Netzkultur als kompositorische Ressource
PorträtDer Komponist Nicolas Berge
Zu Beginn der 1960er Jahre erodierten in Kunstformen wie der visuellen und der Lautpoesie, der Klangkunst oder im instrumentalen Theater, der Performance und der Video- und Medienkunst die medialen Schranken der angestammten Künste.
Diese Auflösung der Medien- und Genregrenzen erreichte ab den 1980er Jahren durch die Digitalisierung von Klang und Bewegtbild eine neue Stufe. In Zeiten des Smartphones, sozialer Netzwerke, virtueller Räume und anstehender Umwälzungen durch Künstliche Intelligenz schreitet die Hybridisierung der Künste voran, und in der Neuen Musik tut sie das mit einem neuen Komponist:innen-Typus. Ein großer Teil jener ab den 1980er Jahren geborenen und gemeinhin als „digital natives“ bezeichneten Komponist:innen, die heute die Konservatorien verlassen, zeichnet sich durch eine weitreichende Medienkompetenz aus, die ganz selbstverständlich die elektroakustischen Möglichkeiten des Digitalen nutzt und auch Expertise in der Videotechnik, Computergrafik oder Bühnentechnik mit einbezieht. Bedienen sich junge Künstler:innen elektronischer Mittel, ist die Multimedialität meist Standard. Für die Stücke des 1992 in Hannover geborenen und heute in Köln ansässigen Komponisten Nicolas Berge gilt das im Besonderen. In seinen Werken verzahnt Berge Instrumentalspiel, Elektronik und Sampling in meist atemberaubendem Tempo mit Lichtinszenierung und Videotechnik. Über diese etablierten Bühnentechniken hinaus realisierte er gemeinsam mit der Komponistin Lucia Kilger immersive Werke: das multimediale Musiktheater „Good Frieds Club“ für die Münchener Biennale 2022, des Weiteren Installationen, Video- und Augmented-Reality-Walks sowie Arbeiten für VR-Brillen, die in München, Essen oder Köln präsentiert wurden.
Nicht selten bedient sich Nicolas Berge in seinen Werken in provokanter oder augenzwinkernder Weise jener auf Überwältigung zielenden Inszenierungsstrategien, die von großen Pop-Events bekannt sind. Immer aber sind Licht, Bühnentechnik und Videozuspielung substanziell in seine Stücke einkomponiert.
Ich glaube tatsächlich, dass die meisten Ideen, die ich habe, immer schon in ihrer Anlage etwas Mehrdimensionales haben und ich deshalb in der Komposition auch gleich versuche, in mehrere Medien – dass ist dann meine Übersetzung dieser Mehrdimensionalität –, reinzuschreiben und reinzudenken. Es ist also nicht so, dass ich Musik komponiere und dann hinterher denke, ich mache noch ein schönes Video dazu oder beleuchte das mit bunten Lichtern, sondern ich koppele das von vornherein so, dass es sich bedingt.
Das gilt bereits für frühe Werke, die Berge während seiner Studienjahre an der Kölner Musikhochschule in der elektronischen Kompositionsklasse von Michael Beil komponierte, etwa für das 2019 komponierte Stück „double exposure“, das für Musiker:innen des Ensemble Musikfabrik entstand. Der Titel „double exposure“, also Doppelbelichtung, ist aus der Fotografie entlehnt. Er verweist darauf, dass in dem Stück für Quartett-Besetzung das Licht eine integrale Rolle spielt. Die vier Musiker:innen des Ensembles sind in absoluter Dunkelheit mit gebührendem Abstand voneinander auf der Bühne platziert. Mit den ersten Einsätzen dimmen hinter ihnen Lichtstelen auf. Sie machen für kurze Augenblicke die Silhouetten der Akteur:innen sichtbar und werfen Schlagschatten in Richtung des Publikums. Im Verlauf des Stückes kommt bald ein weiteres Licht hinzu: Bühnenscheinwerfer über den Köpfen der Musiker:innen lassen sie in Synchronisation mit ihren Instrumentaleinsätzen in einem weißen Lichtkegel auftauchen und sogleich wieder in der Dunkelheit verschwinden. Zudem können alle acht Lichtquellen mit einem scharfen An oder Aus oder einem Auf- oder Abdimmen erstrahlen. Schaltungsvorgänge, die im Stück akustisch durch Audiosamples repräsentiert werden, die Berge aus der Welt des elektrischen Lichts sammelte: das gläserne Klicken einer anspringenden Neonröhre, Spannungsbrummen von elektrischen Lichtquellen, das Klicken von Lichtschaltern.
Das Prinzip der mit der Musik synchronisierten Lichtchoreografie ist leicht erkennbar. Es fasziniert, weil Berge die Einsätze der Deckenspots und Lichtstelen in atemberaubendem Tempo in allen erdenklichen Kombinationen permutiert. Allerdings ist in dem Stück die Synchronführung von Instrumentaleinsatz und Licht nicht in Stein gemeißelt. Immer wieder verselbständigt sich die Lichtinszenierung. Gelegentlich löst sie sich von der Musik und führt dann ein Eigenleben.
Es ist ein Stück für Quartett-Besetzung mit Klarinette, Viola, Drumset und Keyboard-Sampler. Ich habe mich viel mit der Frage beschäftigt: Was ist denn das, wenn Musikerinnen auf der Bühne Musik spielen oder performen? Und diese Aspekte analytisch zu entkoppeln, zu verkoppeln und im wahrsten Sinne analytisch drauf zu schauen: Wie wirkt das, wenn ich die gut sehe, gar nicht sehe, sie aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet sind? Wie wirkt das, wenn ich die Zwischenzeiten, in denen jemand eine Zeit lang nicht spielt und Pause hat, rausschneide, gewissermaßen wie in einem Videoprogramm. Wenn ich sage: Wenn jemand auf seinen nächsten Einsatz wartet, sehe ich ihn gar nicht. Ich habe in der Zeit, als „double exposure“ entstanden ist, versucht, Systeme zu bauen, die an ein Setup und eine musikalisch-künstlerische Logik gekoppelt sind. Dann habe ich versucht, Wege zu finden, wie ich innerhalb des Systems damit umgehe, es zu benutzen, auch auszureizen und zu überreizen. Das sind dann Stellen, wo die Logik aufgelöst wird. Man stellt sich die Frage: Wie hat das funktioniert und warum funktioniert es jetzt nicht mehr? Vor allem hat es mir aber auch Spaß gemacht, innerhalb der Systeme das Ganze relativ klassisch durchzudeklinieren und Spannungsbögen mit der Logik dieses Stücks zu bauen.
Die vermeintlich leichte Durchschaubarkeit seiner Setups ist ein didaktischer Kniff, der die Aufmerksamkeit des Publikums an die performative und technische Dimension seiner Stücke bindet und es gleichzeitig befähigt, Regelverstöße oder Brechungen, die sich oft nur im Bruchteil einer Sekunde ereignen, mit Erheiterung wahrzunehmen. Berge inszeniert die Interaktion zwischen seinen technischen Systemen und den Musiker:innen als Spiel erfüllter oder auch unerfüllter Erwartungen. Auf klanglicher Ebene ist die minutiös verzahnte Trias aus live gespieltem Instrumentalklang, live-elektronischer Klangmanipulation und vorproduziertem Zuspiel nur unter aufmerksamer Beobachtung entwirrbar, da Berge sich beim Zuspiel auch Samples klassischer Instrumente oder vorfabrizierter und vorhandener Fremdmusiken bedient. Gelegentlich sind die instrumentalen Gesten der Interpret:innen performativ inszeniert und sie täuschen Einsätze manchmal nur an, etwa in seinem Stück „convey control“ aus dem Jahr 2019.
„convey control“ entstand für einen Schlagzeuger am MIDI-Drum-Pad. Obwohl das Werk ein Solostück ist, befinden sich zwei Schlaginstrumente auf der Bühne. Zum einen das tablettartige digitale Schlagzeugpad mit acht quadratischen Feldern, das der Solist bespielt, und in einigen Metern Abstand ein klassisches Schlagzeug mit Becken, Snare, Toms, Hi-Hat und Kick-Drum, das während des gesamten Stücks nicht angerührt wird und dennoch klingt!
Für mich war der Gedanke zentral, dieses sehr körperliche Instrument Schlagzeug, das beim Spielen auch einen sehr performativen Gestus hat, zu entkoppeln, also die Geste von dem Instrument zu entkoppeln und dazwischen dieses Interface zu schalten. Der Schlagzeuger spielt ein MIDI-Drum-Pad, das anschlagsensibel ist und das wiederum an eine Software gekoppelt ist, die Klang auf kleine Lautsprecher am Schlagzeug selbst schickt, also Lautsprecher auf den Fellen und auf den Becken, sodass man zum Beispiel beim Schlagen auf dem Drum-Pad die Snare-Drum erklingen lassen kann. Das heißt, ich habe einen Schlagzeuger, der dieses MIDI-Drum-Pad wie ein Drum-Set spielt und auch mittelbar das Drum-Set spielt, obwohl er nicht am Drum-Set sitzt. Mich hat daran diese Fernsteuerung und die Idee von einem Interface interessiert, mit dem ich interagiere. Ich interagiere gar nicht mit dem Gegenstand selbst, sondern ich habe etwas dazwischengeschaltet. Und in „convey control“ ist das sehr augenfällig. Das Bühnensetup ist auch so gestaltet, dass der Schlagzeuger mit einigem Abstand zum Schlagzeug sitzt, um das ganz simpel zu visualisieren.
Für „convey control“ stellte Berge Schlagzeug-Samples eben von jenem akustischen Instrument her, das neben dem oder der Spieler:in am Pad auf der Bühne steht. Da die elektronisch getriggerten Sounds auf das akustische Schlagzeug rückprojiziert werden, resonieren sie hier besonders gut auf den Komponenten des akustischen Instruments. Auch hier scheint das Setup einfach und durchschaubar, aber auch „convey control“ ist als präzise getaktetes Verwirrspiel zwischen instrumentaler Aktion, Echtzeitprozessen und autonomer Zuspielung komponiert.
Wir sitzen ja alle hinter irgendwelchen Geräten, wo wir mit Interfaces agieren und gar nicht mit der Sache selbst. Ich finde es interessant, im Laufe des Stücks auch Momente zu haben, wo das auf einmal wieder sehr sichtbar oder in diesem Fall hörbar wird, wo zum Beispiel die Kopplung aufgehoben wird und wo ich dann nur diese reine Oberfläche, nämlich dieses schnöde Gummi-Drum-Pad höre. Oder wo auch andersherum etwas passiert: wo das, was dahinter geschaltet ist, ein Eigenleben entwickelt und nur das Programm, das ich dafür geschrieben habe, Musik erzeugt und der Musiker aus der Gleichung herausgenommen wird.
Wenn Berge in „convey control“ den/die Musiker:in aus der Gleichung nimmt, verwandelt sich die vermeintlich musikalische Aktion zur rein performativen Geste, die ins Leere laufen kann. Gestisches spielt in dem Stück zudem über ein weiteres technisches Element eine wichtige Rolle: Berge stattete den rechten Arm der/des Interpret:in mit einem Bewegungssensor aus, der Beschleunigung und Neigung in Steuerdaten verwandelt. Mit ausladenden Armbewegungen kann der/die Solist:in Klänge in Echztzeit in Tonhöhe und Geschwindigkeit verformen und zu einem stehenden Spektrum einfrieren.
Nach einem Trio aus dem Jahr 2018 war „convey control“ das zweite Stück, das Nicolas Berge für das Kollektiv3:6Koeln komponierte, eine Gruppe, die sich 2017 aus insgesamt sechs Musiker:innen und den drei Komponist:innen Farzia Fallah, Georgia Koumará und Vladimir Guicheff Bogacz formierte. Berge war ursprünglich als Pianist Gründungsmitglied des Kollektivs. Neben seinem Klavierstudium an der Kölner Hochschule studierte er elektronische Musik bei Michael Beil – so entschied er sich schließlich für die Komponistenlaufbahn.
Ich habe vorher recht naiv Musik geschrieben und habe dann mit dem Klavierstudium damit aufgehört. Das hat angefangen, als ich mich ernsthaft auf die Klavierprüfung vorbereitet habe. Ich habe gemerkt, dass das eine andere Art zu musizieren ist. Während es in meiner Jugend noch spielerisch war, ein Hin und Her zwischen dem klassischen Klavierunterricht am Nachmittag und der Bandprobe mit Synthesizer im Gepäck abends, war das nun ein anderer Fokus, eine andere Art von Disziplin. Es gab da eine große Ehrfurcht. Es gibt so viel hervorragende Musik, es gibt so viel zu entdecken. Was habe ich da eigentlich noch zu sagen? Da habe ich komplett aufgehört, Musik zu schreiben. Im Laufe des Studiums habe ich über die Improvisation und freiere Formen des Musizierens zurückgefunden und erkannt, dass es mir eigentlich Spaß macht und vielleicht auch gar nicht so fern von meinem Naturell ist, Musik zu schreiben.

Berge, der 2023 in Köln das Bernd Alois Zimmermann-Stipendium erhielt, komponiert heute regelmäßig für das von ihm mitgegründete Kollektiv3:6Koeln. Das Ensemble präsentiert sich in der Konzertreihe „Hashtag“ einmal jährlich mit neuen Werken aus der Feder seiner Mitglieder. Im Oktober 2020, in dem kurzen Zeitfenster zwischen erstem und zweitem Corona-Lockdown, fand die dritte Ausgabe von „Hashtag“ in der RuffFactory statt, einer alten, umgewidmeten Industriehalle im Kölner Stadtteil Ehrenfeld. Neben Werken von Koumará, Fallah und Guicheff Bogacz präsentierte Nicolas Berge mit „hyperconnect control“ eine Komposition, die Aspekte aus „double exposure“ und „convey control“ auf eine neue Ebene hob. Für „hyperconnect control“ hatte Berge die Musiker:innen des Kollektiv3:6Koeln in der abgedunkelten Fabrikhalle in weiten Abständen in dem und um das Publikum herum postiert. Wie zuvor schon in „double exposure“ akzentuierte das präzise synchronisierte An und Aus einer Lichtstele neben jede:r Spieler:in die Instrumentaleinsätze. Kern des technischen Setups in „hyperconnect control“ ist aber jener Datenhandschuh, den Berge bereits in dem Schlagzeugstück „convey control“ erprobt hatte. Hier nun sind mit Ausnahme der Flöte alle Instrumentalist:inen mit einem Controller-Handschuh ausgestattet. Ein Netzwerk, das Berge in seinem Rechner kontrolliert, befähigt sie, die Klänge der Kolleg:innen durch Armbewegungen in Echtzeit zu manipulieren.
Diese Verbindung von allen zu allem hat mich beschäftigt. Diese Idee, dass niemand etwas spielen kann, ohne dass es nicht einmal durch alle durchläuft. Alle haben diesen Handschuh und können jederzeit in den Klang eingreifen. Das läuft alles in meinem Computer zusammen, da ist alles digital ineinandergesteckt. Das ist wirklich wie ein Uhrwerk durchgetaktet. Es ist komplett ausnotiert, auch jede Sensorbewegung ist ausnotiert. Ich arbeite mit Click-Track, auch in diesem Setup. Es gibt auch einen pragmatischen Ansatz: Die Musiker:innen sind extrem weit auseinander, es ist eine sehr starke Vereinzelung. Das heißt, hier gibt es dieses kammermusikalische Ensemblemoment gar nicht so sehr. Für mich sind Timing-Fragen sehr wichtig – natürlich auch durch den starken Einsatz der Elektronik, die ja immer etwas Unflexibles hat.
Berge ist als Pianist selbstverständlich mit der Geschichte, den Schlüsselwerken und den aktuellen Strömungen der zeitgenössischen Musik vertraut. Aber er wurde nach eigener Aussage durch die Popmusik geprägt. Diese Einflüsse scheinen in seinen Stücken immer wieder durch. In „hyperconnect control“ erklingen eine verzerrte Bassdrum und synthetische Handclaps. Acht-Bit-Sounds erinnern an die Welt der Computerspiele. Das Blitzgewitter der LED-Stelen und ein an den Techno angelehntes Finale spielen auf Clubkultur an.
Gerade der Zuspielanteil ist sehr computer- und digitallastig und klingt nach Glitch. Diese Hyperkonnektivität ist inspiriert von der Zeit, in der wir leben, mit Internet und Smartphone und all dem. Und das assoziiere ich auch mit einer Klanglichkeit, wie sie im Internet, in der aktuellen Popmusik oder auch in Nischen des Pop vorherrscht. Das bestimmt ganz klar den Klang des Ganzen. Es gibt aber auch ein paar lustige Sachen. Am Anfang zum Beispiel startet ein altes Modem. Ich bin tatsächlich noch mit ISDN aufgewachsen, wo man sich am Anfang noch eingewählt hat (das konnte ich mir beim Thema Internet nicht verkneifen).
Mit „double exposure“, „convey control“ und „hyperconnect control“ lotete Berge schon während seiner Studienjahre die musikalische Verflechtung von Technik, Dramaturgie und Bühne aus. „hyperconnect control“ ist mit den popmusikalischen Referenzen und der technischen Vernetzung darüber hinaus auch als Metapher für die technologische und soziale Verfassung unserer digitalen Kultur deutbar. 2022 führte Berge seine Reflexionen über die Digitalkultur sogleich mit der Multimedia-Komposition „I could be anything I want“ fort. Inspiration für das Stück zog er aus dem feministischen Manifest „Glitch Feminism“ der amerikanischen Kuratorin und Schriftstellerin Legacy Russel und aus dem 2016 publizierten Buch „Kultur der Digitalität“ des Medientheoretikers Felix Stalder. „I could be anything I want“ wurde im November 2022 im Rahmen der „Hashtag“-Reihe vom Kollektiv3:6Koeln uraufgeführt. In dem Werk für Ensemble, Elektronik und Video verwendete Berge umfangreich Videomaterial aus dem Internet.
Speziell für „I could be anything ...“ habe ich das Bedürfnis gehabt, nochmal tiefer in die Welt zu gehen, in der ich mich viel bewege: die Welt des Digitalen, des Internets, der ganzen Programme und Ästhetiken, die mich inspirieren. Ich fand es für mich nützlich, bei einem Autor wie Felix Stalder und seinem Buch „Kultur der Digitalität“ eine Analyse zu finden, die prägende Phänomene der heutigen Zeit sehr gut auf den Punkt bringt und benennt. Er spricht über Referenzialität, Algorithmizität und Gemeinschaftlichkeit als prägende Säulen der heutigen Zeit. Ich lese das natürlich als Komponist, als Musiker und nicht als Soziologe, das heißt ich versuche, darüber Phänomene zu verstehen und sie dann für mich zu übersetzten. Ich lasse mich davon inspirieren und finde dann aber reflektierend Techniken im Musikalischen, wie zum Beispiel das Referenzieren und Verbinden von verschiedenen Musiken, Stilen, ganz konkret auch das Remixen. Über die Lektüre habe ich verstanden, dass es gesellschaftliche Prinzipien sind, die gerade vorherrschend sind, dass Bedeutungen heute vielmehr über Community und Referenzen erzeugt werden und auch Identitäten sich darüber definieren.
Referenzialtät, Algorithmizität, Gemeinschaftlichkeit: In „I could be anything I want“ sind diese Aspekte der digitalen Welt auf verschiedenen Ebenen wirksam.
Berge nimmt in dem Stück explizit Bezug auf popmusikalische Phänomene des Internets, und so ist dieses multimediale Musiktheater wie ein Popkonzert mit Lightshow und großer Videoprojektion inszeniert. Bereits der Beginn der Komposition arbeitet humorvoll mit doppeldeutigen Referenzen. Die Rotorgeräusche eines Hubschraubers spielen darauf an, wie in der Hochphase der Rockfestivals, etwa auf dem Woodstock-Festival, Musiker:innen berühmter Bands mit dem Hubschrauber auf das Gelände eingeflogen wurden. Vielleicht aber zitiert das Intro ja auch den Beginn von Karlheinz Stockhausens Helikopter-Quartett, denn im Video taucht der Meister später mit einem Interviewausschnitt auf. In Berges Stück sticht vorgefundenes Material besonders heraus. Im Zentrum seiner Medienkomposition steht die Arie „Lascia ch’io pianga“ aus Händels Oper „Rinaldo“, die als populäre Melodie aus der klassischen Musik auf zahllosen YouTube-Videos von Laien und professionellen Sänger:innen interpretiert wird. Sekundengenau in das Live-Spiel des Ensembles eingepasst, tauchen in der multimedialen Inszenierung Ausschnitte aus zahlreichen Videos als Fundstücke aus dem Netz auf. Doch auch die auf der Bühne spielenden und singenden Ensemblemitglieder erscheinen gelegentlich im Video und interpretieren die Händel-Arie in diversen zeitgenössischen Remix-Stilen, die Namen tragen wie Vapor-Wave, Hardstyle, Y2K-Pop, Bardcore oder Nightcore. Hier handelt es sich um Remixe, die sich durch spezifische Stilmerkmale auszeichnen und in den vergangenen Jahren vorzugsweise im Netz verbreiteten. Da ist etwa das Remix-Genre „Bardcore“. In dem Namen steckt das Wort Barde. In dem Netz-Genre werden bekannte Popstücke im mittelalterlichen Stil interpretiert. Durch eine bewusst übertriebene Künstlichkeit zeichnet sich wiederum das Genre „Nightcore“ aus, dass sich auf YouTube vorzugsweise in Anime- und Manga-Foren verbreitete. In diesem Remix-Stil herrschen schnelle Beats und elektronisch transponierte, verfremdete, somit extrem künstliche Gesangstimmen vor.
Ich glaube, dass wir in einer Zeit leben, in der wir keine ernstzunehmende Trennung zwischen Online-/Digitaler Welt und der sogenannten realen Welt machen können, sondern dass das ein stetes Kontinuum ist. Insofern war es für mich in dem Stück wichtig, diese Ebenen zu verschmelzen. Da haben wir einerseits die Musiker:innen mit ihren Instrumenten auf der Bühne. Sie wandern aber auch ins Video, bestimmte Kostüme oder visuelle Aspekte wandern vom Video wieder auf die Bühne. Diese Vermengung war für mich sehr wichtig. In dem Sinne war es dann auch naheliegend, andere Formen aus dem Internet wie zum Beispiel Amateurinterpret:innen, aber auch professionelle Interpret:innen auf YouTube, auf TikTok, auf Instagram mit reinzuholen. Da haben wir in dem Fall eine virtuell auftretende Sängerin, die bei einer Talentshow diese Arie in total kitschiger Form singt, daneben der superernstzunehmende Countertenor. Beide wechseln sich phrasenweise ab, beide sind zudem im Duett mit dem auf der Bühne agierenden Ensemble. Später haben wir die singenden Musiker:innen auf der Bühne, die von einem virtuellen Ensemble begleitet werden. Diese unterschiedlichen Spielformen haben mich interessiert.
Obwohl Bezüge zur Popmusik in der Neuen Musik heute nicht mehr ungewöhnlich sind, nehmen Berges Werke doch eine nicht unumstrittene Position ein. Anders als viele Kolleg:innen, die populäre Einflüsse reklamieren, diese dann aber häufig bis zur Unkenntlichkeit verklausulieren, bewegen sich seine recht eindeutigen Pop-Referenzen an der Grenze zum Arrangement oder Pasticcio.
Der Anstoß war für mich die Faszination für diese Online-Genres, diese kleinen Nischen, wo sich kleine Gruppierungen, die über die Welt verstreut sind, zusammenfinden und Musik in bestimmten, teilweise neu erfundenen Stilen remixen. Daraus entstehen dann wieder neue Genres, wie eben zum Beispiel „Nightcore“. Diese Faszination war der Ausgangspunkt: Wie wäre es, wenn ich ein Stück Musik nehme, das schon existiert und das sehr bekannt ist, und das einfach mal in diesen Stilen, in diesen Genres remixe? Was passiert mit dem Stück, mit meiner Wahrnehmung, und wie werden bestimmte Mechanismen der Stile deutlich?
Berges Stilmixturen vollführen den Spagat, die Musik unterschiedlicher Epochen und Stile in abenteuerlicher Weise zu verschmelzen. In extremer Verdichtung begegnen wir diesem Prinzip in der Komposition „reshape my heart“, die 2023 als Auftrag des Kölner Acht Brücken-Festivals für das Cologne Guitar Quartet entstand. Berge komponierte „reshape my heart“ als „Mashup“. In einer irrwitzigen Tour de Force verbindet sich hier die Musik des Barock mit Miley Cyrus‘ Stück „Wrecking Ball“ und dem Song „Shape of My Heart“ von den Backstreet Boys:
Anders als der Remix, wo ich eine Vorlage habe, die ich bearbeite, verändere, arrangiere oder umschreibe, steht beim Mashup im Fokus, dass mehrere unterschiedliche Sachen zusammenkommen und zu etwas Neuem verwoben und synthetisiert werden. Da trifft dann Johann Sebastian Bach auf Miley Cyrus, auf ein Oboenkonzert aus dem 17. Jahrhundert oder andere Pop-Referenzen aus den 2000er Jahren. Und all diese Verwebungen, wenn Miley Cyrus über die Quintfall-Sequenz von Bach singt, während irgendjemand noch mit einem überzüchteten E-Gitarrensound das Oboen-Solo aus diesem Konzert spielt, bilden eine viel höhere Schichtung in der Vertikalen, eine Gleichzeitigkeit dieser Sachen.
Ein weiteres Pop-Element in „reshape my heart“ ist die E-Gitarre, die als elektroakustischer Klangerzeuger das Klangbild des Rock und Pop bis heute maßgeblich prägt.
Als ich den Auftrag bekommen habe, stand bei der E-Gitarre sofort die Frage nach den Effekt-Geräten und der Veränderung des Sounds im Raum. Diese Gestaltung des Sounds durch Effektpedale wurde dann auch mein Fokus inklusive der Entscheidung, dass ich diese Effektketten selber baue und programmiere. Ich lasse die Gitarren alle durch meinen Rechner gehen. Dadurch habe ich die Möglichkeit, fernab von jeder Beschränkung durch irgendwelche Fußtreter den Sound in Bruchteilen umzuschalten und anders zu mischen.
Während „hyperconnect control“ und „reshape my heart“ als multimediale und stilpluralistische Amalgame im Sinne des Soziologen Felix Stalders mit Referenzialität spielen, widmete sich Nicolas Berge 2023 mit seiner Komposition „How to part II“ einem Video-Genre aus dem Internet, das für den Aspekt der Gemeinschaftlichkeit in der Netzkultur steht. „How to part II“ für Violine, Schlagzeug und Videoprojektion ist im Stile jener Do-It-Yourself-Tutorials angelegt, die auf YouTube zu allen nur erdenklichen Themen eingestellt sind. In dem Stück verhandelt eine elektronisch verfremdete Stimme auf humorvolle Weise Fragen zur musikalischen Zeit, zum Einsatz von Musiker:innen, Video und Licht. Die Stimme kommentiert und reflektiert also jene dramaturgischen Mittel, die sich Berge für seine Musik über die Jahre angeeignet hat und die nun auch in diesem Stück zum Einsatz kommen. Auch hier wird die Musik von einer präzisen Lichtchoreografie und von einem Video begleitet, das in rasanter Synchronisation auf humorvolle Weise das Bühnengeschehen kommentiert oder konterkariert. Neben dem Text der Sprecherstimme, der auch in der Bildspur in unterschiedlichsten Typografien lesbar ist, erscheinen auf der Projektionsfläche 3D-Grafiken und Videomaterial aus dem Internet. Hier hat beispielsweise der britische Singer/Songwriter Ed Sheeran einen Gastauftritt.
Das ist ja ein riesiges Archiv, was das zuhause an meinem Rechner zur Verfügung steht, und viele Sachen, die ich in meinen Stücken anwende, lerne ich im Internet.
Ich finde diese Kultur des Wissens und des kostenlosen Weitergebens innerhalb von Communities im Internet spannend. Dies gut zu gestalten, ist eine eigene Kunstform im Internet. Ich wollte ein Stück daraus machen, das sich selbst erklärt und generiert. Um was für einen Gegenstand handelt es sich? Es geht um Musik. Und das müsste erklärt werden, aber das wäre anmaßend, allen zu erklären, wie man Stücke komponiert. Aber wie wäre es, wenn es eine Reihe mit mehreren Abschnitten wäre, die einen unterschiedlichen Fokus haben? Es gibt dann noch einen zweiten Teil, wo es eher um die Gestaltung der Bühnensituation geht, mehr um Dramaturgie als um das eigentliche Komponieren. Ich habe mit Teil zwei angefangen, Teil eins steht noch aus, es gibt nur den Verweis auf Teil eins.

Lange Zeit war das Verhältnis zwischen Neuer Musik und Pop ein kritisches, denn Theodor W. Adornos Pop-Verdikt wirkt bis in die heutigen Tage in die Welt der Neuen Musik hinein. In der Musikgeschichte ist es vielleicht nur Frank Zappa mit seinen hochgetakteten Stilagglomeraten gelungen, den Spagat zwischen zeitgenössischer Komposition und Pop zu vollziehen. In diesem Sinne können Nicolas Berges Medienkompositionen, die ganz bewusst mit Momenten des Kitschs, der Übertreibung, Überwältigung und des Pathos arbeiten, als „zappaesk“ bezeichnet werden.
Wie deutlich dürfen oder können Pop-Idiome in die Neue Musik einbezogen werden und wann ist der Punkt erreicht, an dem sie aufhört, Neue Musik zu sein?
Während die Publikumsreaktionen auf Berges rasante, kurzweilige und oft humorvolle Werke durchweg frenetisch ausfallen, dürfte seine Musik das Fachpublikum vermutlich noch eine Weile spalten.
Eine Sendung von Hubert Steins, ausgestrahlt am 19. September 2023 im Deutschlandfunk Kultur / Neue Musik.