„Der schaffende Mensch ist mir nach wie vor das größte Rätsel“

Interview

Stefan Fricke und Bernd Künzig im Gespräch mit Wolfgang Rihm

Bernd Künzig: Die erste Frage gilt deinen Musiktheaterstücken. „Jakob Lenz“ (1979), „Die Hamletmaschine“ (1987), „Ödipus“ (1987), „Die Eroberung von Mexiko“ (1992) und „Dionysos“ (2009) – sind all diese nicht eigentlich Künstleropern?

Wolfgang Rihm: Das ist sicher ein Überbegriff, unter den man sich stellen kann. Man kann es so auffassen, das ist richtig. Das Künstlertum ist überall am Werk. Ich meine, der schaffende Mensch ist mir nach wie vor das größte Rätsel. Und ich kann mir den Menschen auch nicht als Nichtschaffenden vorstellen, als Nichtgenerierenden, als Nichthervorbringenden. Von daher sind diese, ich nenne sie jetzt mal: Opern, auch alle damit befasst, das Gebären von geistigen Welten mit dem Aushalten von realen Weltzuständen zusammenzubringen. Das ist bei Dionysos, der Nietzsche-Figur so. Das ist beim Ödipus, dieser Bewältigungsgestalt aus der Antike so und eigentlich auch bei „Die Eroberung von Mexiko“, wo eine Figur eines idealen Antonin Artaud im Hintergrund steht. Von daher gesehen, sicher richtig gesehen, sind es Künstleropern.

Es geht um Zustände, in die der Mensch über den Enthusiasmus gerät, über eine Beseeltheit, über eine Besessenheit, die ihn in einen hervorbringenden Zustand zwingt. Vielleicht ist es genau das, was ich mir eben über lange Jahre als einziges auf der Bühne abhandelbares musikdramatisches Geschehen vorstellen konnte. Selbstverständlich kann man auch einen Kriminalfall eins zu eins abbilden, wo ein vergifteter Dolch in irgendeiner Situation eine Rolle spielt. Das ist sicher auch spannend. Aber nur durch diese psychologische Konstellation – jemand kommt durch seine Besessenheit für etwas, durch seine Besessenheit von etwas in einen gehobenen, erhobenen, enthobenen Zustand – kann ich mir vorstellen, dass einer anfängt zu singen. Einen Kommissar, der fragt: „Wo waren Sie von 17:20 Uhr bis 18:33 Uhr?“, kann ich mir auf der Opernbühne nicht vorstellen. Aber ich kann mir schon vorstellen, dass jemand aus einer Entrückung heraus versucht, seinen Ort wiederzufinden, und dass so etwas Musiktheater ermöglicht. Das ist vielleicht eine altmodische Sicht. Aber gut, dann stamme ich aus dieser Geprägtheit. 

Bernd Künzig: Ich würde nicht sagen, dass es eine altmodische Sicht ist, denn das Musiktheater ist ein Stück weit ja auch erzählerisch. Das ist natürlich auch eine Frage der Regie, der Inszenierung. Aber das Erzählerische ist in deinen Musiktheaterwerken nicht das Entscheidende, sondern die Zustände der Figuren.

Wolfgang Rihm: Es werden eigentlich ständig Geschichten erzählt und Möglichkeiten zu Geschichten offengelegt. Da kann vieles passieren. Das muss dann gar nicht realiter geschehen. Es muss gar nicht hinter der Säule jemand stehen, der auf jemanden lauert. Es muss gar nicht hinter dem nächsten Mauervorsprung ein wie auch immer geartetes untätiges Geschehen passieren, das geahndet werden muss, sondern es sind tief menschliche Anlagen und Begebenheiten, die möglich werden. Musiktheater ist eigentlich eine unmögliche Kunst. Es ist eigentlich eine Kunst der ständigen Imagination, der ständigen vorgegebenen oder vorgespiegelten, wenn man so will, Wirklichkeitsmechanik. Da wird etwas insinuiert, als könnte es geschehen, als würde es geschehen, aber es geschieht ja nicht in Wirklichkeit, sondern es wird in seiner reflektierten Form dargestellt. Allein schon, dass gesungen wird, ist doch völlig irre. Wer singt denn, wenn er jemand umbringt? Wer singt denn, wenn er umgebracht wird? Das tut doch heute niemand mehr. Das ist nicht mehr en vogue. 

Stefan Fricke: Diese Unmöglichkeit reizt dich aber doch sehr oft, immer wieder darauf zurückzukommen. Warum singen? Warum Gesang auf die Theaterbühne bringen? 

Wolfgang Rihm: Weil das der einzige Ort ist, wo das möglich ist. Nur auf der Bühne ist es möglich, Unwirkliches darzustellen. Im Film glaubt es doch sowieso niemand. Da kann man alles machen. Aber auf der Bühne ist es wirklich, ist es wirklich irre, ist es wirklich unverständlich, ist es wirklich fremdartig. Es kann wirklich sein, dass Dinge geschehen, die überhaupt nicht möglich sind, die überhaupt nicht geschehen können. 

Stefan Fricke: Suchst du die Texte dafür oder suchen die Texte dich?

Wolfgang Rihm: Meistens geschieht das wohl in Parallelbewegungen. Man geht ziemlich lang mit Texten oder Textfeldern um, um sie dann irgendwann gestaltbar zu finden. Aber das sind oft auch Vorgänge, die nicht im Bewusstsein liegen. Das sind vielleicht scheinhafte Ereignisse. Das ist eine Welt, die ich nicht erklären kann, aus der heraus ich angegriffen werde, im doppelten Sinn angegriffen und begriffen. Diese Scheinwirklichkeiten sind auch Spielfelder, wo ich Obsessionen, mit denen ich vielleicht umgehe, ohne es zu merken, abladen, ausleben kann. Dass das klanglich geschieht, ist ein weiteres, verfremdendes Moment. Das muss man ja nicht immer auf die Wirklichkeit des Komponisten zurückbilden, zurückprägen. Das muss nicht immer ein eins zu eins identisches Gebilde sein. Ich bin schon dafür, dass man den Dingen auch ihr Geheimnis, ihre Unerklärbarkeit und ihr „Warum eigentlich?“ lässt.

Bernd Künzig: Interessant finde ich die Wahl deiner Autoren, nicht nur ihre Texte, sondern sie selbst. Sie haben fast alle etwas Gemeinsames: Um Realität geht es nicht, sondern um eine Surrealität. Und die meisten von Ihnen sind auch Psychiatriepatienten gewesen. Das ist so eine Art „Irrenoffensive“.

Wolfgang Rihm: Es sind Irrende. 

Bernd Künzig: Aber sie sind ja auch fast alle wahnsinnig, angefangen bei Jakob Lenz. Später kommen Figuren in Werken hinzu, die nicht Musiktheater sind, wie Adolf Wölfli oder Ernst Herbeck. 

Wolfgang Rihm: Selbst „Proserpina“ (2009) von Goethe ist ja im schönsten Sinne eine Gestörte. Ich habe nicht die Fähigkeit, Nicht-Irre darzustellen. Ich habe nicht die Fähigkeit, die Beamtenfamilie beim Abendessen, was ja ein völlig irrer Zustand ist, darzustellen und schon gar nicht mit Musik. Das können andere. Man muss wissen, was man kann oder wozu man innerlich auch wirklich bereit ist. Mich haben nur solche Gestalten auf den Weg gebracht, die am Weg entweder gestrauchelt oder liegengeblieben sind oder derartig schnell den Weg gemacht haben, dass sie daran zugrunde gingen. Nur solche Gestalten sind letztlich für Musiktheater auch interessant. 

Bernd Künzig: Gehen wir noch etwas auf „Proserpina“ ein. Die Textvorlage von Goethe ist ja recht ungewöhnlich. Eigentlich ist das ein Naturstück, genauer: ein Parkstück, geschrieben für den Genius Loci des Parks an der Ilm in Weimar. Also eine Art Naturtheater. Zugleich aber auch eine Art mythologische Camouflage. 

Wolfgang Rihm: Sie ist ihrer Lebenswelt entrückt. Sie ist entzogen, sie ist entführt und sie versucht sich in einem Ambiente wiederzufinden, das ihr absolut nicht entspricht. Nämlich in der Unterwelt als Entführte, als Besitz des dortigen Gottes. Dort versucht sie sich mit ihren Möglichkeiten wiederzufinden und sie weiß, dass das vielleicht schiefgehen könnte, dass sie da in hohem Maße scheitern könnte. Diese Möglichkeit allein hat es für mich damals schon reizvoll gemacht, dieses Monodram zu vertonen. Außerdem habe ich eine Neigung zu Monodramen, das mag aus meiner Liebe für Schönbergs „Erwartung“ herrühren. „Das Gehege“ (2006), die letzte Szene mit dem stummen Adler im Zoo aus Botho Strauß‘ Theaterstück „Schlusschor“, ist ja auch ein Monodram. Kent Nagano hat mich damals gefragt, ob ich mir ein Stück vorstellen könnte, das man vor der „Salome“ von Richard Strauss spielen kann. Da habe ich gesagt, dass mir dazu nur diese Szene aus dem Stück von Botho Strauß einfiele, in der eine Frau in den nächtlichen Zoo einbricht und in der Voliere in Dialog mit einem Adler verharrt, dem heraldischen Tier schlechthin. Das schien mir die einzige Möglichkeit. Seitdem ich das Stück an der Schaubühne Berlin gesehen hatte, hatte ich den Wunsch, diesen Strauß-Text zu vertonen. Und dann hat sich diese Möglichkeit ergeben.

Fließen

Stefan Fricke: Apropos Botho Strauß: Du hattest mir vor vielen Jahren einmal gesagt, man könne dessen Texte lesen – das bezog sich auf sein Buch „Beginnlosigkeit“ (1992) – wie eine Kompositionslehre. Ich vermute mal, dass es dir bei Literatur nicht nur um das verhandelte Sujet geht, sondern auch um die Struktur. 

Wolfgang Rihm: Ja. Was gibt mir Form? Welcher Form kann ich antworten? Mit welcher Form kann ich den Formen entsprechen? Ich versuche immer aus den Texten, mit denen ich umgehe, die Kriterien für die formale Gestalt der Kompositionen, die ich daraus hervorfördere, zu gewinnen, ihnen ein Gerüst zu entreißen, dass ich dann in meiner Komposition als Klang in der Zeit verflüssige. 

Stefan Fricke: Wäre es dann im allergelungensten Sinne so, dass man den Text womöglich gar nicht mehr bräuchte?

Wolfgang Rihm: Das wäre im allergelungensten Sinne der Fall, würde mich aber derartig überanstrengen, weil ich dann auch eine Textsphäre zu schaffen genötigt wäre, der ich vielleicht gar nicht mehr entsprechen könnte, weil sie diese Angebote nicht in sich trägt, die wirklich dichte literarische Texte in sich haben und anbieten. Ich bin schon froh, dass es diese Texte gibt. Natürlich wünsche ich mir immer, dass Musik entsteht, indem man in die Luft, indem man ins Nichts greift und die Hand zurückzieht und sie voll Musik hat. Aber das geht natürlich nicht immer. Man muss die Mühe vorher walten lassen und Musik aufschreiben. Das ist jetzt eine ganz zentrale Aussage: Das Schreiben von Musik, das schriftliche Fixieren, das schriftliche Verfassen von musikalischen Vorgängen, von musikalischen Verläufen, von musikalischen Konstellationen ist für mich etwas enorm Wichtiges, gehört für mich zum zentralen Artikulationsbereich, in den ich als Lebewesen vorzustoßen in der Lage bin. Alles andere ist nicht so wichtig, aber das gehört dazu. Unbedingt.

Bernd Künzig: Gehen wir auf den Schreibprozess ein. Du hast ja gesagt, dass Literatur oder Texte wichtig für deine Formfindung seien. Der Zyklus „Vers une symphonie fleuve“ (seit 1992) ist eine Anspielung auf den „roman-fleuve“, als den Romain Rolland seinen Komponistenroman „Jean-Christophe“ bezeichnet hat. Hans Henny Jahnns „Fluss ohne Ufer“ ist ebenfalls ein Komponistenroman. Und dieses Uferlose, dieses mäandernd sich Ausdehnende entspricht exakt dem Schreibprozess von Jahnn. Der Titel wäre auch auf deinen Schreibprozess anzuwenden. 

Wolfgang Rihm: Das lässt sich bis zu Balzac zurückverfolgen, die ganze „menschliche Komödie“ bei Balzac ist ja eigentlich ein „roman-fleuve“, ein fließendes Gebilde, bei dem die Protagonisten wie Treibgut ständig wieder auftauchen und untergehen und wieder auftauchen und wieder untergehen – eine sich selbst fortzeugende Materie. Darin sehe ich schon eine Analogie zur Musik. 

Bernd Künzig: Beziehst du dich damit konkret auf dein Schreiben oder verstehst du das so, dass Komponisten immer so verfahren? 

Wolfgang Rihm: Selbst wenn sie es nicht wollen, kommt es so raus. Ich glaube, es geht gar nicht anders. Man kann versuchen, es im Vorhinein zu portionieren, zu gängeln, aber das wird von der Sache selbst immer wieder weggespült. Musik hat diese Tendenz, sich nicht am Ort aufzuhalten. Ich bringe ja gerne das Beispiel von Architektur als gefrorener Musik. Ich finde, dass dies ein falsches Bild ist. Wenn man Musik schockfrosten würde, entstünde ein völlig wirres, in sich verknotetes Gebilde, das keine Schönheit des Risses zum Vorzeigen, keine Proportioniertheit der Anlage hätte, sondern das wilde Wachstum würde sich in einer womöglich verwischten Gestalt zeigen. Vor Jahren habe ich schon oft das Bild des Bleigießens gebraucht. Wir gießen das Blei ins kalte Wasser, und was dann erscheint, das ist die Musik, im Zustand ihres Fortgangs angehalten. Da sehen wir dann nicht die schöne Fassade des Straßburger Münsters, sondern wir sehen eine wilde Gestalt, die sich nach allen Seiten hin ausfranst und die sich nicht in einer geordneten Bewegung mitteilt, sondern als Bewegung selbst, als Zustand des in Bewegung gesetzten materiellen Fonds. Die Materie selbst ist in Bewegung, die ist nicht ordentlich. 

Stefan Fricke: Muss Musik wilder werden? 

Wolfgang Rihm: Das kann man nicht wollen, das wird sie. Das kann man nur ermöglichen. Ich kann mich nicht hinsetzen und sagen: „Jetzt mache ich mal was ganz Wildes!“ Das funktioniert nicht, genauso wenig, wie man sich nicht hinsetzen kann und sagen: „Jetzt mache ich mal was Unwildes.“ Man kann überhaupt nichts wollen. Das ist eben das wunderbar Ungerechte an der Kunstproduktion. Je mehr man will, umso weniger wird was. Ist leider so. 

Stefan Fricke: Ich glaube, Morton Feldman hat mal in Abwandlung des Sprichwortes „Der Mensch plant, Gott lacht“ gesagt: „Der Komponist plant, die Musik lacht.“

Wolfgang Rihm: Das glaube ich sofort. 

Bernd Künzig: Es ist ein offener Prozess. Deshalb ja auch der Zyklus „Vers une symphonie fleuve“. Es ist immer nur Annäherung, nie Ankommen. 

Wolfgang Rihm: Man kommt nie an, aber man ist ständig auf dem Weg und es wird alles, was sich geäußert hat, nochmal in anderem Zustand, in anderer Beleuchtung, in anderem Aggregat aufgegriffen.

Bernd Künzig: „Vers une symphonie fleuve 4“ (1997/2000) existiert in verschiedenen Zuständen. Ist der letzte Zustand auch der endgültige?

Wolfgang Rihm: Ich habe damals gedacht, die Endform ist immer die jetzt gerade entstehende. Und dann wird auch diese wieder zu einer Zwischenform. Das ist wie mit dem Leben selbst. So wie wir jetzt hier sitzen, sind wir zwar scheinbare Endformen, wenn wir uns so angucken, sind wir aber auch Zwischenformen. Das Material, das zu uns geführt hat, hat eben diese Zwischenform angenommen. Wir dürfen sicher sein, dass die Moleküle, die uns zusammensetzen, irgendwann völlig zerstreut und in völlig anderen Zusammenhängen ihrerseits wiederum auftauchen. Dieses Durchlässige, dieser Gestaltwandel, dieses ständige Sich-neu-Gebären scheint mir nur in der Musik als Kunst auch gestaltbar zu sein. 

Stefan Fricke: Gleichwohl entscheidest du immer mal wieder: Jetzt überschreibe ich, jetzt verändere ich etwas. 

Wolfgang Rihm: Jetzt gebe ich es raus. Und jetzt lasse ich es so oder jetzt mache ich etwas darüber. Jetzt lasse ich es nur als Unterbau, als Schicht wirksam. Das war lange Zeit eine Arbeitshypothese, um überhaupt ins Arbeiten zu gelangen, d.h., das, was bereits gestaltet wurde, in Form eines erneuten, dem Gestaltwandel-Überantwortens zur Disposition zu stellen. Ich gebe es zurück in den Fluss, und der Fluss gibt es mir wieder, als neu geformte Gesteinsfigur vielleicht. 

Entscheiden

Stefan Fricke: Ist das nicht bei allen Werken so?

Wolfgang Rihm: Das ist nicht bei allen so. Aber selbst da, wo es nicht so ist, habe ich weiter so gedacht. Da war mir immer beim momentanen Artikulieren deutlich, dass ich eigentlich nicht einen Endzustand fasse, sondern einen Zwischenzustand. Dieses Zwischenzuständliche, dieses permanent Ambivalente, was Musik hat, fasziniert mich ungemein. Und je mehr man versucht, das in eine Eindeutigkeit zu zwingen, umso mehr scheitert man. Aber dieses Scheitern ist eine ständig neue Herausforderung. Es ist schon verrückt. Wenn man sich einmal darauf eingelassen hat, kommt man davon nicht los. Selbst jetzt, da meine physischen Kräfte etwas reduziert sind durch meine Krebserkrankung, die ich aber ganz gut im Griff habe bzw. die sich ganz gut entwickelt hat, sodass ich nach und nach wieder ans Arbeiten denken kann. Aber ich habe natürlich nicht dieses Durchhaltevermögen, das ich früher hatte. Das gehört nämlich auch dazu: dieses Dabeibleiben, dieses Sich-nicht-niederzwingen-Lassen von der Evidenz des Zwischenzuständlichen. Kein Gelingen, kein Gelingen-Können ist so evident, dass man sich darauf einlassen muss, um es überhaupt zu ertragen. 

Stefan Fricke: War das auch schon so, als du mit Mitte zwanzig „Jakob Lenz“ geschrieben hast? War das da auch schon eine Strategie, eine Idee, ein Gefühl, eine Selbstwahrnehmung, ein Instinkt?

Wolfgang Rihm: Es begann in dieser Zeit durchaus, dass ich bei jeder Form, die ich artikulierte, auch immer wieder die Gegenform, die Gegengestalt zu spüren bekam, die mich verunsicherte. Und das Entscheiden, nur diese Gestalt zuzulassen und die Gegengestalt nicht zuzulassen, aber sie zu bedenken, war immer schon da, außer vielleicht bei den ganz frühen Sachen. Ich kann mich noch erinnern, wie ich mir bei den ersten Stücken die Frage stellte: „Wie kann ich es überhaupt aufschreiben?“ Da hatte ich vielleicht einen Akkord und dachte, den nehme ich jetzt so, den habe ich jetzt in der Hand und jetzt versuche ich, ihn aufs Papier zu schreiben. Aber wie jetzt weiter? Dann musste ich mit dem, was sich fixieren ließ, kämpfen, musste damit umgehen. Ich konnte mich nicht darauf verlassen, was andere gesagt haben oder was mein Studium der Vergangenheit mir nahegelegt hat. Aber mein Studium der Vergangenheit hat mir immer nur nahegelegt, ganz subjektiv zu entscheiden. Ich habe alles, was ich kennengelernt habe, immer als subjektive Entscheidung der entsprechenden Autoren empfunden. Niemals als eine Entsprechung zu einer darüber hinaus für andere gültigen Wertigkeit, sondern immer nur als eine subjektive Entscheidung und deswegen auch für andere reizvoll. Ich habe ja Musik deswegen gehört, weil da jemand sich anders entschieden hat und weil sich nicht alle gleich entschieden haben. Ja, warum hört man Mozart? Weil er sich anders entscheidet als Dittersdorf. Es sind zwar die gleichen Akkorde, wenn nicht sogar dieselben, aber er entscheidet sich anders. 

Stefan Fricke: Offensichtlich ist es dir aber schwergefallen, dich bei einem Stück entscheiden zu müssen.

Wolfgang Rihm: Immer. 

Stefan Fricke: Du sprachst eben von Gegenstück, von Gegenform. Das sehe ich jetzt ganz plastisch wie einen Gipsabdruck.

Wolfgang Rihm: Ganz plastisch, ja.

Stefan Fricke: Das, was du rauslässt, ist das, was in der Form war, aber das kennen wir Hörer nicht. Hast du das mal gemacht, eine Komposition mit der einen Form und eine andere mit Gegenform dazu?

Wolfgang Rihm: Ich habe sogar mal ein Stück geschrieben, das heißt „Gegenstück“ (2006). Nun weiß ich aber nicht mehr wogegen, wessen Gegenstück es war. Es war wohl einfach aus dieser Praxis heraus, eine Entscheidung kreiert eine Wirklichkeit: eine gültige Wirklichkeit im Vordergrund und eine virtuelle Wirklichkeit im Hintergrund. Aus dieser Doppelbelichtung heraus, habe ich begonnen, Kunst überhaupt zu sehen, zu hören, wahrzunehmen. Ich habe auch Bilder so betrachtet. Ich habe bei der Malerei bemerkt, z.B. bei Rembrandt, dass da immer auch die Gegenfigur virulent ist. Oder bei Max Beckmann, den ich sehr liebe, ist die Gegengestalt immer denkbar. Aber sie trägt sich nicht in den Vordergrund hinein. Dieses Denkbar-Haben beim Hören von Musik, von Klängen, Verläufen, Abfolgen und bei gesehener Kunst dieses Denkbar-Sein habe ich immer besonders geschätzt. Und je weniger ich bemerkt habe, dass das denkbar war, umso langweiliger fand ich die entsprechenden Kunstformen. Es hat mit Stilistik gar nichts zu tun. Es kann zu allen historischen Zeiten geschehen. Je eindeutiger und je weniger eindeutig vieldeutig, umso langweiliger empfand ich es.

Bernd Künzig: Ich würde gerne auf diesen Begriff der Gestaltung eingehen. Man kann das von der Gestaltform her betrachten, also aus dem Bereich der Bildnerischen Kunst, konkret der Skulptur. Hat das bei dir mit skulpturaler Formung zu tun? Ich denke jetzt z.B. an ein Stück wie den letzten Teil von „Tutuguri“ (1980) und das ausgekoppelte „Tutuguri 6“, das dann nicht mehr Tanztheater ist, sondern ein Konzertstück. Aber nur mit den Schlagzeugern. Und die Gestik des Schlagens, des Freischlagens, den Klang schlagend zu erzeugen, das ist doch eigentlich eine Klangskulptur. 

Wolfgang Rihm: Das kann man eins zu eins abbilden und vielleicht auch noch anekdotisch als Geräuschsphäre bei der skulpturalen Tätigkeit werten. Natürlich kann ich diese Dinge ganz aus der Vertikalität ableiten. Es sind senkrechte Ereignisse, die von oben nach unten gehen. Es sind keine horizontalen Ereignisse, das wäre Melos, das wäre Linie. Diese Konfliktsituation „Vertikalität versus Horizontalität“ ist auch eine starke Gebärsituation für Musik von mir für mich. Ich habe lange Stücke geschrieben, die „Über die Linie“ heißen (seit 1999). Ich reflektiere über das, was Linie ist. Aber ich versuche auch ständig über die selbstgesetzte Linie hinüberzugelangen: in einen Zustand, den ich nicht weiß. Dieses Lineare auf der einen Seite und auf der anderen Seite das Skulpturale, das Vertikale. Das Lineare ist dann mehr Zeichnung, wobei die Zeichnung durchaus auch mit Pinsel sein kann. Es ist nicht nur die Bleistift- oder Kohlezeichnung, es ist nicht nur die Linie, sondern es ist auch die Linie als Fläche, der Sonderfall der Linie als Fläche.

Bernd Künzig: Das ist auch beim Anfang der „Hamletmaschine“ der Fall: Gesprochenes Wort und dann ein Schlag. Das ist Vertikalität. Und daraus kommt die Stimme, das Singen…

Wolfgang Rihm: „Ich war Hamlet. Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung.“ Das ist Heiner Müller. Das ist der Text.

Bernd Künzig: Und dann schlägt das Schlagzeug dazwischen.

Wolfgang Rihm: Diese Schläge sind, wenn ich mich recht erinnere, die Markierungen der Umwandlung der Gestalt, die aus dem alten Hamlet in den jungen Hamlet springt. Diese mehreren Hamlets, die da sich streitig machen, wer von ihnen denn Hamlet sei, und die dann ihre biografischen Situationen in einer Art Familienalbum aufblättern. Das ist ja der erste Teil der „Hamletmaschine“. Das hat mich musikalisch schon sehr angeregt. Das sind die Schläge, die Markierungen der Wandlung der Figur, oder es sind, von Ferne gesehen, gesetzte Klangzeichen, es sind Kommata.

Bernd Künzig: Schläge bestimmen aber auch deine Orchesterstücke „Dis-Kontur“ (1974) und „Sub-Kontur“ (1974).

Wolfgang Rihm: „Sub-Kontur“ fängt mit einem Trommelwirbel an. Das ist der Unterschied zu „Dis-Kontur“, das mit Schlägen anfängt. Das sind zwei unterschiedliche Stücke. Deswegen hat „Dis-Kontur“ auch den Marsch als Untergrund, auf dem das montiert ist, und „Sub-Kontur das lineare Adagio, das symphonische Adagio. „Sub-Kontur“ beginnt mit einem Trommelwirbelzustand, der keinen Einzelschlag mehr erkennen lässt. Das ist nicht mehr BUMM, sondern nur noch BRRRR…, das ist das Brausen der Schläge. Das sind zwei völlig unterschiedliche Zustände. Dann wollte ich noch ein Stück schreiben, „Kontra-Kontur“, wo es das alles gar nicht mehr gibt, wo es weder Vertikalen noch Horizontalen gibt, sondern nur noch verschwimmende Flächen. Aber das ist mir damals nicht gelungen und liegt seitdem sozusagen auf Eis. Die vorhandenen Teile von „Kontra-Kontur“ habe ich 1977 in die 3. Sinfonie gestopft, vor allem in den 3. Satz.

Bernd Künzig: Linien bestimmen nun auch ein Stück wie „Jagden und Formen“ (seit 1995). Da wird die Linie als Prozess der Form durch den Raum gejagt.

Wolfgang Rihm: Das schien mir als Begriff eben in dieser Gegenläufigkeit von gerichteter Bewegung und zugerichteter Gestalt sehr verlockend. Der Entstehungsprozess ist eher so, dass da ein Stück bereits existierte, nämlich „Gejagte Form“ (1995), das ein sehr kompaktes Stück für ein um viele Streicher reduziertes Orchester ist. Und in diesem Stück kann ich das jetzt visuell veranschaulichen. Das hört man, wenn man darüber spricht, schlecht, aber ich rede darüber. Ich nehme jetzt meine Hand und lasse die Finger beieinander. Das wäre also das Stück „Gejagte Form“. Jetzt gehe ich zwischen die Finger und klemme die so auseinander, als würde ich sie spreizen, und stecke die andere Hand in die Lücke. Und in diesen Lücken sind neue Formen entstanden, sind neue Gestalten eingerückt. „Gejagte Form“ ist die Mutterform von „Jagden und Formen“. Ich habe immer mehr in die Zwischenformen investiert und dann in einem nächsten Arbeitsvorgang z.B. nur einen etwa in der Mitte liegenden Formablauf genommen: Hier habe ich etwa die Mittellagen beibehalten und die Außenlagen entfernt und dafür neue hinzugeschrieben. Das ist fast wie bei den in mittelalterlichen isorhythmischen Motetten verwendeten Techniken, dass man einen Cantus firmus aus einer Messkomposition nimmt, etwa einer 5-stimmigen Messe. Man nimmt eine Stimme als Cantus firmus, lässt die anderen vier weg und komponiert diese neu. Dann habe ich zu diesen neu komponierten Stimmen wieder Stimmen neu komponiert, habe sie sozusagen übermalt, sodass sich das Stück ständig selbst generiert, aber die Mutterform immer noch existiert. Der Anfang und das Ende sind immer noch gleich. Dann habe ich da vom Anfang Einzelteile nach vorn verlagert, die noch „alleiniger“ gesetzt. Die beginnen also noch mehr für sich und ohne Zusammenhang und führen erst in den Zusammenhang ein usw. So ist das nach und nach entstanden durch Anlagerung, durch Aufbrechen, durch Einlagerung und durch Übermalung, durch Herausnehmen von Schichten, durch neue Besetzung dieser Schichten usw. 

Stefan Fricke: Wann weißt du, dass das Stück dann zu Ende ist? Das könnte ja ewig so weitergehen.

Wolfgang Rihm: Das könnte ewig weitergehen, aber ich verlasse mich dann auf meine Intuition und spüre: Jetzt ist Schluss. Und das war bei „Jagden und Formen“ etwa 2008. Natürlich hätte ich noch weitermachen können. Ich könnte mein ganzes Leben an einem Stück arbeiten, was vielleicht auch geschieht. Ohne dass ich es weiß, mache ich das vielleicht sogar. Alle Stücke sind letztlich Einschübe in ein einmal begonnenes, nie zu Ende geführtes Projekt. 

Improvisieren

Stefan Fricke: Würdest du dein Werk so sehen, wenn du dich zurückerinnerst? 

Wolfgang Rihm: Ich sehe eine große Verwandtschaft von allem mit allem. Aber ich empfände es als hochstaplerisch, darin ein Projekt zu erblicken, daraus zu schließen, dass es einem Entwurf oder einer irgendwie gearteten Absicht entstammt. Das kann ich so nicht interpretieren. Ich bin aber gern bereit anzunehmen, dass das alles einer Grundbewegung entstammt, auch vielleicht einer Grundausdrucksbewegung. Aber ich kann nicht sagen, dass am Anfang diese Absicht stand, die ich dann ausgeführt habe. Insgesamt sehe ich halt das große Verbindende, nämlich den Wunsch, Musik aus der improvisatorischen Geste entstehen zu lassen. 

Bernd Künzig: Waren die frühen Orgelstücke eine Art Improvisation? Warum stand die Orgel bei dir am Anfang?

Wolfgang Rihm: Das war ein für mich erreichbares, klanggenerierendes, nahezu orchestrales Instrument, mit dem ich vor allem improvisatorisch verfuhr. Ich habe stundenlang an der Orgel improvisiert und da Klanglichkeit und Gestaltungswillen direkt umsetzen können mit Händen und Füßen …

Stefan Fricke: bildhauerisch…

Wolfgang Rihm: … im Grunde kann man es so sagen: „Ich war als Bildhauer an der Orgel tätig.“ Es waren keine Vermittlungsinstanzen dazwischen, die es zu bedenken gilt. Wenn ich für Orchester schreibe, muss ich die Befindlichkeiten der entsprechenden Spielerinnen und Spieler mitbedenken. Wenn ich für Stimme schreibe, muss ich immer mitbedenken, was möglich und was nicht möglich ist. Wo muss ich Luft zum Atemholen lassen? Wo muss ich überhaupt Luft lassen? Wenn ich selbst tätig war, brauchte ich gar nicht daran denken. Ich brauchte keine Luft. Ich konnte aus der Atemlosigkeit heraus direkt improvisieren. Ich glaube, dass das für viele auch das Verlockende daran ist, mit elektronischen Mitteln zu arbeiten, dass sie keine Rücksicht nehmen müssen auf die Herstellung und überhaupt auf das Metier der Vermittlung der Klangfantasien. Inzwischen bin ich da skeptisch, weil ich diese Seite der Kunst – das Kunstvolle ins Werk setzen, das Kunstvolle in die Vermittlung übertragen, das Erfinden von Klangsphären und von Verläufen in nachspielbare und überhaupt erst durch Spiel erzeugbare Vorgänge – hochverlockend finde. Das ist vielleicht auch die eigentliche Kunst, die man als Komponist erreichen kann. Alles andere muss man haben. Um mit Karl Valentin zu reden: „Wenn es Kunst ist, ist es keine Kunst gewesen.“ 

Bernd Künzig: Wenn wir jetzt beim Aspekt des Nachspielbaren sind, stellt sich auch die Frage: Für wen komponiert man eigentlich? Für Interpretinnen und Interpreten oder für Hörende?

Wolfgang Rihm: Damals habe ich natürlich für mir bekannte Musiker geschrieben. Organistinnen kannte ich leider keine, aber Organisten, und die haben das entweder gespielt oder nicht gespielt. So will es die Wirklichkeit. Wenn das jetzt heute alles mal gespielt worden ist, dann freue ich mich natürlich ungeheuer. Denn das sind ja Jahre meines Lebens, die verschwunden sind. Das ist ja Tätigkeit, unablässige Erfindung, und von dort kann man dann weitergehen. Es gibt ja auch diese Aufnahmen, auf denen ich selbst improvisiere. Das ist gar nicht so toll, aber es ist immerhin ein Einblick, wie überhaupt so etwas wird. 

Stefan Fricke: Irgendwann hast du die Orgel dann hinter dir gelassen und hast sie eigentlich auch nie wieder aufgesucht. 

Wolfgang Rihm: Anlässlich meines 60. Geburtstags (2012) habe ich eine Fuge genommen – die einzige Fuge meines Lebens, die ich bei meinem Examen als Zwanzigjähriger geschrieben habe und die nicht für Orgel ist –, und habe sie mit einer Art Vorspiel und einer Art Nachspiel versehen. Das Stück heißt „Toccata und Fuge“ (1972), ich glaube, über ein Thema von Eugen Werner Velte. Mein Lehrer hat mir wohl damals dieses Thema gegeben, das stark an Bachs „Musikalisches Opfer“ angelehnt ist. Das war meine Examensfuge, die habe ich damals unerlaubterweise fotokopiert, weil ich dachte, ehe sie in den Akten des Kultusministeriums verschwindet, nehme ich sie zu mir. Denn das ist lebendes Zellmaterial von mir selbst, das gebe ich nicht weg. Da mache ich vielleicht mal was draus. 40 Jahre später habe ich es dann in ein Triptychon eingefügt: die Toccata als Präludium, dann diese Fuge und ein Postludium. Das hört man ganz gut. Die Fuge ist in c-Moll und die umgebenden Felder sind frei atonal.

Bernd Künzig: Wir haben eben schon über die Idee von Jahnns „Fluss ohne Ufer“ gesprochen, also das Fließende, das sich hin zu einem Delta öffnet. In „Jagden und Formen“ mit seinen komplexen Überschreibungen und Übermalungen finden wir aber die Idee des Labyrinths mit seinen Wegverzweigungen…

Wolfgang Rihm: Absolut. Ein Begriff, den ich mir immer lieber und öfter zu Herzen nehme. 

Bernd Künzig: Auch für den Komponisten Pierre Boulez war die Idee und das Bild vom Labyrinth prägend für seine Werkprozesse, wie zum Beispiel in seinem Mallarmé-Zyklus „Pli selon pli“ (1957) oder in der „3. Klaviersonate“ (1955–57) mit ihren frei wählbaren Wegführungen.

Wolfgang Rihm: Ich habe Boulez immer als eine sehr anregende, auch beim Komponieren anregende Gestalt empfunden, obwohl ich ja nie so komponiert habe. Aber dazu muss ich sagen, dass das viele meiner Vorlieben betrifft. Sie haben mich eher darin bestätigt, ich selbst zu sein, als eine Imitation ihrer eigenen Position zu versuchen. Ich war nie in der Versuchung, jetzt so zu komponieren und genau in diese Klanglichkeit hineinzuwollen. Ich habe auch immer ein großes Faible für Cage gehabt, aber nicht für seine besonders von seiner bundesrepublikanischen Anhängerschaft verkündete Vergötterung des Zufalls. Der Zufall ist ständig am Werk. Wir selbst sind Zufall. Unsere Konstellation aus Molekülen ist eine Konstellation zufälliger Art, die sich die Form einer Absichtserklärung zu geben verstand. Und deswegen nehmen wir an, dass es eine übergeordnete Gottheit im Sinne einer Geordnetheit gäbe, die uns ersonnen hat. Das ist gut, ein großer Gedanke, das ist aber letztlich ein Gedanke, der nur den Zustand, wie er ist, als bestätigbar zulässt. Das Utopische hat darin nicht so viel Platz. Aber das Absuchen der Kunstformen nach Utopie oder Vorläuferschaft zu utopischen Gestaltungsprozessen ist mir auch suspekt. Ich kann die Vergangenheit nicht danach werten, inwieweit sie vorläuferhaft eine Gegenwart, die ich zu schätzen weiß, präfiguriert. Das geht nicht. Das ist auch naiv. Man muss die Dinge so nehmen, wie sie sind, und sie sind, Gott sei Dank, immer anders. Und sie sind, Gott sei Dank, nicht identisch mit dem, was man selbst tut. Dieses Anderssein muss man ertragen, und dazu muss man gar nicht stehen – das ist viel zu pathetisch. Das nimmt man an. Ich bin anders, aber du auch. 

Unterrichten

Stefan Fricke: Da fällt mir gerade eine Cage-Anekdote ein. Cage wurde gefragt, wie er unterrichtet. Er antwortete: „Ich lasse mir erst mal von den Schülern ihre Arbeiten zeigen. Dann zeige ich ihnen meine. Anschließend sage ich zu ihnen: ‚Machen Sie so weiter wie vorher!‘“

Wolfgang Rihm: Sehr gut. Natürlich muss man rausfinden, was man eigentlich wollte. Und darin sehe ich auch die Aufgabe des Lehrers: den Schülerinnen und Schülern zu zeigen, schau mal, hier wolltest du das, hast aber das nicht gemacht. Warum? Hier wolltest du nach links, bist aber rechts abgebogen. Warst du nur zu schwach oder zu müde oder war das Subversion? Warum? Hier wolltest du C schreiben, hast aber Cis geschrieben. Ist es ein Druckfehler oder was ist es? Also das Herauskriegen, was eigentlich gewollt wird. 

Stefan Fricke: Du unterrichtest sehr gerne. 

Wolfgang Rihm: Ich mache es wahnsinnig gerne, und ich weiß natürlich, dass es nichts nützt.

Stefan Fricke: Was hast du selbst vom Unterrichten? 

Wolfgang Rihm: Ich habe sehr viel davon. Ich komme damit in Berührung, wie die Dinge in Bewegung sind und wie die Bemühung, den eigenen Ort zu finden, niemals endet. Das endete auch bei mir nicht. Ich kann mich nicht auf irgendwas setzen und sagen: „So, das kann ich und das mache ich jetzt.“ Zu vermitteln, dass das nicht enden wird, ist ein großes Ziel. Ich freue mich natürlich wahnsinnig, wenn ich merke, dass ehemalige Schülerinnen und Schüler „ihren Weg machen“, wie man so schön sagt. Noch mehr freut es mich natürlich, wenn man sieht und vor allem hört, dass sie ganz andere Sachen machen als ich.

Bernd Künzig: Warum sagst du, dass es eigentlich nichts nützt? 

Wolfgang Rihm: Es nützt wirklich nichts. Es nützt nur, wenn die betreffenden Menschen in der Lage sind, ihre Schlüsse zu ziehen. Ich kann nicht sagen: „Wenn ihr es so macht, macht ihr es richtig“, sondern ich kann nur etwas anbieten. Und das finde ich in dieser Cage’schen Formel, die eben kurz gestreift wurde. Ich lasse mir zeigen, was die Schüler machen, dann zeige ich ihnen, was ich mache, und dann sage ich, machen Sie weiter, was Sie es vorher gemacht haben. Darin liegt eine tiefe Weisheit. Die heißt nämlich: Du musst mit dem, womit du anfängst, auch weiterleben. Selbst wenn du es verleugnest, selbst wenn du es verlierst, kannst du es nicht einfach abstreifen. Du kannst nicht sagen: Ich habe nichts damit zu tun. Das geht nicht. 

Stefan Fricke: Aber du bist kurzzeitig konfrontiert worden mit einer möglichen Gegenwelt. Deshalb ist mir die Cage-Anekdote auch so sympathisch, denn es gibt ja viele Lehrer, die ihren Schülern aus Prinzip nie eigene Arbeiten zeigen.

Wolfgang Rihm: Das mache ich eigentlich auch nicht. Ich zeige nicht viel von meinen Sachen. Aber ich scheue nicht, wenn gelegentlich mal was erklingt. 

Bernd Künzig: Wie war dein eigener Lernprozess in einem akademischen Sinne. Du hast bei sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten studiert.

Wolfgang Rihm: Stockhausen, Fortner, Searle, Klaus Huber oder mein erster Lehrer Velte. Es war jedes Mal die Begegnung mit einem anderen Individuum. Velte hat mich kennengelernt oder ich habe ihn kennengelernt, als ich 15 war. Da war ich ganz jung. Da hatte ich erste Stücke, die ich ihm gezeigt habe, die er sich wohlwollend angeguckt und mal gelegentlich gesagt hat: „Pass mal da auf, und die Töne hier sind auf dem Instrument nicht drauf.“ Und er hat mir gezeigt, was es noch alles gibt. Auch haben wir analysiert, Webern und Beethoven, etwa op. 132. Das war eines seiner Spezialgebiete. Wir haben diese quasi Reihenkonstellation, diese Viertonreihe verfolgt in Beethovens ganzen späten Quartetten, auch in der großen Fuge usw. Das haben wir uns auch alles immer wieder angehört. Und ich habe immer die Gelegenheit gesucht, Lehrende zu fragen. Da kam z.B. Humphrey Searle zu Besuch an die Hochschule. Searle war immerhin der Freund von Dylan Thomas, nach dem ich natürlich sofort gefragt habe. Searle wirkte wie eine Figur direkt aus einem Gedicht von Dylan Thomas. Ich habe ihm meine 1. Sinfonie (1969) gezeigt und ich erinnere mich noch, wie er sagte: „Das ist mit Blut geschrieben.“ Darauf bin ich heute noch stolz. Er hat mich mit einem Verschwörerblick angeguckt, so nach dem Motto: „Ich weiß, was das ist. Das ist mit Blut geschrieben.“ Dann bin ich zu Wolfgang Fortner gegangen und habe ihm meine Sachen gezeigt. Fortner hatte meistens keine Zeit, musste wegfahren, hat mir einen Cognac hingestellt, ich solle den trinken, und ich habe ihn getrunken. Dann hat er sich die Partituren angeguckt und gesagt: „Hier die Posaune zu hoch, hier zu tief, gut, gut, warte…“ Und dann ging er fort. Das waren alles sehr kurze Unterweisungen. Oft sagte er: „Man muss eine Arbeitshypothese haben.“ Arbeitshypothese – ich wusste gar nicht, was das ist, und habe an dem Wort gekaut. Was meint er denn damit? Solche Begegnungen waren das. Und dann, da hatte ich schon Abitur gemacht, wollte ich an der Kölner Musikhochschule die Aufnahmeprüfung machen, ich wollte ja zum Bernd Alois Zimmermann, der dann gestorben ist, sich dem Tod anheimgegeben hat. Da dachte ich, ich versuche es mal bei Stockhausen, der mir 1970 bei den Darmstädter Ferienkursen sehr imponiert hat. Bei der Aufnahmeprüfung sagte er, ich solle mal was improvisieren und ich solle mal das machen usw. Dann hat er mich genommen. Er hat aber immer wieder gesagt: „Dem kann man ja sowieso nichts sagen, der macht ja doch, was er will.“ Das sagte er irgendwie so halb resigniert, halb belustigt, halb auch nett. Ich war gerne dort. Ich habe sehr viel mitbekommen, weil er seine Klasse, zu der ich ja gehörte, in die Proben mitgenommen hat, z.B. zu „Momente“. Ich glaube, 1972/73 wurde in Bonn die große Version, die sogenannte „Europaversion“ von „Momente“ geprobt, und da waren eben auch die Studenten aus seiner Klasse. Und zu der gehörten auch so skurrile, liebenswerte Menschen wie Claude Vivier. Es war sehr anregend. Eine sehr heitere Person, er war sehr lustig und es gab mit ihm immer viel zu lachen. Er imitierte immer irgendwelche Nonnen, die knien und singen. Er hat Chöre geschrieben für Nonnen und war ein begeisterter Nonnenverehrer. Ich weiß noch, wie ich mit ihm auf dem Kölner Ring spazieren ging und wir in Lokale gegangen sind und Bier getrunken haben. Da hat er gesagt: „Ich habe ein neues Stück gemacht, die singen und haben dabei solche Häubchen auf.“ Dann hat er mir begeistert die Bewegung der wippenden Häubchen vorgemacht. Ich fand das hochinteressant. Das ist natürlich alles auch von unserem lieben Karlheinz Stockhausen inspiriert: diese Chöre, ihre Artikulationen in „Momente“, die Tam-Tams und das alles. Das hat ihn sehr begeistert, mich auch. Über diese Dinge haben wir geredet. Auch Walter Zimmermann war in Köln, hatte schon sein „Beginner Studio“, und es gab manch lustige Party. Ich habe damals „Paraphrasegeschrieben: Ich wollte mal ein Stück schreiben, wie man das damals so machte. So richtig von einem zum anderen, ganz bedacht, korrekt von hier nach dort. „Paraphrase“ ist ein Stück, das ich heute noch sehr schätze. Das muss ich nicht verstecken. Stockhausen zeigte wenig Interesse an dem, was die Studierenden machten. Er hat es sich angeguckt, sagte aber wenig dazu. Er redete dann wieder über seine Stücke. Dabei lernt man ja auch viel, finde ich. So konnte ich von jedem immer in seiner Art etwas lernen. Und später habe ich von Morton Feldman oder von Nono sehr viel gelernt, nicht weil sie doziert hätten, sondern weil sie mir im Gespräch ihre Eigenarten gezeigt haben, die ich dann mit meinen Eigenarten in Verbindung bringen und in einen Gestaltbezug oder Gestaltungsbezug setzen konnte. Darmstadt spielte dabei eine große Rolle. Dann bin ich von Köln weggegangen nach Freiburg. Ich wollte auch Musikwissenschaft studieren und bin zu Eggebrecht ins Seminar. Das war sehr anregend, auch sehr herausfordernd. Und ich ging zu Klaus Huber in die Kompositionsklasse. Mit Klaus gab es gleich eine sehr starke Bezogenheit. Er hat sich ganz anders als Stockhausen sehr dafür interessiert, was seine Schüler machten, was sie selbst hervorbrachten.

Bernd Künzig: Nach der Uraufführung von „Tutuguri“ soll Luigi Nono, mit dem du befreundet warst, gesagt haben: „Der Wolfgang braucht eine Krise“. Wie hast du einen solchen Kommentar empfunden? 

Wolfgang Rihm: Damals fand ich das ganz furchtbar. Das hat mich geärgert. Er hat das zu Giacomo Manzoni gesagt und der hat das rumerzählt. Mit welchem Recht? So nach dem Motto: „Ich weiß doch, wie du deine Krisen herstellst. Du nimmst dir Uppers und Downers und dann bist du krank und dann hast du eine Krise.“ So ist das aber bei mir nicht. Da war ich sauer. Ich habe nie Krisen durch Medikamente herstellen müssen, die hatte ich von sich aus. Da habe ich mich missverstanden gefühlt.

Schreiben

Bernd Künzig: Wie bist du mit Kritik von Musikjournalisten umgegangen? 

Wolfgang Rihm: Kritiken von Komponistenkollegen interessieren mich natürlich immer. Das ist immer prima materia. Das ist ja aus der Sache selbst heraus. Aber mit dem, was die Tageskritik so schrieb, musste ich mich erstmal auseinandersetzen. Da habe ich gespürt, dass es mir gegenüber immer eine große Reserve gibt. 

Bernd Künzig: Nehmen wir mal das konkrete Beispiel von Heinz-Josef Herbort, der nach Donaueschingen Uraufführung von „Sub-Kontur“ in der „Zeit“ geschrieben hat: „Da hilft nur noch ein Schnaps.“ 

Wolfgang Rihm: Vielleicht hat er auch recht gehabt. Später hat man sich dann miteinander angefreundet und gut verstanden. Aber am Anfang… So jemand, der Musikkritiken schreibt, ist ja auch zunächst mal gefangen in seinen Normen, in seinen Herkünften, in seinem Herkommen. Es sind ja meistens Leute gewesen, die aus ganz präzise begrenzten Ausdruckssphären und Diskussionsräumen stammten, die natürlich, als sie mit mir konfrontiert wurden, mit einer Gegenfigur konfrontiert waren, die ganz anders funktionierte als das, was sie kannten. Deswegen ist das immer problematisch. 

Aber der Dialog mit Selbstschaffenden, etwa mit Wilhelm Killmayer oder Helmut Lachenmann, war für mich immer Nahrung. Da geht es wirklich ans Eingemachte. Darüber kann natürlich jemand, der aus einem Tagesgeschäft heraus Musikbeobachtung artikuliert, gar nicht schreiben. Das ist einfach so. Jeder weiß genau um das, was er ist. Jeder weiß genau um seine Möglichkeiten. Jede übrigens auch. Ich meine auch immer die Frauen mit. Es wissen immer alle um ihre Möglichkeiten. Von daher ist das Wichtigste, durchzuhalten und sich nicht unterkriegen zu lassen.

Stefan Fricke: Dann kommt der „Jakob Lenz“. Riesenzuspruch. Hast du gespürt: Jetzt habe ich Erfolg? 

Wolfgang Rihm: Jein. „Riesenzuspruch“ hört sich jetzt so gut an. Aber wenn man das alles liest und alles hört, was damals so gesagt wurde… Man ist als junger Komponist, wenn man beginnt, am Anfang verschiedenen Urteilsformen ausgesetzt. Da ist das sogenannte Fachurteil meistens völlig anders als das Urteil der Hörer. Während das Fachurteil z.B. – das habe ich oft gehört in meiner Frühzeit – so war: „Ach, das ist alles zu altmodisch, das ist alles zu romantisch oder zu schön“, war das Urteil der Hörer genau entgegengesetzt: „Das kann man ja nicht anhören, das sind ja nur Geräusche, das ist ja grässlicher Krach!“ Da, wo die sogenannte Fachwelt sich ziert, weil ein Dreiklang vorkommt, ziert sich das sogenannte kennerhafte Publikum, weil kein Dreiklang vorkommt oder weil er in einer Lage vorkommt, wo er nicht vorkommen darf usw. All diese Formen, mit denen man konfrontiert ist, aus denen nichts anderes spricht als das jeweils Menschenmögliche. Es ist einfach auch so, dass das Herkommen, die Bildungsvorgänge und die Formungsvorgänge derer, die das Urteil fällen, sehr mitsprechen dabei, wie das Urteil sich sprachlich gestaltet. Und damit muss man als junger Künstler fertig werden. Man darf das alles nicht eins zu eins und wörtlich nehmen. Aber das ist ein Rat, den ich schon vielen gegeben habe. Manche konnten damit etwas anfangen. 

Bernd Künzig: Das Schreiben über Musik ist bei dir stets wichtig gewesen. Am Anfang stehen sogar Radiosendungen. Waren die eine Art der Brotarbeit oder hattest du Lust darauf, Radio zu machen, also Schreiben über Musik zum Hören?

Wolfgang Rihm: Es war nicht so, dass ich mir gesagt habe: „Nun mache ich eine Radioarbeit“, und gewartet habe, bis jemand an der Tür klopft, sondern ich habe auf die Frage, ob ich sowas machen würde, meistens entweder bejahend oder manchmal auch verneinend geantwortet. Es waren schon Anregungen von außen. Die Themen waren die Bereiche, die mich interessiert haben. Ich muss jetzt nicht eine Radioarbeit über Max Bruchs 1. Sinfonie machen, das hat mich nicht interessiert. Aber eine Sendung z.B. über Erich Wolfgang Korngold, den damals niemand kannte, habe ich gern gemacht. Ich fand seine Musik frappant, auch weil ich in ihm das Beispiel eines Autors gesehen habe, der sich durch verschiedene Verkennungsgebiete zu hangeln hatte: in seiner Kindheit und Jugend durch diese Wahnsinnsprotektion durch seinen Vater „geschädigt“, als Jude schmählich verkannt und verjagt und dann in Hollywood als großer Könner bejubelt, deswegen in Europa verachtet und dann, zurückkommend, mit dieser Verachtung neu anfangen müssend. Es hat mich tief beeindruckt und bewegt, wie bei jemandem mit einer solchen Könnerschaft ein solches Auf und Ab des Lebens nach ihm gegriffen und ihn sicher auch in diesen recht frühen Tod geführt hat. Denn dieser frühe Herztod kam natürlich von einer Lebensweise, die auch dieser Verkennung geschuldet war. 

Bernd Künzig: Die frühen Radioessays widmetest du damals Verachteten oder solchen Komponisten, die man mit hochgezogenen Augenbrauen betrachtet hat. Etwa Jean Sibelius. Über ihn hast du einen deiner schönsten Texte geschrieben: „Musik als schweifende Form“. Das ist ja fast schon ein Titel, der auf dich selbst zutreffen könnte. Dann waren da auch Komponisten, die man damals eher verachtet hat, z.B. Pfitzner, Reger, Schostakowitsch,

Wolfgang Rihm: Man muss immer bedenken, wer verachtet. Die Genannten waren Autoren, die von einer bestimmten Figurenkonstellation verachtet wurden. Bei Sibelius ging das natürlich von Adorno aus, der von mir sehr verehrt wird, in vielen Bereichen aber eben auch sehr verhängnisvoll wirksam war. Man muss sich vorstellen, dass Adorno in den anglo-amerikanischen Sprachraum fliehen musste und dort eine durchaus auch ihn tief verletzende Unkenntnis und Ablehnung seines Idols Schönberg vorfand – während Sibelius sehr geachtet war und sehr viel aufgeführt wurde. Adorno hat aus dieser Kränkung heraus sehr vieles an dieser Musik eigentlich gar nicht mehr wahrgenommen: ihre ungewöhnlichen Formstrategien, ihre manchmal hanebüchenen „Oden-Sprünge“, wenn man das mit einem älteren Ausdruck, der sich auf Beethoven bezieht, bezeichnen möchte. Die Musik von Sibelius ist eine, die in ihrer Eigenart an Adorno vorbeiging. Aber ich glaube, dass da das Biografische enorm mitgespielt hat, um diese Verkennung in ihm wachwerden zu lassen. 

Bernd Künzig: Wie steht es mit Hans Pfitzner?

Wolfgang Rihm: Eine hochschwierige, anrüchige, charakterlich schwierige Person, bis zur Unerträglichkeit, aber als Komponist von mir nach wie vor hochgeschätzt. Ein Stück wie das Streichquartett cis-Moll, aus dem er dann die Sinfonie op. 36a gemacht hat, betrachte ich nach wie vor als ein Meisterwerk. Und einige seiner Lieder gehören zum Bedeutendsten, was im deutschsprachigen Raum verfasst wurde. „An den Mond“ op. 18 z.B., ein ungeheures Lied von der Abgründigkeit. Oder „Lete“ nach Conrad Ferdinand Meyer für Gesang und Orchester, ein Sechs-Minuten-Stück, eine wunderbare Komposition. 

Stefan Fricke: Wen aus der Musiklandschaft müsste man deiner Meinung nach wiederentdecken? 

Wolfgang Rihm: Die Frage überfordert mich jetzt, weil ich momentan das Gefühl habe, dass selbst von Komponisten, die ich sehr liebe, alles bekannt ist. Wir kennen jede Note von Debussy, und trotzdem habe ich das Gefühl, wir kennen Debussy nicht. Das ist ein Komponist, der für mich ungeheuer wichtig war und ist. Mit Debussy würde ich gern mal ein Gespräch führen. Heinrich Kaminski ist auch eine Figur, die das Verkennen geradezu figuriert. Ein großer Kaminski-Verehrer war übrigens auch Heinz-Klaus Metzger. Der hat auch immer von der „Dorischen Musik“ (1934) geschwärmt: großartige, dichte, polyphone Musik. 

Bernd Künzig: Die musikalische Vergangenheit ist dir also auch wichtig fürs Eigene? 

Wolfgang Rihm: Natürlich, weil ich eine Vergangenheit habe. Ich bin ja nicht vergangenheitslos. Ich bin in eine Kultur hineingeboren und habe deren Bedingungen auch bedingungslos aufgesogen. Ich stamme aus einer Kultur und gebe deren Wellenbewegungen wieder. 

Stefan Fricke: Gibt es ein Stück, das dir misslungen ist?

Wolfgang Rihm: Diese Frage kann ich ganz leicht beantworten: Ich kenne in jedem Stück Passagen, die ich als misslungen empfinde, die ich aber, wenn ich sie rausnehmen würde, als fehlend empfinden müsste, als Fehler empfinden müsste. Es ist manchmal genauso wichtig, dass die nicht-gelungene Passage zu ihrem Recht kommen darf. 

Stefan Fricke: Überarbeiten magst du solche Stellen aber auch nicht?

Wolfgang Rihm: Sehr selten. Manchmal habe ich das Gefühl: das würde jetzt gewinnen, wenn ich den Takt rausnehme oder einen kleinen Sprung mache oder hier noch was einfüge. Manchmal mache ich das. Bei „Jagden und Formen“ ist es sogar zum Prinzip geworden: Einfügungen und Sprünge, Überblendungen und Übermalungen und ständige Korrekturen. Aber bei vielen Stücken ist es gut so, wie es ist. Ich höre, wie die Stücke sich manchmal verlieren, wie es manchmal ein Zuviel und ein Zuwenig gibt. Selbst bei Mendelssohn kann einem das passieren, wo meistens alles stimmt. Und dann gibt es natürlich Komponisten, bei denen nichts zu stimmen scheint, bei denen aber dadurch alles einer höheren Ordnung des Gelingens unterworfen ist. Beethoven ist so jemand. 

Stefan Fricke: Ist es für einen wie auch immer gearteten Erfolg im Neue-Musik-Betrieb hilfreich, über Musik gut reden zu können?

Wolfgang Rihm: Es hilft das Sich-nicht-davor-Drücken. Reden kann ich ja auch nicht, aber ich drücke mich nicht davor. Ich versuche es immer erneut, und das gibt den Anschein, ich könne es. Es entgleitet mir aber doch ständig. Ich bin ständig dabei, das, was ich zu sagen habe, zu verlieren, das, was ich sagen möchte, nicht mehr zu erkennen. Ich verliere ständig den Zusammenhang. Und das Reden über Musik ist sehr wichtig. Deswegen meine ich: nicht davor sich drücken. Aber nicht in eine gestanzte, vorbereitete Artikulationsform zurückfallen, wo eine Meinungsabgabe, ein Dies-ist-So, ein Beurteilen von vornherein, ein apriorisches Beurteilen unbefragt grassiert. Das ist sehr schwierig. Ich kann es auch nicht lösen. Es gibt so viele Leute, die sich Philosophen nennen, es gibt so viele Leute, die sich Analytiker nennen, die das viel besser können als ich. Aber die haben dann natürlich wieder keinen Einblick in die schöpferische Sphäre. Denen kann ich vielleicht helfen, wenn ich ihnen Einblick verschaffe in dieses seltsame Zwischenformenreich, das das schöpferische, das hervorfördernde, das hervorzwingende, das hervorbittende, das hervorwünschende Tun in einem Medium bedeutet. Ich mache die Sachen ja nicht, weil ich von vornherein weiß, dass das richtig ist und gemacht werden muss, sondern ich mache sie, weil ich spüre, dass mir da eine Möglichkeit offensteht, etwas zu tun, das es so nicht gibt, das es in dieser Form auch nicht so schnell wieder gibt.

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Wolfgang Rihm, Bernd Künzig und
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Stefan Fricke im Hotel-Restaurant Erbprinzen, Ettlingen bei Karlsruhe, 15. Dezember 2021