Wie zerbrechlich alles ist
RedeDankrede zum Goldenen Löwen für das Lebenswerk
1) Ich möchte der künstlerischen Leiterin des Music Departments Lucia Ronchetti danken, dem Präsidenten der Biennale Petrangelo Buttafuoco und dem ganzen Board der Biennale von Venedig und fühle mich geehrt und dankbar, diesen Preis entgegenzunehmen.
Ich möchte auch dem Ensemble Modern für ihre wunderbare gestrige Aufführung von „Wound“ danken und ihnen zum Silbernen Löwen gratulieren, den sie am Sonntag verliehen bekommen. Es ist eine Ehre, mit einem so exzellenten Ensemble so eng zusammenarbeiten zu dürfen. Enge Zusammenarbeit mit Musiker:innen ist entscheidend. Es ist nicht nur inspirierend, gemeinsam Klänge zu erkunden, sondern auch faszinierend, das intime Zwischenspiel von Musiker:innen und ihren Instrumenten zu beobachten – diese außergewöhnliche körperliche Beziehung, Drama pur.
Komponieren heißt, ein physisches Ding zu schaffen: Klang aus Stille zu schöpfen, ihm Kontext und Gestalt zu geben, ihn zu enthüllen, zu modellieren, zu projizieren oder in den Hörraum zu katapultieren. Und der Austausch mit den Musiker:innen, das gemeinsame Durchleben des experimentellen Prozesses, das Erkunden und Zusammenarbeiten ist für Komponist:innen absolut notwendig und höchst inspirierend. In diesem Sinne: danke, Ensemble Modern!
Ich möchte auch Ed Atkins, dem visuellen Künstler, danken, dass er heute bei der Preisverleihung dabei ist. Mein Dank gilt auch meiner Großmutter und meinem Vater – den tollsten Musiker:innen überhaupt. Dank auch meinen lieben Freunden, darunter mein Freund und Partner Enno Poppe, der mit nach Venedig gekommen ist, um hieran teilzunehmen – du bist einfach wunderbar. Heute Nacht wird gefeiert!
2) Dass Kunst gefeiert wird, in all ihrer Komplexität, vor dieser atemberaubend schönen Stadtkulisse, ist alles andere als selbstverständlich. Wie zerbrechlich das alles ist. Wir leben in wahrlich schwierigen Zeiten. Wir müssen uns nur kurz die rasante Veränderung der politischen Landschaft allein in Europa vor Augen führen, um uns am Rande von etwas wirklich Angsteinflößendem zu sehen. Wie zerbrechlich das alles ist. Es ist leicht in Trübsal zu verfallen und zu vergessen, welche Schlachten für uns gefochten wurden, dass unsere Freiheiten erkämpft sind, eine nach der anderen. Jede Generation muss erneut um die Redefreiheit, die Freiheit des Ausdrucks kämpfen, und wir Künstler um die Autonomie der Kunst. Kunst, die frei ist von Dogma und politischer Kontrolle. Kunst, die die gegenwärtige Gesellschaft beobachtet, kritisiert und reflektiert, die die Komplexitäten unserer emotionalen und spirituellen Welt ausdrückt. Wir brauchen die Kunst, wie ein Körper die Lunge braucht, um zu atmen, und das Herz, um Blut durch die Adern zu pumpen. Ich allein kann mit meiner Musik natürlich nicht die Welt verändern, aber wir zusammen können anstacheln zu Offenheit, Toleranz, Neugier und Respekt füreinander, für den anderen, dazu, uns mutig und aufrichtig dem auszusetzen, was ist, hier und heute.
3) Das Thema des Musikfestivals ist absolute Musik. Welche Kraft hat Musik? Es ist gerade die Abwesenheit eines besonderen, wiedererkennbaren Bildes, was die Musik so ungeheuer faszinierend macht – Musik kann auf fast magische Art und Weise andeuten und erahnen lassen. Musik geht unter die Haut und führt uns zum Wesen von Gefühl und Gedanke. Sie kann die Oberfläche unseres Alltags beleuchten, aber auch die Risse im Lack hervortreten, uns hinter die Fassade blicken lassen, und sie lässt uns das erfahren, was oft unmöglich zu benennen und zu bezeichnen ist. Klang bricht die Oberfläche der Stille auf, zieht ihr die Haut ab, wirft sich hinein und verliert sich im Zwischenreich, auf der Suche nach dem Dazwischen. Musik filtert und rahmt die Wirklichkeit, in all ihrer Komplexität. Sie wurzelt mitten in der Gegenwart als ihr klangliches Abbild. Dennoch ist Musik ein körperliches Ding, das uns einlädt zu fühlen, zu denken, zu beobachten und – wenn wir mögen – uns hinzugeben. Vielleicht ist die größte Stärke von Musik, dass sie in keine Schublade und an keine Wand passt – als kapitalistische Ware ist sie in der Tat erbärmlich, rinnt durch die Finger, sie ist nicht zu besitzen und flüchtig. Musik kann physisch, leidenschaftlich und ausdrucksvoll sein und sie kann eine überaus zerbrechliche Verwundbarkeit zeigen: die einzigartige Zerbrechlichkeit und Unvollkommenheit, die uns menschlich macht.