Das Morgenland des Vierteltons
AnalyseNicolaus A. Hubers Orchesterstück „…der arabischen 4“ (2017)
Auf dem Podium sitzt ein Sinfonieorchester. Man sieht die Musikerinnen und Musiker gespannt darauf warten, dass es losgeht. Die ersten Klänge stammen dann aber nicht von ihnen, sondern von einem Blutdruckmessgerät, als gelte es, den Ruhepuls des groß besetzten Apparats zu messen. Das Rattern der Pumpen für Arme und Beine bzw. Streicher, Schlagzeug, Holz- und Blechbläser wird mit zunehmendem Druck angestrengter und höher. Die Adern, Saiten, Lippen, Arme und Finger werden imaginär gestaut. Dann platzen Teile des Orchesters mit einem harten Schlag heraus, gefolgt von versprengten Akzenten auf metallischen Perkussionsinstrumenten mit langen Ausklängen. Der suggerierte Druck erfährt so eine reale Entladung durch erleichterndes Verströmen der Klänge im Raum.
Nicolaus A. Huber schrieb „... der arabischen 4“ (2017) im Auftrag des ORF Radio-Symphonieorchesters Wien und des HR-Sinfonieorchesters. Die Uraufführung beim Festival Wien Modern 2018 fand unter Leitung von Duncan Ward statt. Das Festivalthema „Sicherheit“ verstand Huber laut Werkkommentar als eine „Aufforderung zum kulturellen Austausch“. Nach mehreren Verschiebungen wegen der Corona-Pandemie folgte im März 2024 die Deutsche Erstaufführung durch das HR-Sinfonieorchester in Frankfurt am Main. Im Vorfeld von Hubers 85. Geburtstag am 15. Dezember wurde das Stück am 8. und 9. November 2024 vom WDR-Sinfonieorchester unter Brad Lubman beim Essener Festival NOW! sowie in der WDR-Reihe „Musik der Zeit“ in Köln gespielt. Bemerkenswert an dieser Komposition ist, dass Huber die verfügbaren Instrumente und Farben nicht einfach als gegeben benutzt. Stattdessen komponiert er ungewöhnliche Kombinationen, präzise Differenzierungen mit erweiterten Spieltechniken und hoch individualisierte Klänge in der gesamten Bandbreite vom zartesten Solo bis zum schreienden Tutti. Außerdem nimmt er der sonst vertrauten Musik für Sinfonieorchester alle traditionelle Dramaturgie, Expressivität, Gestik, Verlaufsform und Zielgerichtetheit.
Spaltpilz und Eckstein
Als konstruktives Mittel zur Befreiung von Konventionen hat Huber immer schon Zahlen genutzt. Seit der Entwicklung seiner „konzeptionellen Rhythmuskomposition“ Mitte der 1970er Jahre verwendet er genau kalkulierte Pulse, Aktionen sowie rhythmische und metrische Proportionen. Diese leitet er wahlweise ab aus mathematischen Verhältnissen, Logarithmen, Fibonacci- und anderen Zahlenprogressionen, Längen- und Flächenmaßen von Objekten, Zählungen von Versen, Worten, Silben, Vokalen vertonter Texte oder der Quantenphysik. Im jüngsten Orchesterstück „... der arabischen 4“ ist es die Zahl 4. Das ist erstaunlich, weil ausgerechnet die Vier in der europäischen Kultur- und Musikgeschichte von der Antike bis heute viele Konventionen herausgebildet hat, die so elementar und stark wirken, dass sie leicht mit Naturgegebenheiten verwechselt werden. Die Ziffer stammt aus dem indisch-arabischen Dezimalsystem und ging einst – so Huber im Werkkommentar – aus dem Pluszeichen + hervor. Das symbolisierte die vier Himmelsrichtungen, vier Elemente, vier Jahreszeiten, die vier Grundrechenarten Addition, Subtraktion, Multiplikation, Division, die vier Finger (und einen Daumen), vier Extremitäten (und einen Kopf) sowie die vier Töne der altgriechischen Tetrachorde und stand damit stellvertretend für Welt und Vollkommenheit. In der Musik markiert die Vier zudem zentrale akustische und systemische Aspekte: die vier Register der menschlichen Singstimme, den perfekten Dur- und Moll-Akkord mit Grundton, Terz, Quinte, Oktave, analog dazu die Vierstimmigkeit der Vokalpolyphonie und des klassischen Streichquartetts, die Quadratur des periodisierten Tonsatzes mit Phrase- und Gegenphrase, Vorder- und Nachsatz, die Vierteiligkeit des Sonatenhauptsatzes mit Exposition, Durchführung, Reprise sowie langsamer Einleitung oder Coda und die Viersätzigkeit des Sonatenzyklus.
Im Werkkommentar führt Huber weiter aus, dass die Proportionen 1 : 2 : 3 : 4 für die reinen Intervalle Oktave, Quinte, Quarte und Doppeloktave stehen und die arabischen Musiker Zalzal und Ziryab den byzantinischen Tetrachorden an verschiedenen Stellen drei weitere Töne im Vierteltonabstand hinzufügten. Beide frühislamischen Musiker wirkten in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts am Abbasiden-Hof in Bagdad. Der Universalgelehrte Ziryab führte auf der bis dato viersaitigen Oud die fünfte „rote“ Saite ein, die „Saite der Seele“. Auch wirkte er am Umayyaden-Hof im andalusischen Córdoba. Indem beide die spätantike Viertönigkeit zur Siebentönigkeit erweiterten, schufen sie die Grundlage sowohl für die arabischen Maqamat als auch für die mittelalterlichen Modi und die späteren Dur-Moll-Tonleitern. „Das ist“, so Huber weiter, „die harmonische Grundlage meines Stückes, im Sinne von Kultur als Austausch, als Zeichen gegen dümmliche Grenzen.“1 Während beispielsweise Klaus Huber seit den 1980er Jahren heptatonische Maqamat, arabische Dritteltöne, Rhythmusmodelle, arabische Dichtung und Instrumente wie Oud, Qanûn, Ney, Riqq und Mazhar verwendete, um west-östliche Brücken zu bauen und einem aggressiv beschworenen „clash of culture“ entgegenzuwirken, verzichtet Nicolaus A. Huber auf jegliche Orientalismen und unternimmt eine Revolution der bisher auf der Vierzahl basierenden Verhältnisse der europäischen Musikgeschichte, indem er die 4 ebenso einfach wie umstürzend zum Bruch 1/4 verkehrt.
Der Titel „... der arabischen 4“ liest sich wie eine Widmung an diese Zahl und macht das Stück insgesamt zu einer Hommage an die arabische Kunst und Wissenschaft. Tatsächlich ist Hubers Orchesterstück omnipräsent von Vierteltönen durchzogen, die wie feine Haarrisse das europäische Tonsystem auflösen und die Jahrhunderte alte musikalische, religiöse und politische Spaltung von christlichem Abend- und muslimischem Morgenland überwinden. Der Viertelton, den die europäische Tradition verwarf, wird zum Eckstein. Denn das Mikrointervall dient nicht bloß als beliebiges Mittel zur Anreicherung von Harmonik und Melodik, sondern als zentrales konstruktives Element. Für Huber ist es damit zugleich ein Symbol für die Erneuerung der europäischen Mathematik, Musik, Medizin, Architektur, Landwirtschaft und Philosophie durch die aus dem muslimischen Kulturkreis eingewanderte „arabische 4“. Mit dem „Zurechtrückgedanken Kultur statt Terror“2 reagierte der Komponist auf die wachsende Angst vor Überfremdung und Islamisierung durch die knapp eine Million Flüchtlinge, die 2015 aus dem kriegszerrütteten Syrien nach Deutschland kamen und zunächst von zahllosen Bürgerinnen und Bürgern mit großer Hilfsbereitschaft willkommen geheißen wurden, bevor die AfD aus der Katastrophe durch Hetze gegen „Sozialschmarotzer“, „Messermänner“ und „Umvolkung“ politischen Profit zu schlagen begann.
Konstruktion und Relation
Zu Beginn steigt der ratternde Ton des Blutdruckmessgeräts annähernd in Vierteltonschritten an und eröffnet damit das beliebig skalierbare Klangkontinuum (Beispiel 1). Huber versteht das medizinische Gerät auch als Anspielung auf die „Schola Medica Salernitana“ im süditalienischen Salerno, eine der ältesten Universitäten Europas, wo vom 10. bis 13. Jahrhundert mehrere Bücher das medizinische Wissen aus verschiedenen Kulturen in vier (!) Sprachen (Hebräisch, Arabisch, Griechisch, Lateinisch) versammelten.3 In Takt 2 – nicht umsonst ein 4/4-Takt – exponiert dann das Orchester die zentralen Konstruktionsprinzipien. Der siebentönige Klang e-f-fis-g-b-c-cis enthält Halb- und Ganztöne, Terzen, Quarten, Tritoni und Quinten im Ambitus der großen Sexte. Gleichzeitig greifen die Interferenzen, die durch den Liegeton e und das vierteltönig erhöhte e der Klarinetten entstehen, das Rattern des Blutdruckmessers instrumental auf. Stabpandeira, große Trommel, tiefes Becken sowie ein Schlag der flachen Hand auf die Saiten im Innenklavier setzen die Schwebung mit Mikrointervallen und Clustern fort. Dem nächsten Orchesterakzent in Takt 9 folgt in Umkehrung des ansteigenden Blutdruckmessers ein pppp absinkendes Glissando der Violoncelli. Umso volltönender und durch Dynamikwechsel belebter spielt dann die gesamte Cello-Gruppe chorisch auf der leeren A-Saite, als sollte das aus vielen Stimmen zusammengesetzte Unisono die Mikrointervallik in den Nanobereich fortsetzen, der sich der Auflösungsfähigkeit des menschlichen Gehörs entzieht (Beispiel 2). Demgegenüber wirkt der klirrende Streichercluster in Takt 16 sowohl als Gegensatz als auch wie eine intervallische Vergrößerung des unter dem Rastermikroskop beobachteten Unisono. Der zwölftönige Klang besteht aus Ganz-, Halb- und Vierteltönen, ist also kein Zwölftonakkord, wie er insbesondere in Werken der Schönberg-Schule vorkommt. Die Simultanität von Ganz-, Halb- und Viertelton setzt das Klavier als Sukzession von vier ratternden Bassanschlägen im Quartumfang mit im Innenklavier abgegriffenen Flageoletts fort, die in Achteltönen aufsteigen und deren Abweichungen von der temperierten Skala die Partitur bis auf den Cent genau angibt.
Hubers Stück irritiert durch die Fülle sowohl extrem heterogener als auch unter wechselnden Gesichtspunkten strukturell verwandter Elemente. Manche unterschiedlichen Klänge sind durch nahtlose Übergänge oder gleichbleibende Parameter verknüpft. Vom initialen Blutdruckmesser ziehen sich weitere ratternde Klänge durch das zwanzigminütige Stück, etwa das ff geblasene tiefe B1 des Kontrafagotts in den Takten 20–21 sowie erneut als fernes Echo kurz vor Schluss in Takt 226. Die klangliche Wirkung der Takte 54–68 bestimmt die Zuspielung des obertonreichen Klangs einer Äolsharfe, wozu die Streicher mit den Bögen fünf Zeichen aus der Genealogie der Ziffer 4 auf die Saiten kratzen (vgl. die analoge Stelle im Klavier, Takte 211–215, Beispiel 5). Der sirrenden Windharfe folgt ein Orgelpunkt des Tritonus As1-D im Akkordeon sowie der durch Tremoli zusätzlich aufgerauten Schwebungen, die zwischen dem C1 in den Kontrabässen und dem vierteltönig erhöhten C in den Violoncelli entstehen. Die Charakteristik der Instrumente wird durch die Interferenz verfremdet und durch einen fff-Klavieranschlag C1-As1-D verdeckt, dessen Diminuendo dann den anfangs camouflierten Liegeklang der Bässe und Celli freigibt. Gleichzeitig blasen die Schlagzeuger mit Mundsirenen sirrende Glissando-Kurven „Hui-hui“, als wollten sie den Mechanismus der Windharfe parodieren.
Als ins hohe Register verlagerte Klangfarbenmelodie wandert ab Takt 174 die Sekundreibung g2-as2 von den Trompeten einen Viertelton tiefer (vierteltönig erhöhtes fis2und g2) in die Oboen und dann zur bitonalen h-Moll/F-Dur-Mixtur des Akkordeons. Weitere Varianten des Blutdruckmessers sind der Pedalton As1in der Posaune ab Takt 152 und das tiefe C im Akkordeon ab Takt 188.
Isolation und Notation
Den Verbindungslinien zwischen Klängen stehen extreme Kontraste von Höhe, Dynamik, Dauer, Dichte, Farbe und Spieltechnik gegenüber. Viele Klänge sind durch Pausen isolierte singuläre Ereignisse, meist filigran, zart, zerbrechlich und leise von mp bis pppp. Die Instrumente verlieren dadurch zuweilen ihre Körperlichkeit, Abstrahlung und räumliche Verortbarkeit. Viele Ereignisse wirken eher atmosphärisch als wirklich greifbar. Andere erscheinen kryptisch und erschließen sich nur durch die Lektüre der Partitur als Augenmusik. Beispielsweise zeichnen ab Takt 40 beide Schlagzeuger auf tiefem Tomtom mit Fingern und auf tiefem Tamtam mit Plastiklineal die Striche ↙→↓ und ↙↓→, die übereinander gelegt die Ziffer 4 bilden, was man jedoch weder hören noch im Konzert sehen kann. Extrem disparat wirken Gegenüberstellungen von Soli und Tutti. Ab Takt 46 wandert der Ton f2 in schneller Triolen- und Sechzehntelfolge durch verschiedene Instrumente (Beispiel 3). Der Sukzession folgt ein simultaner fff-Akzent e1 der Bläser und Streicher mit anschließendem Decrescendo al niente zum Flageolett gespielten e2 der Kontrabässe. Dem folgt wiederum eine tonlos gehauchte pppp-Linie der ersten Flöte, die vom vierteltönig erhöhten f1 in Viertel- und Ganztonschritten zum b1 aufsteigt. Den Ton übernimmt die zweite Flöte, dann einen Viertelton tiefer die mit Übedämpfer geblasene Trompete. Die Vier ist einmal mehr intervallisch als Quarte und Viertelton gegenwärtig. Eine aufheulende Mundsirene und zwei ff aneinander geschlagene chinesische Becken – eines abrupt gedämpft, das andere lange ausschwingend – maskieren und initiieren dann die Zuspielung der Äolsharfe.
Die Takte 108 bis 113 enthalten einen scharf-dissonanten ffff-Cluster aus Halb- und Vierteltonreihungen mit unregelmäßigen Repetitionen in Akkordeon, Schlagzeug und Streichern. Dem Maximum an Klang folgt nach den bis Takt 117 gehaltenen Violinen schließlich eine Reduktion auf das Minimum. Die Bratschen streichen pppp auf der C-Saite und verlagern den Bogen ab Takt 137 längs des Griffbretts in Richtung Sattel und darüber hinaus „ppp sempre“ bis zu tonlosen Strichen auf den Stimmwirbeln. Vom Erreichen des Instrumentenendes in Takt 139 kehrt sich der Prozess um und führt, von der A-Saite bis zur D-Saite wandernd, entlang des Griffbretts zurück bis zum Steg und darüber hinaus auf die Saiten dahinter (Beispiel 4). Indem Huber die quer zu den Saiten verlaufenden horizontalen Bogenstriche vertikal längs der Saiten auf- und absteigen lässt, vollführen alle Bratschen ein Plus-Zeichen, Prototyp der arabischen 4. Akustisch entspricht dem Plus freilich ein klangliches Minus. Denn das Rauschen tendiert zur Stille und setzt viermal (!) komplett aus. In je zehn Sekunden dauernden Generalpausen erreicht das Stück seinen Nullpunkt. In Takt 158 schreibt dann Schlagzeug I mit den Strichen ↑↙→ erneut eine 4 auf das Bongo-Fell.
Neben den arabischen Zahlen 4, 3 und 7 (4 + 3 = 7) und deren Kombinationen nutzt Huber auch die Prim- und Fibonacci-Zahlen 1, 2, 3, 5, 8, 11 und 13 für Dauern, Rhythmik, Metrik und Tempogestaltung. Ab Takt 189 spielt das Solocello „völlig ohne Bogendruck“ fast nur mit der Bogenspitze wechselnde Auf- und Abstriche, deren Anzahl und Quantelung durch verschieden lange Achtelgruppen diesen Zahlen folgen. Die ständigen Wechsel und Neuansätze des Bogens verhindern, dass sich die vierteltönig tiefer gestimmte leere C-Saite stabil einschwingt, so dass obertonreiche Mehrklänge wie von der zugespielten Windharfe resultieren. Ab Takt 193 folgen mehrere kontrastierende Tutti-Aktionen der Streicher. Zunächst schlagen alle mit den Bogenspitzen leise auf die Saiten hinter dem Steg. Dann vollführen alle möglichst laut „gequietscht“ einen markanten Ab- und Aufstrich. Ab Takt 196 werden verschieden instrumentierte ffff-Akzente von ruhigen pp-Tönen, sanften Pizzikati im Innenklavier und Streicherflageoletts abgelöst. Blitzartig fährt dann in Takt 206 der einzige komplette Tutti-Schlag ffff dazwischen. Diese Kulmination könnte der Schlusspunkt sein. Doch Huber fügt noch eine für ihn typische Coda an, die wie zu Anfang der Blutdruckmesser die musikalische Immanenz durch eine weitere Zuspielung sprengt.
Lachen und Schreiben
Ab Takt 210 blasen beide Klarinetten mit Permanentatmung 57 Sekunden lang ppp die Vierteltonreibung zwischen f und vierteltönig erniedrigtem f zu einem über Lautsprecher zugespielten Sinuston fis1 (370 Hz). Die instrumental-elektronische Schwebung grundiert sieben Lacher der Menschenrechtsaktivistin Sabatina James. Sie wurde 1982 in Pakistan geboren, kam als Zehnjährige mit ihrer Familie nach Österreich, integrierte sich bewusst und nahm einen liberalen Lebensstil an. Ihre muslimischen Eltern schickten sie jedoch nach Pakistan zurück, um die Koranschule zu besuchen und (zwangs)verheiratet zu werden. Die junge Frau konnte sich dem entziehen und nach Todesdrohungen der Familie in Österreich untertauchen. Mit neuer Identität arbeitete sie als Model und Sängerin, konvertierte zum katholischen Christentum, schrieb mehrere Bücher über ihr Schicksal und gründete 2006 den Verein Sabatina e.V., der sich für von Zwangsheirat bedrohte Frauen und Mädchen sowie für verfolgte Christ*innen in und aus Pakistan einsetzt. Die von Huber zugespielten Fragmente stammen aus zwei Gesprächsrunden im Fernsehen bzw. von YouTube. Da Sabatina James Österreicherin ist, schien sie ihm gut zum Kompositionsauftrag für Wien Modern zu passen. Er bat daher um Erlaubnis, das Audio-Material verwenden zu dürfen, und spendet seitdem immer wieder für diesen Verein.4 Die Zuspielungen enthalten das heitere Lachen der Frau, die ihre Stärke und Souveränität gerade darin zeigt, dass sie lacht statt – wozu sie Grund genug hätte – zu schreien oder zu weinen. Nebenbei hört man Satzfragmente einer Männer- und Frauenstimme mit österreichischer Färbung: „… von Ihnen“, „Ah wie schön, okay“ bzw. „Na okay, sehr schön, voll, passt scho!“
Zwischen den Lachern tritt der sirrende Orgelpunkt hervor, zusammen mit vier (!) Instrumentaleinsätzen, die die Gesprächssituation physisch, verbal und gestisch kommentieren: tonlos aus- und einatmender Akkordeon-Balg, unregelmäßig hin und her bewegte Schellen und Schellentrommel auf Bongofellen sowie ein Schlag auf den Rand eines Beckens. Die sieben Lacher und vier Instrumentalaktionen demonstrieren einmal mehr die Zahlen 7 und 4. Analog den sieben Lachern folgen in Takt 211 sieben Klavieranschläge der heptatonischen Skala h-c-des-es-f-fis-g im Gesamtambitus von vier Ganztonschritten mit je zwei kleinen Sekundschritten an Anfang und Ende, die zwei große Sekundschritte rahmen. Parallel führt die andere Klavierhand einen Bottleneck über den Saitenchor, so dass die angeschlagenen Saiten „zirpig“ klingen und metallische Glissandi entstehen. Die Schleifbewegungen formen – wie schon die Streicher ab Takt 55 – erneut verschiedene historische Schreibweisen der Ziffer 4. Die Kombination der arabischen 4 mit den 7 Lachern der aus dem muslimischen Pakistan nach Europa eingewanderten Sabatina James wird für Huber zum kulturpolitischen Statement: Statt Hetze und Verachtung sei ihm daran gelegen, die arabische Kultur anzuschauen, der die europäische so viel verdanke.5 Schließlich gab es zu allen Zeiten Menschen wie Zalzal im 9. und Sabatina im 21. Jahrhundert, die zwischen Kulturen wanderten und dafür sorgten, dass sich Wissenschaften und Künste ausbreiteten und wechselseitig befruchteten. Daher sind letztlich alle Kulturen hybrid und nicht rein. Und deswegen begreift auch Huber die hybride Harmonik seines Stücks – so der Werkkommentar – „im Sinne von Kultur als Austausch, als Zeichen gegen dümmliche Grenzen.“
Ost und West
Den im Innenklavier geschriebenen Ziffern folgen weitere Brückenschläge zwischen arabischem und europäischem Tonsystem. Die Streicher spielen in Takt 216 die drei Töne der arabischen „Terz des Zalzal“, bestehend aus d, vierteltönig erniedrigtem e und e (Beispiel 5). Doch die auf das Rahmenintervall einer Sekunde komprimierte „arabische Terz“ spreizt Huber auf sechs Oktaven von D1 bis e4 mit dem vierteltönig erniedrigten e1 der Bratschen als Mittel-, Dreh- und Angelpunkt. Diesen ppp-Dreiklang beendet das Klavier – Inbegriff des chromatisch-diatonischen Systems – mit einem knallenden Schlag des Deckels gegen den Rahmen. Anschließend beschwört Schlagzeug II – analog den Takten 40 und 158 – mit den drei Bewegungen ↑↙→ auf dem Tomtom abermals die Ziffer 4 als Bindeglied zwischen Ost und West. Es folgen die chromatischen Sekunden dis4-d4-e4 der Crotales im selben Rahmenintervall der großen Sekunde wie die „Terz des Zalzal“, doch in äquidistanter Chromatik und ohne Oktavspreizung. Weil die Töne in solcher Höchstlage kaum zu unterscheiden sind, wirken sie im Vergleich zur vorher sagenhaft geweiteten „arabischen Terz“ umso beschränkter.
Chromatisch eng sind dann auch die schnellen Anschläge der Crotales, die „nach und nach immer wilder und dröhnender (Vibrationen im Ohr)“ ins fff crescendieren und sich in einem kaum mehr unterscheidbaren Sirren verlieren. Das letztmalig ratternde B1 im Kontrafagott in Takt 226 erinnert als fernes Echo nochmals an den Blutdruckmesser am Anfang. Vier tonlose Ventilkombinationen der Trompete erzeugen die zwei chromatisch versetzten kleinen Terzen F-As und Ges-A und lassen noch einmal den Ambitus eines zur großen Terz komprimierten Tetrachords hören. Den Schlusspunkt setzt dann im finalen 7/4-Takt (!) eine Wischbewegung mit einem Stift „heftig“ und fff über die höchsten Saiten im Innenklavier, als gelte es, die starre Skalierung und Temperierung wegzufegen, um stattdessen mit allen dabei resonierenden Ober- und Mikrotönen zum letzten Mal das Tor aufzustoßen: zum Morgenland des Vierteltons.
1 Laut E-Mail an den Verfasser vom 1.12.2024 stützt sich Huber auf Karl Menninger, „Zahlwort und Ziffer – Eine Kulturgeschichte der Zahl“, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1958, ferner auf Habib Hassan Touma, „Die Musik der Araber“, Heinrichshofenʼs Verlag, Wilhelmshaven 1975, sowie auf seinen ehemaligen Lehrer an der Akademie der Tonkunst München (der späteren Hochschule für Musik und Theater München) Hermann Pfrogner, „Lebendige Tonwelt – Zum Phänomen Musik“, Langen Müller, München und Wien 1976.
2 E-Mail an den Verfasser vom 30.11.2024.
3 Vgl. Hubers Werkkommentar und E-Mail an den Verfasser vom 30.11.2024.
4 E-Mail an den Verfasser vom 30.11.2024.
5 E-Mail an den Verfasser vom 30.11.2024.