Einen Schritt vor, zwei zurück?
KommentarGedanken über den aktuellen Backlash
"Die Scham muss die Seite wechseln" – "La honte doit changer de camp", sagt die Französin Gisèle Pélicot, die von ihrem Ehemann jahrelang immer wieder betäubt und vergewaltigt wurde. Sie entschied sich, den Prozess öffentlich zu führen, um an dieser Schieflage etwas zu verändern. Nicht diejenigen, die einen Übergriff erlitten haben, müssen sich schämen, nicht diejenigen, die diskriminiert wurden. Und doch funktioniert unsere Gesellschaft an viel zu vielen Stellen noch genau so.
On the record – off the record
Als Journalistin spreche ich in Interviews mit Künstler:innen oft über ihren Werdegang und darüber, was ihnen in ihrem Berufsleben widerfahren ist. Manches davon erzählen sie mir aber lieber nur "off the record". Dass sie sich misogyne Kommentare anhören mussten. Dass ihre Werke aufgrund ihres Geschlechts nicht ernst genommen wurden. Dass sie nur auf Äußerlichkeiten reduziert wurden. Oder sie erzählen davon, wie Personen in Machtpositionen übergriffig geworden sind. Alles "off the record", damit die Geschichten nicht öffentlich werden – weil ihnen das über das geschilderte Ereignis hinaus vielleicht noch umso mehr schaden würde.
Ist es nicht verrückt, dass diejenigen, die belästigt oder benachteiligt wurden, umso mehr Probleme bekommen, sobald sie darüber reden?
Insbesondere Künstler:innen müssen sich sehr genau überlegen, welche Geschichten sie nach außen tragen wollen. Das Bild, das sie transportieren, ist heute ein wichtiger Teil des Oeuvres. Frauen*, die teils immer noch als "das andere Geschlecht" gelten, wie Simone de Beauvoir es beschrieben hat, müssen sich besonders anstrengen, damit ihre Musik für sich steht, ohne als "Musik von einer Frau" gelabelt zu werden. Und wer sich nicht in binäre Geschlechterkategorien einordnen lässt, sieht sich noch mal ganz anderen Schwierigkeiten ausgesetzt.
Wer zudem noch öffentlich von Benachteiligungen spricht oder gar davon, Opfer geworden zu sein, läuft Gefahr, das eigene künstlerische Schaffen damit in den Hintergrund zu drängen. Auch (feministisches) Engagement kann der unvoreingenommenen Wahrnehmung eines Werkes im Wege stehen und die Berichterstattung darüber überlagern.
Das hat auch die Komponistin Ash Fure reflektiert, als sie 2016 mit einer Untersuchung zur Gendergerechtigkeit bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik eine wichtige Debatte anstieß. (Siehe den Überblick in Zahlen hier)
In ihrer Auswertung zählte sie nach, wie viele Kompositionen von Frauen im Zeitraum von 1946 bis 2014 aufgeführt wurden und wie viele von Männern. Das ernüchternde Ergebnis: Unter 10 Prozent der Werke stammten von Komponistinnen.
In der Folge wurde in Darmstadt sehr viel darüber diskutiert, wie sich diese Ungerechtigkeit beseitigen ließe. Ash Fure schrieb unmittelbar danach darüber, welches Risiko sie mit ihrer Arbeit eingegangen war. Bei Diskussionen im Flur wurde ihr zugeraunt: "It’s important that you’re doing this, Ashley, but be careful. You don’t want to be that girl. You want to be known for your work and not your politics. So speak up: but then back away. This is not your only cross to bear. You have other crosses." – "Es ist wichtig, dass Du das machst, Ashley, aber sei vorsichtig. Du willst nicht SO EINE sein. Du willst für deine Arbeit bekannt sein und nicht für dein Engagement. Sprich es an, aber zieh dich dann zurück. Das ist nicht das Kreuz, das du tragen musst. Du hast andere Aufgaben." (Siehe auch hier)
Doch es ist nicht allein der Stempel als Feministin, als "that girl", mit dem ein:e Künstler:in dann leben muss. Panels organisieren, Vorträge ausarbeiten, Vernetzung betreiben – all das kostet Zeit, die dann nicht für die künstlerische Arbeit zur Verfügung steht. Viele Künstler:innen fühlen den Druck, sich feministisch zu engagieren, um die Situation für Nachfolgende zu verbessern. Und sie merken, wie schwer es ist, zwischen dem Engagement und der künstlerischen Vertiefung eine Balance zu finden.
Dass Ash Fure die Arbeit des Zählens auf sich genommen und das Ergebnis in Darmstadt präsentiert hat, hat sich für Komponist:innen in der zeitgenössischen Musik aber auf jeden Fall ausgezahlt. Heute ist es keine Ausnahmeerscheinung mehr, wenn sich Komponistinnen wie Lisa Streich, Mirela Ivičević, Sarah Nemtsov, Carola Bauckholt, Oxana Omelchuk, Sara Glojnarić, Elnaz Seyedi, Iris ter Schiphorst, Malin Bång u.a. auf den Festivalbühnen verbeugen. Und niemand, der* oder die* sich ernsthaft mit zeitgenössischer Musik beschäftigt, sollte noch lange nachdenken müssen, um auf den Namen einer Komponistin der Gegenwart zu kommen. Auch Dirigentinnen wie Joana Mallwitz, Susanne Blumenthal, Elena Schwarz oder Anna Skryleva werden immer stärker sichtbar und erobern den so lange männlich besetzten Raum der Ensemble- und Orchesterleitung.
Das zeigt: Kritik kann Veränderungen anstoßen. Jedenfalls, wenn der gesellschaftliche Wind dafür günstig steht.
Das war im Jahr 2016 der Fall. Aber natürlich auch, weil ein vielstimmiger Chor von Einzelkämpfer:innen, Initiativen, Arbeitskreisen, Pionier:innen und Netzwerken schon zuvor lange daran gearbeitet hatte, Frauen* in der Musik sichtbar zu machen.
Schon 1979 hatte sich zum Beispiel die Dirigentin Mascha Blankenburg gefragt: Wo sind eigentlich die Komponistinnen? Und sie hat die Initiative "Frau und Musik" ins Leben gerufen, die auch heute noch das gleichnamige Archiv in Frankfurt am Main betreibt. Dort werden Kompositionen und Lebensgeschichten von Komponistinnen gesammelt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
1998 gründete die österreichische Komponistin Susanne Kirchmayr, auch unter dem Namen Electric Indigo bekannt, das Netzwerk female:pressure, um Frauen in der elektronischen Musik über eine Datenbank leichter auffindbar zu machen (female pressure Datenbank hier).
2013 veröffentlichte das Netzwerk die erste "FACTS study", die – ähnlich wie die spätere Untersuchung von Ash Fure in Darmstadt – erschreckende Zahlen offenbarte.
Man hatte die Line-ups von Festivals, die Veröffentlichungen von Plattenlabels und die Top-100-Listen des Musikbusiness auf die Frauenquote hin untersucht und gezeigt: Der Frauenanteil beträgt nicht einmal 10%. Die Studie wurde ausführlich in der Presse besprochen, und erste Festivals leiteten Veränderungen ein.
Im Jahr 2014 gründeten Bettina Wackernagel und Sabine Sanio das Festival "Heroines of Sound", um für mehr Präsenz von Frauen und nicht-binären FLINTA* in der Kunst- und Musikwelt zu sorgen.
Auch die gesamtgesellschaftliche Diskussion war 2016 offen für Fragen der Gendergerechtigkeit. Zum Beispiel durch die breite öffentliche Debatte darüber, welchen Diskriminierungen Frauen im Alltag oft ausgesetzt sind und welche Strukturen diese begünstigen. Die Debatte hatten die Journalistinnen Anne Wizorek und Laura Himmelreich im Jahr 2013 unter dem Hashtag #aufschrei losgetreten. Daraufhin wurde auf breiter Basis über sexualisierte Übergriffe, Sexismus und Diskriminierung diskutiert.
Im Jahr 2017 folgte der Hashtag #metoo, der erst in den USA und später auch in Europa eine Fortsetzung dieser Debatte mit sich brachte. Auf der ganzen Welt nutzten Betroffene den Hashtag #metoo – englisch für "ich auch" –, um darauf aufmerksam zu machen, wie verbreitet sexuelle Belästigung, Missbrauch und Übergriffe sind. In der Folge wuchs die Sensibilität für Alltagssexismus, für Diskriminierung und für Benachteiligungen im Beruf, so dass auch die Untersuchung von Ash Fure in Darmstadt eine umso größere Schlagkraft entwickeln konnte.
Und das schlägt sich unterdessen auch in den Zahlen nieder: Die Facts Study des Netzwerks female:pressure aus dem Jahr 2024 zeigt für die Zählung von 2023 einen Anstieg der weiblichen Acts auf 30%. Bei non-binären Künstler:innen, die seit 2017 mit erfasst werden, waren es zunächst 0,4%, doch auch hier stieg der Anteil bis zum Jahr 2023 immerhin auf 3,3% (Daten der FACTS Study von 2024 hier).
Gesellschaftliche Entwicklung heute
Der Blick in die Nachrichten zeigt aber, dass gerade etwas ins Rutschen gerät – und zwar in die Gegenrichtung. Die Regenbogenfahne wird aus dem Bundestag verbannt. Die designierte Richterin für das Bundesverfassungsgericht Frauke Brosius-Gersdorf wurde u.a. wegen ihrer liberalen Haltung zu Abtreibungen von einer Kampagne aus dem rechten Milieu diffamiert und hat ihre Bewerbung daraufhin zurückgezogen. Gisèle Pélicot hat in Frankreich inzwischen zwar sogar den Verdienstorden der Ehrenlegion erhalten. In Deutschland aber werden Netzwerke aufgedeckt, die Frauen gezielt betäuben, um sie missbrauchen zu können, aber der große, gesamtgesellschaftliche Aufschrei bleibt aus.
Wir sind also schon mittendrin im Backlash. Was gesellschaftlich erreicht wurde, ist nicht gefestigt. Misogynie und Diskriminierung von Transpersonen waren nie wirklich weg, drohen jetzt aber wieder salonfähig zu werden.
Und auch die neuen Errungenschaften in Sachen Gendergerechtigkeit in der Musikwelt sind trotz aller Erfolge längst nicht in trockenen Tüchern. Die Musikgeschichte offenbart es immer wieder: Komponistinnen, so erfolgreich sie sein mochten, können aus der Geschichte herausgeschrieben werden und (fast) wieder verschwinden. Dass sowas längst wieder versucht wird, lässt sich in den USA beobachten, wo auf Webseiten des U.S. Militärs Einträge mit den Errungenschaften von Frauen, People of Colour und Transpersonen gezielt gelöscht und ihre Verdienste damit unsichtbar gemacht werden sollten – ein Prozess, der nur dank heftiger Proteste zumindest teilweise wieder rückgängig gemacht wurde.
Was sich immer wieder zeigt: Wer marginalisiert ist, trägt im Kampf um Gerechtigkeit die doppelte Last. Umso wichtiger ist die Solidarität aller, die (noch) nicht betroffen sind. Gut lässt sich das am Beispiel der Vereinbarkeit sehen. Wenn es Mütter sind, die sagen, dass Kinderbetreuung und Beruf sich schlecht in Einklang bringen lassen, wird das selten zu einer Nachricht. Wenn Sigmar Gabriel einmal in der Woche das Kind von der Kita abholt oder Anton Hofreiter seinen Sohn mit in den Bundestag nehmen muss, sind die Zeitungen voll davon und es gibt tatsächlich eine Debatte darüber, wie Kinderbetreuung und Beruf zusammen gehen können (auch wenn man auf die strukturellen Konsequenzen daraus immer noch warten muss).
Wenn wir dem Backlash etwas entgegensetzen wollen, müssen wir uns also dringend alle solidarisch zeigen. Und das gilt explizit und insbesondere für Männer. Wenn die Scham wirklich die Seite wechseln soll, dann müssen sich auch Männer dafür verantwortlich fühlen. Gerade Männer müssen die entsprechende Scham bei gewissen Geschlechtsgenossen hervorrufen, wenn diese sich missbräuchlich benehmen oder beim "Locker-Room-Talk" misogyn äußern. Solche Verhaltensweisen dürfen von uns allen nicht mehr als normal, sondern müssen als peinlich empfunden werden. Und wir müssen uns alle zusammen dagegenstemmen, damit es eben nicht zum Fortschreiten des Backlash kommt.
Die Last der Verantwortung dafür, dass sich in der Gesellschaft, im Musikbetrieb, an den Hochschulen und im Journalismus etwas zum Guten und hin zu mehr Gerechtigkeit ändert, darf nicht mehr allein bei denjenigen liegen, die von Missbrauch oder Diskriminierung betroffen sind. Die Last liegt bei uns allen. Wenn wir das verinnerlicht haben, wird es vielleicht auch endlich möglich sein, "on the record" über Diskriminierung und Missbrauch zu sprechen.