das technische Wissen, auch die Art, wie sie Unsicherheit auffängt. Selbstzweifel verschwinden nicht, aber sie verlieren ihre Lähmung, wenn jemand gleichzeitig das Handwerk beherrscht und den Menschen sieht.

Krokodilstränen

Jeden Abend vor dem Abendessen arbeiten alle gemeinsam an der Einstudierung von Tona Scherchen-Hsiaos „Voyage de la larme (de crocodile)" (1977), einem Stück, das häufig als Solostimmwerk aufgeführt, hier jedoch mit Ensemble interpretiert wird. Bereits der Titel, übersetzt etwa: „Reise der (Krokodils-)Tränen“, verweist auf das Changieren zwischen Echtheit und Inszenierung, zwischen emotionalem Ausdruck und bewusster Distanz – ein Spannungsverhältnis, das sich auch im musikalischen Verlauf zeigt. Die grafische Notation bietet zahlreiche Ebenen der Interpretation, die Vortragsanweisungen eröffnen eine enorme Bandbreite an Möglichkeiten.

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Ausschnitt aus „Voyage de la larme (de crocodile)” von Tona Scherchen-Hsiao

Diese Offenheit bietet viel Raum für individuelle Gestaltung. Gemeinsam mit Sarah, Yeri und Christoph entwickeln wir Bewegungsabläufe, die bestimmte Charakteristika der Partitur aufgreifen. Unsere Interpretationen entstehen im Dialog: durch Zuhören, Reagieren, Führen und Folgen. In der Abschlussaufführung wurde das Stück zu einer bewegungsbasierten, fast körperlichen Erfahrung. Die Reaktionen des Publikums auf die choreografischen Elemente zeigten, wie direkt und unmittelbar diese Sprache wirkt.

Und es war eine wertvolle Erfahrung: bei null zu beginnen, vor einer grafischen Notation, ohne vorgefertigte Lösungen. Die öffentliche Generalprobe am Samstagabend war gut besucht, vor allem von Sponsor:innen, Unterstützer:innen des Hauses und einigen Kindern, die neugierig und mit unbefangenem Lachen auf die für sie ungewohnten vokalen Techniken reagierten. Diese erste öffentliche Probe schuf einen Raum, in dem wir frei experimentieren, riskieren und neu denken konnten.

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Gruppenfoto: Gruppenfoto (v. l. n. r.): Elza Loginova, Vanessa Guinadi, Hannah Otto, Lisa Newill-Smith, Charlotte Hoops, Ute Schalz, Yeri Anarika, Carlotta Lipski, Olga Siemieńczuk, Camille Primeau, Christoph Ogiermann, Sarah Maria Sun, Claudia Cañamero Ballestar und Hyerim Byun.

Bereits am folgenden Vormittag öffnete sich die Bühne für das öffentliche Finalkonzert, zu dem ein gemischtes Publikum aus Teilnehmenden, Halberstädter:innen, Interessierten, Ehrenamtlichen und Förder:innen des Hauses zusammenkamen. Werke von Georges Aperghis, Bernhard Lang, Ruth Schonthal, Luciano Berio und vielen weiteren bildeten den Auftakt. Besonders hervorzuheben ist die Komponistin Claudia Cañamero Ballestar mit ihrem Werk „Nada de carne sobre nosotras" (2023), die im Übrigen auch die gesamte Workshop-Woche organisatorisch begleitete. Ergänzt wurde das Programm durch zahlreiche Improvisationen, spontane, intensive Momente gegenseitiger Inspiration. Den Abschluss des Konzerts und gleichzeitig sein Herzstück bildete Tona Scherchen-Hsiaos „Voyage de la larme (de crocodile)“. Hier bündelten sich alle Erfahrungen der Woche: Der Raum lebte von gegenseitiger Wertschätzung füreinander.

In einem Vortrag über John Cages Philosophie zitiert Christoph Ogiermann eine bekannte Passage aus „Lecture on Nothing“:


Everybody has a song

which is no song at all :

it is a process of singing ,

and when you sing ,

you are where you are.

Diese Haltung durchzieht den gesamten Workshop: ein einziges Ausprobieren. Die philosophischen Diskussionen und die gegenseitige Inspiration bleiben nicht als fertiges Wissen, sondern als Prozess. Als Haltung. Als Ort, an dem man ist, wenn man singt.

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Ausschnitt Programmheft