Space is the Place
HervorgeholtQuantenimprovisation: Die kybernetische Gegenwart
In Ray Kurzweils neuem Buch „The Age of Spiritual Machines: When Computers Exceed Human Intelligence“ heißt es: „In hundert Jahren wird es keine klare Unterscheidung zwischen Mensch und Computer mehr geben, dagegen eine enorme Erweiterung der menschlichen Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit durch den Einsatz von Neuroimplantaten. Menschen, die auf solche Implantate verzichten, sind nicht mehr in der Lage, sinnvoll mit anderen, die sie benutzen, zu kommunizieren. – Information wird überwiegend in Form assimilierter Wissensprotokolle veröffentlicht und ist leicht zugänglich. Das Ziel von Bildung und Erziehung besteht darin, neues Wissen zu entdecken, das gelernt werden kann.“
Die Zukunftsspekulationen in Kurzweils Buch über sich selbst reflektierende Maschinen, die sich mittels Materie- und Energiemodellen, die ihr Fortbestehen und Überleben sichern, in neue Generationen fortpflanzen können, brachten mich zum Nachdenken. Schon jetzt ist absehbar, daß Computer und die menschliche Intelligenz miteinander verschmelzen werden. Was hätte ich gern auf meinem Musikerinnenchip, wenn mir die Vorzüge der Neuroimplantationstechnologie einmal zugute kämen? Welche Art von Musikerin des einundzwanzigsten Jahrhunderts könnte ich sein? Menschen können schon heute mit Hilfe der Technik weit über die Reichweite der bloßen Sinne hinaus sehen und hören. Kurzweil zufolge wird es nicht mehr lange dauern, bis solche Hilfsmittel als Implantate für den persönlichen Gebrauch verfügbar sind wie heute der Computer und digitale Assistenten. Wir Improvisierenden könnten dadurch neuen Ideen und neuen Herausforderungen begegnen. Nach einem Rückblick auf einige Denkwürdigkeiten und Höhepunkte der letzten hundert Jahre komme ich auf die Frage meines Musikerinnenchips zurück.
Die erste Tonaufzeichnung datiert von 1899. Vor einhundert Jahren wurde Klang magnetisch mittels eines Drahts und eines dünnen Metallstreifens aufgezeichnet. Im Jahre 1900 annoncierte die Gramophone Company eine Auswahl von fünftausend Schallplatten. Das Verlangen der Menschheit nach Aufzeichnung lief im Jahr 1998 auf 52.000 produzierte CD-Titel hinaus!
Die Jazzimprovisation kam nach dem Bürgerkrieg und der Sklavenbefreiung auf. Improvisation entwickelte sich parallel zum Rundfunk und zur Aufnahmetechnik. Daß alle Stile und Formen der Improvisation, von historischen bis zu freien, sich vor allem durch Aufnahmen verbreitet haben, ist keine Überraschung. Die Aufnahme ist Speicher und Dokumentation der Improvisation und bezeugt die gewaltige kreative Leistung unzähliger Musiker. Aber auch im Hinblick auf verschriftete Musikformen hat sich das musikalische Können mit Hilfe der Klangaufzeichnung wesentlich gesteigert.
Der Einfluß von afrikanischer Ästhetik auf die amerikanische und europäische Tanzmusik führte in den Jahren von 1920 bis 1930 zur Geburt des Blues und des bluesinspirierten Jazz. Ma Rainey und Bessie Smith, die Mütter dieser Musik, erlebten als Blues Queens während der Abwanderungen vom Süden in die Metropolen des Nordens einen kurzlebigen Starruhm. Bläser unzähliger Bands folgten dem Beispiel von Ma Rainey, Bessie Smith und anderen Bluessängerinnen in dieser für Menschen afrikanischer Herkunft ungemein schöpferischen und unternehmungslustigen Zeit.
1930 besitzen sechzig Prozent der amerikanischen Haushalte ein Radio. Improvisierte Musik wird über Tonträger und Sendungen verbreitet. Im ganzen Land wird Musik von Amerikanern afrikanischer Herkunft gehört, welche sich auf die ganze amerikanische Musik auswirkt. Die weiße Unterhaltungsindustrie schätzt diese unglaubliche Kreativität und eignet sie sich an. Der gegenseitige Austausch zwischen Schwarz und Weiß geht durch das ganze Jahrhundert weiter und wächst sich zur heutigen Milliarden-Dollar-Industrie aus.
1953 sind die ersten Tonbandgeräte für den Privathaushalt auf dem Markt. Das bedeutete, daß Musiker sich zu Hause oder in eigenen Studios aufnehmen konnten – es gibt einen jederzeit verfügbaren akustischen Klangspiegel. Mit Hilfe der Technik steigt das musikalische Können. Die Aufführungsqualität ist heute in allen Musikstilen, ob improvisiert oder notiert, phänomenal.
Zur Zeit überschwemmt ein weiterer Kreativitätsschub, ausgehend vom Hip Hop der siebziger Jahre, die Jugendkultur und wirkt sich in der ganzen Welt aus. Aufnahmen dienen jetzt als Improvisationsquelle und werden nicht mehr als eingefrorene historische Objekte angesehen, sondern erhalten durch das Scratchen und Remixen der DJs neue Funktion als Live-Material.
Die klassische Musik, wie sie an den etablierten amerikanischen Instituten und Konservatorien gelehrt wird, betrachtet die Improvisation als eine Art Handwerk, die der angeseheneren Kunst der Komposition untergeordnet ist. Daß Mozart genau wie Beethoven auf seinen Konzertreisen improvisiert hat, ist hinreichend bekannt. Als eine verlorengegangene Kunst wurde die Improvisation von den Lehrplänen ausgeschlossen und kommt in den USA außer bei Kirchenorganisten und hin und wieder in einer Konzertkadenz nicht mehr vor. Daß der Improvisation ihr Wert abgesprochen wird, hat irgendwie einen rassistischen Beigeschmack und Hintergrund. Im Amerika der ersten Jahrhunderthälfte entwickelte sich Improvisation zumeist aus Jazz und Blues – der Herzblutmusik der Amerikaner afrikanischer Herkunft, der Entrechteten. Nach 1950 taucht die Improvisation in der weißen Avantgarde-Musik auf, vermittelt durch den Einfluß nur wenig anerkannter Unbestimmtheits- oder Zufallsverfahren, und durch die Hörerfahrung von Jazz und Blues und von Aufnahmen und Konzertreisen nichtwestlicher Musiker – ebenfalls entrechtete Musik.
Welchen Sinn hat Musik, die in der Aufführung entsteht und sich nicht auf das Gedächtnis oder die schriftliche Form beruft – Improvisation? Der Sinn ist je nach der Funktion der Musik verschieden. Einer besteht darin, durch den Klang mit sich und anderen in einen direkten Dialog zu treten. Ist die Improvisation kreativ, dann können neue geistige und körperliche Modelle entstehen, wie es geschah, als Ornette Coleman und Cecil Taylor in den fünfziger Jahren aus der Jazztradition ausbrachen und als später Musica Elettronica Viva, das San Francisco Tape Music Center und die Gruppe AMM die Begrenzungen der klassischen Musik durch Improvisation überwanden. Wenn die Improvisation historisch ist, insofern als sie Charlie Parker und John Coltrane nur wiederholt oder das Erbe anderer großer Improvisatoren antritt, ohne neue Elemente hinzuzufügen, dann besteht der Sinn darin, eine Tradition zu bestätigen.
Der improvisierende Musiker darf keinem Augenblick nachtrauern und muß gleichzeitig in jedem Moment die Folgen der entstehenden Musik, noch während sie in ihr Sein tritt, erfassen. In historischer Improvisation ist der Verlauf vorgezeichnet oder durch die Konventionen und Kodifizierungen des Stils gegeben – durch den Klassizismus der Musik. In sogenannter freier Improvisation weiß man nichts über die Musik, bevor sie sich ereignet – diese Trennlinie bedeutet eine Herausforderung an die Intelligenz von Menschen und Maschinen. Falls die Stile der improvisierenden Musiker nicht schon von der Maschine verinnerlicht wären, aufgrund welcher Information ließe sich dann eine Reaktion errechnen? Wenn das Ergebnis im Voraus schon bekannt ist, handelt es sich nicht mehr um freie, sondern um historische Improvisation.
Was geschieht wirklich, wenn ein kreativer Musiker neue Musik macht? Wie kann sie neu oder frei sein? Frei wovon? Was könnte denn neu an ihr sein? Was geschieht bei einer Soloimprovisation? Bei einer Gruppenimprovisation? Die Solistin gibt sich selbst ein Feedback und hält ein Zwiegespräch mit sich und ihrem musikalischen Umfeld. Die Gruppe erweitert die Möglichkeiten zum Dialog und schafft neue Beziehungen, die Myriaden von neuen Möglichkeiten hervorbringen, obwohl die Musik, so neu sie sein mag, mit unaufhaltsamer Notwendigkeit weiterströmt. Die aufgenommenen Vermächtnisse unzähliger Musiker warten nur darauf, diese Frage zu beantworten.
Was geschieht, wenn einem Menschen oder einer Maschine ein neuer Musikerchip eingepflanzt wird? Alle Reichweiten der Sinne nehmen zu. Die Verarbeitung von Informationen ist über die derzeit bekannten menschlichen Fähigkeiten hinaus möglich. Was gäbe es zu hören? Könnte ein neues musikalisches Paradigma eine neue räumliche Dimension beinhalten? Augenblicke stationären Klangs, Augenblicke von beweglichem Klang mit der Fähigkeit, entfernte Orte aus dem Abstand von Lichtjahren zu entdecken, eine neue zwischendimensionale Räumlichkeit zu definieren? Wie würde sich eine räumliche Melodie anhören – ein Ton, der auf dem Saturn beginnt und sich über Aldebaran und Sirius auf die Erde zubewegt? Ortsbezogene Frequenz und Amplitude – mehrdimensionale Melodie – Farb-/Raum-/Klangmelodie. Wer wird diese Melodie spielen? Wer wird ihr zuhören, und wo? Eine Melodie, die sich über den ganzen Raum ausbreitet und gleichzeitig überall anwesend ist. „Space is the place“ – Sun Ra, ich kann dich hören! Im Artikel „Is Space Finite?“ von Luminet, Starkman und Weeks in der Aprilnummer der Zeitschrift „Scientific American“ heißt es:
„Das Universum kann unendlich groß erscheinen, aber das kann eine Täuschung sein. Wenn der Raum in sich selbst zurückklappt wie die Enden einer Brezel, wäre er grenzenlos, und Licht könnte sich unendlich um den Kosmos schlingen. Man nimmt normalerweise an, daß das Universum wie eine Ebene einfach verbunden sei, was bedeutet, daß das Licht von der Quelle zum Betrachter nur einen Weg nehmen kann. Ein einfach verbundenes euklidisches oder hyperbolisches Universum wäre tatsächlich unendlich. Aber das Universum kann auch wie ein Torus [Ring] mehrfach verbunden sein, was heißt, daß es viele verschiedene solcher Pfade gibt. Ein Betrachter könnte vielfache Abbilder jeder Galaxie sehen und sie leicht als verschiedene Galaxien in einem unendlichen Raum mißverstehen, ähnlich wie ein Besucher in einem mit Spiegeln ausgekleideten Saal der Illusion erliegt, eine riesige Menschenmenge zu sehen.“
Wie wäre es, wenn wir die Gestalt des Universums ausloten, sie hören und wahrnehmen könnten, indem wir Klänge um den Torus schickten? Wir müssen uns nicht auf die körperlichen Begrenzungen unseres Wahrnehmungsbereichs einschränken. Wie steht es mit der Phantasie? Wir haben hier die Herausforderung der Maschine – die Aussicht auf Zwitterformen von Mensch und Maschine durch Implantate, die Herausforderung neuer Lebewesen mit unermeßlichen Wahrnehmungs-, Gedächtnis-, logischem Denk- und Interpretationsvermögen.
Von Menschen geschaffene Wesen, die nicht auf Kohlenwasserstoff aufbauen und die Menschen einmal ersetzen sollen. Erschaffen wir neue Lebewesen, um die Menschen zu ersetzen, oder erweitern wir unser Denken, machen einen Quantensprung in die Großhirnrinde, um unser potentielles Können zu entwickeln?
1948 prägte Norbert Wiener das Wort „Kybernetik“ für die Wissenschaft von der Steuerung und Kommunikation von Lebewesen und Maschinen. Kybernetik existiert überall um uns. In Kurzweils Chronologie heißt es: „In zehn Jahren [2009] jammen menschliche Musiker ganz routinemäßig mit kybernetischen Musikern.“ Das ist keine besonders tiefschürfende Aussage, weil sie nichts über den Stil, die Komplexität oder die Form verrät. Und tatsächlich improvisieren bereits viele Musiker zu Maschinen, die darauf programmiert sind, auf improvisiertes Material zu reagieren. Werden Kurzweils kybernetische Musiker sich in zehn Jahren selbst steuern?
1977 sind die ersten Tischrechner von Apple auf dem Markt. Musiker und Amateure entwerfen Programme, mit denen sie in ihren eigenen Studios Musik machen und wiedergeben können, ohne die Bell Laboratories, Princeton, Stanford und andere Institute, die sich der Computermusikforschung widmen, zu beanspruchen.
Auch die Improvisation entwickelt sich ständig weiter und verschmilzt mit neuen, durch Maschinenintelligenz ermöglichten Formen der Interaktion. Computer erweitern den Spielraum von Solo- ebenso wie von Gruppenimprovisatoren. Man denke nur an die Arbeiten von Laurie Spiegel, David Behrman, Warren Burt, Joel Chadabe, George Lewis, Elliott Sharp, Jim Tenney, der Deep Listening Band, Chris Brown, The Hub und vielen anderen mehr.
Um das Jahr 1990 ist Klangaufzeichnung auf die Computerfestplatte und die entsprechende Weiterverarbeitung möglich geworden. Eine gewaltige und revolutionäre Kombination – das Verschmelzen der Aufnahmetechnik mit dem Computer. Welch wunderbares Werkzeug für kreative Musiker!
„In zwanzig Jahren etablieren sich die ersten virtuellen Musiker mit eigenem Namen.“ Wir müssen wissen, was einen Musiker ausmacht. Wie werden Menschen mit oder ohne Implantate mit der kybernetischen Gegenwart in Wettbewerb treten oder zusammenarbeiten? Beim Gedanken an chirurgische Implantate ist mir nicht wohl. Ich hoffe, daß eine Form gefunden wird, die keinen inneren Eingriff erfordert und ebenso leicht wieder rückgängig zu machen ist.
„In dreißig Jahren sind die direkten neuronalen Zugänge für Verbindungen mit großen Bandbreiten zum menschlichen Gehirn weiter verbessert worden. Eine Vielzahl neuronaler Implantate zur Steigerung der visuellen und akustischen Wahrnehmung und Interpretation, des Gedächtnisses und des logischen Denkens ist erhältlich.“ Was wird verbessert werden? Wird man diese Kräfte messen und ihren Wert einschätzen können, und wer wird es tun? Wie steht es um die Phantasie? Welche Art Improvisation kann und wird sich unweigerlich daraus ergeben?
Musik, und insbesondere improvisierte Musik, ist kein Schachspiel – Musik, und insbesondere improvisierte Musik, kann für die Maschinenintelligenz gewiß eine weitere Herausforderung darstellen. Es ist nicht die Silikon-Linearität von intensiven Berechnungen, die eine Improvisation interessant macht. Es ist das nichtlineare Kohlenwasserstoffchaos, die unberechenbaren Wendungen zufälliger Permutationen, die Fleischlichkeit, die Wärme, die simple, tiefe Menschlichkeit von Lebewesen, die der Musik Präsenz und Faszination verleiht.
Von diesem Symposion „Improvisation Across Borders“ aus haben wir jetzt hundert Jahre in die Vergangenheit und hundert Jahre in die Zukunft geschaut. Was will ich jetzt auf meinem Musikerinnenchip haben – welche Fähigkeiten sollte die Musikerin des einundzwanzigsten Jahrhunderts besitzen? Was kann sie Neues wissen?
1937 besagte die Hypothese von Church und Turing, daß „alle Probleme, die von Menschen gelöst werden können, auf einen Satz von Algorithmen zurückgeführt werden können, was den Gedanken bestätigt, daß maschinelle und menschliche Intelligenz im wesentlichen äquivalent sind.“ Wenn wir auf die Zukunft, Sternzeit 2336, zurückkommen, treffen wir auf Maschinenintelligenz – abzüglich menschlicher Gefühle, die sich offensichtlich bis vor kurzem nicht auf einen Satz Algorithmen reduzieren ließen –, die an Bord des Raumschiffs „Enterprise“ tätig ist. Der Star-Trek-Androide Lieutenant Commander Data ist eine Projektion in die Zukunft, die von Churchs und Turings Theorie vorhergesagt wurde. Data löst Probleme und ist eine vernunftbegabte Lebensform mit denselben Rechten wie andere Lebensformen. Seine maximale Speicherfähigkeit ist achthundert Quadrillionen Bits und seine absolute lineare Rechnergeschwindigkeit beträgt sechzig Trillionen Vorgänge in der Sekunde. Data kann sich an jeden Sachverhalt erinnern, mit dem er einmal zu tun hatte, und Stimmen so vollkommen imitieren, daß er selbst den Bordcomputer der „Enterprise“ glauben machen kann, er sei ein anderer. Der Star-Trek-Data ist verschiedentlich als klassischer Musiker aufgetreten. Sein klassischer Musiker-Chip erlaubt ihm, jede Musik überragend zu spielen, da er alle bekannten Stile und alle zugänglichen Aufnahmen der Interpretationen notierter Musik verinnerlicht hat. Der Musiker, der die klassischen Formen und Idiome studiert hat, ist konservativ, weil er die Tradition bestätigt und konserviert. Jede bekannte Musik kann von einer Maschinenintelligenz angehört, verinnerlicht, analysiert und interpretiert werden und auf einem Chip enthalten sein.
Der Komponist ist ein Organisator, der Musik vor ihrer Aufführung mittels einer Notation gestaltet und formalisiert. Computer helfen ihm bereits bei verschiedenen Gestaltüberlegungen, werden in auf Regeln basierenden Kompositionen eingesetzt und können musikalische Formen selbst berechnen und umsetzen.
„Experiments in Musical Intelligence“ von David Cope beschreibt die grundlegenden Prinzipien der Analyse, der Mustererkennung, der Objektorientierung und der Verarbeitung natürlicher Sprachen. Dieses System ermöglicht es, neue Kompositionen im Stil verschiedener Komponisten zu generieren, von Bach und Mozart zu Prokofjew und Scott Joplin. Das Programm SARA (Simple Analytic Recombinant Algorithm) erzeugt neue Kompositionen im Stil der Musik in seiner Datenbank. Schon jetzt fällt dem Publikum die Entscheidung schwer, welche Musik von einem Menschen und welche von einer Maschine komponiert wurde. Alle bekannten Kompositionsstile können auf dem Komponistenchip enthalten sein.
Data könnte bestimmt mit allen Stilen der Komposition und historischen Improvisation umgehen. „lmprovisor“ ist ein Computerprogramm, das ureigene Musik erzeugt und von Paul Hodgson, einem englischen Jazzsaxophonisten, geschrieben wurde. „Improvisor“ kann Stile von Bach bis zu den Jazzgrößen Louis Armstrong und Charlie Parker imitieren – historische Improvisation. Aber was ist mit dem improvisierenden Musiker als Innovator? Was muß ein Improvisatorenchip leisten, damit eine Maschinenintelligenz wie Data sich mit freier Improvisation befaßt? In Regionen vorzudringen, in denen noch kein Musiker zuvor gewesen ist und sich durch Dimensionen des Raums – der Zeit? – zu spielen? Neue Klänge und Klangbeziehungen zu entdecken?
Data könnte wahrscheinlich alle Instrumente auf ihren Instrumentenbauer, alle Aufführungsmöglichkeiten auf ihre Interpreten und alle musikalischen Formen auf ihre Komponisten hin analysieren. Seine Grenzen liegen jedoch im unbekannten Feld der Phantasie von Interpreten, Improvisierenden, Komponisten und Instrumentenbauern und der Vereinigung all dieser Rollen.
Auf meinem Musikerinnenchip hätte ich gern:
- die Fähigkeit, jede Frequenz oder Frequenzkombination sofort erkennen und bestimmen zu können, in jeder Stimmung oder Klangfarbe, in jedem Tempo oder Rhythmus, in jedem Musik- oder Klangstil, in jedem Raum,
- die Fähigkeit, jede Frequenz oder jeden Klang erzeugen zu können, in jeder Stimmung, jeder Zeitauffassung, jeder Dynamik und Artikulation innerhalb der Begrenzungen der gewählten Instrumente oder eingesetzten Stimmen. Vielleicht würde ich auch ganz gern von einem Instrument zu irgendeinem anderen oder einer Stimme morphen können, je nach Lust und Laune,
- die Fähigkeit, jede Musik zu erkennen, benennen und aus dem Gedächtnis abrufen zu können – ihre Einzelstimmen genauso wie das Ganze, egal, wie komplex,
- die Fähigkeit, zwischendimensionale Räumlichkeit zu erkennen und verstehen zu können,
- die Fähigkeit, die Weisheit der Beziehungen zu begreifen, mit der wir die Natur der musikalischen Energie verstehen – ihrer Form, ihrer Teile und der zugrundeliegenden Spiritualität –, während sich die Musik in der Aufführung entwickelt,
- die Fähigkeit, die spirituelle Verbindung und Abhängigkeit aller Wesen voneinander und der ganzen Schöpfung als Grundlage und Vorrecht des Musikmachens zu erkennen und zu begreifen,
- die Fähigkeit, durch das Musikmachen Gemeinschaft und Heilkraft zu erzeugen,
- die Fähigkeit, die Ausläufer des Universums auszuloten und zu erkennen, in der gleichen Weise, wie Wale den Umfang der Meere mittels Schallwellen ausloten und wahrnehmen. Das könnte den Beginn interdimensionaler galaktischer Improvisationen mit bisher unbekannten Lebewesen einläuten.
Ich denke, es wäre phantastisch, wenn man das alles dreidimensional in Farbe ausdrucken könnte. Haben improvisierende Musiker Bewußtsein? Nehmen sie sich selbst wahr, sind sie sich ihrer selbst bewußt, können sie fühlen? Was ist bewußte Improvisation? Und was, wenn schon, ist dann unbewußte Improvisation? Der Körper weiß, was er tun muß, auch wenn der kleine Verstand es nicht begreift. Der Körper „tanzt“ die Musik – die Nerven „feuern“ und der Verstand bemerkt es erst kurz danach. Zu bewußter Improvisation gehört eine Strategie – eine strategische Reaktion, auch wenn man das Ergebnis nicht weiß. Eine Strategie für bewußte Improvisation könnte lauten: „Spiele nur, wenn du zuhörst – oder vertraue auf die Reaktion des Körpers.“ Das vermischt natürlich die Begriffe der bewußten und der unbewußten Improvisation. Die Kapazität des menschlichen Denkens ist noch nicht ergründet. In der noch der Evolution harrenden Großhirnrinde ist viel größere Kapazität vorhanden, als wir zur Zeit benutzen. Computer könnten uns diesen Prozeß tatsächlich lehren, während wir immer weiter mit der Maschinenintelligenz, die wir erschaffen, und improvisierter Interaktion miteinander verschmelzen. Allerdings müssen wir noch bestimmen, was eine fünfzigjährige Struktur aus Silicon einer fünf Milliarden Jahre alten Kohlenwasserstoffstruktur zu sagen haben wird, bevor wir uns irreversiblen physischen Änderungen unterziehen.
Quanteninformatik ist ein revolutionärer Zweig der Computerwissenschaften auf der Grundlage der Quantenphysik, welche sich die Fähigkeiten von Partikeln wie Elektronen zunutze macht, in mehreren Zuständen gleichzeitig existieren zu können. Quantenberechnung kann zur gleichen Zeit eine Kombination scheinbar unverträglicher Inputs bearbeiten. Analog dazu könnte Quantenimprovisation, metaphorisch gesprochen, einen Sprung zu einem neuen und mehrdeutigen Bewußtsein bedeuten, das eine ganz neue Art der Entscheidungsmöglichkeit bietet. Mehrdeutiges Bewußtsein würde die Fähigkeit bedeuten, in mehreren mentalen Zuständen gleichzeitig zu spielen, um so in einer sich ausdehnenden Gegenwart Vergangenheit und Zukunft zu erreichen oder zu überbrücken. Es könnte neue Klangkombinationen geben, die durch zunehmende Grade von Ordnung verankert sind, auch wenn sich die Entscheidungsmöglichkeiten gegenseitig auszuschließen scheinen. Ein solcher Quantensprung könnte den Einsatz eines größeren Teils der Großhirnrinde, in der Kreativität und Problemlösungsstrategien angesiedelt sind, bedeuten. Dieser neu zu erschließende Teil des Gehirns wartet zusammen mit dem limbischen System der Amygdala, dem alten Gehirnteil und Sitz der Gefühle, auf seine Weiterentwicklung. Die Quantenimprovisation könnte neue Wege finden, das Verhältnis zwischen Geist und Materie auszudrücken und zu verstehen.
Wir nutzen normalerweise nur einen relativ kleinen Prozentsatz der Großhirnrinde. Das spiegelt den Stil der meist inhaltsorientierten Ausbildung in gesellschaftlichen Einrichtungen wider, die kreative Problemlösungen eher einschränkt und unterdrückt, anstatt sie zu fördern. Nach enormen Wachstumsschüben des Gehirns im Alter von sechzehn Jahren verlieren die meisten Menschen ihr Interesse an schöpferischer Tätigkeit. Erziehung – besonders inhaltsorientierter Unterricht – greift nicht notwendigerweise auf die Großhirnrinde zu. Vielmehr werden in klassischer Weise – durch die Kleinhirnrinde – Formen gelernt, erkennbare Formen, die Innovation, welche nach kreativen Problemlösungen verlangt, weder herausfordern noch unterstützen. Das gilt besonders für die Musik. Statt schöpferischer Tätigkeit wird eher die Aufführung klassischer Musik honoriert. Man könnte jedoch sowohl die Aufführung als auch das Schöpferische honorieren und fördern.
Wir brauchen jetzt ein umfassendes Programm – ein musikalisches Improvisatorium, das vor dem Kindergarten einsetzt und nach dem Doktorgrad weitergeht –, das alle Formen der Improvisation und auralen Tradition umfaßt und die Ausbildung an den Konservatorien ergänzt. So früh wie möglich sollten kleine Kinder improvisieren und ihre eigene Musik machen können. Man kann sie im Suchen von Klängen und in Hörstrategien unterweisen. Man sollte ihnen Methoden nahebringen, Klänge zu suchen und zuzuhören. Solch ein Programm würde die traditionelle Musikerziehung nicht ersetzen, sondern würde sie ergänzen, verbessern und allen Menschen ermöglichen, am kreativen Musizieren teilzuhaben. Ein Improvisatorium wäre notwendigerweise interdisziplinär und würde alle Künste und Technologien beinhalten.
Seit hundert Jahren gibt es Aufnahmen aus dem gesamten Bereich der Improvisation, von historisch bis frei. Das ist Dokumentation genug, die viele fruchtbare Doktorarbeiten ergeben könnte. Man könnte mit Improvisationsstrategien beginnen und darauf bis zu akademischen Graden aufbauen. Hier nur ein Beispiel einer Improvisationsstrategie: „Erzeuge nur Klänge, die vorher noch nicht erzeugt worden sind.“
Ist eine Improvisation einmal gespielt, aufgenommen und studiert, dann wird sie historisch. Zu viele Reproduktionen können den Tod der Kreativität bedeuten. Die Reproduktion garantiert das Überleben und Fortbestehen der Form, aber entscheidend wäre es, den Raum für ein kreatives Problemlösen freizuhalten – wie, wäre ein Thema für eine Doktorarbeit. Musiklehrer könnten das Spiel nach dem Gehör genauso fördern wie das Lesen und Schreiben von Musik. Der Einsatz von Klangaufzeichnungen und Computern könnte mit intelligenter Lernsoftware das Erlernen von Notenlesen und -schreiben beschleunigen.
Was könnte man in einem musikalischen Improvisatorium lernen? – Grundlegende Fähigkeiten des Zuhörens einschließlich des Zuhöreffekts. Musik findet nur bei bewußtem Zuhören statt. Das mag beim Quantenhören – Zuhören in mehreren Zuständen gleichzeitig – anders sein. Wenn man nicht zuhört, gibt es keine Musik. Ein bewußt Wahrnehmender ist notwendig. Bewußte Wahrnehmung beeinflußt den Klang.
Verschiedene Arten und Strategien, etwas klingen zu lassen und zuzuhören, wären: Das Anfangen vom Nullpunkt – Musik mit allen möglichen Mitteln (zum Beispiel Kronenkorken, irgendwo gefundene Objekte); Klangökologie – was geschieht mit der Umwelt? – das Einfangen von Klängen durch Aufnahmen; Klangsensibilität; Beschaffen von Klängen durch Direkteinspeisung klanglich stimulierender Landschaften wie Teichen, Meeren, Naturklanggebieten, dem Wetter und vielen anderen Quellen, auch Industrie- und Großstadtstandorte; Klang als Intelligenz; Beziehungstechniken oder Beziehungshaftigkeit; Organisation durch Beziehungen; Formlosigkeit; Ethik der Gleichheit aller Menschen; politische Strukturen; Entwicklung offener Formprozesse, der Umgang mit Computern – Computer können uns Anstöße geben oder uns etwas über das Denken beibringen und uns den Quantensprung zu einem integrierten Bewußtsein erleichtern; Technologie, insbesondere Werkzeuge, die das Denken durch Zuhören erweitern; Erforschung und Entwicklung von Instrumenten; Akustik; Psychoakustik; Organisationsstrategie.
Der Ort eines Improvisatoriums verlangt eine entsprechende Architektur – im Idealfall. Das Chaos als Schlüsselelement fördert die Evolution. Treffpunkte sollten ein angemessen chaotisches Umfeld bieten, in dem Ebenen, Farben, Oberflächen, Klangobjekte, die Akustik, Aufnahmemöglichkeiten und offene Räume neu konfiguriert werden können. Es gibt viele Möglichkeiten.
Dieses Symposion „Improvising Across Borders“ verhilft einer schöpferischen Tätigkeit, die von der alten musikalischen Ordnung des Westens an den Rand gedrängt wurde, zu neuem Ansehen. Jetzt wird es Zeit für einen umfassenden Lehrplan, in dem improvisierte Musik nicht mehr ignoriert oder verunglimpft wird. Grenzen sollten nicht nur überschritten werden, sie sollten sich auflösen. Akademische Grade in oral oder schriftlich tradierter Musik sollten gleichermaßen zu erwerben sein. Aural überlieferte Musik wirkt auf die schriftliche Musik und umgekehrt. Die Improvisation stellt eine Schlüsseltechnik der kreativen Problemlösung und der Erweiterung des Denkens dar, die wir brauchen, um uns den Herausforderungen der Maschinenintelligenz, die wir schaffen, stellen zu können. Die Improvisation ist eine kreative Problemlösung und ein Tor zum Quantendenken – dem Denken in mehreren Zuständen gleichzeitig.
Was ist freie Improvisation? Bevor die Musik entsteht, weiß man nichts. Welcher Algorithmus erzeugt diesen Zustand? Er kann von historischen Mustern frei sein oder auch nicht oder kann historische Muster in einer neuen Weise verwenden. Theoretisch ist freie Improvisation völlig spontan, wie der Urknall der Schöpfung. Vielleicht war der Urknall die erste und einzige freie Improvisation. Lust auf Algorithmen? Wie wäre es mit der Verhütung der Möglichkeit, daß der erste unbekannte Klang zu einer unbekannten Zeit in einer Gruppe von Spielern, die sich alle untereinander nicht kennen, eine Improvisation auslöst? Und dann stellen sie sich eine Menge kreativer Menschen vor, die miteinander improvisieren.
Übersetzung aus dem Englischen: Klaus Schmirler
Literatur
Ray Kurzweil, „The Age of Spiritual Machines: When Computers Exceed Human Intelligence“, Viking 1999 („Homo sapiens: Leben im 21. Jahrhundert: Was bleibt vom Menschen?“, Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1999)
Samuel A. Floyd Jr., „The Power of Black Music: lnterpreting lts History From Africa To the United States“, Oxford University Press, 1995.
Edwin Prevost, „No Sound ls lnnocent: AMM and the Practice of Self-Invention – Meta-Musical Narratives – Essays“, Copula, 1995.
Jean-Pierre Luminet, Glenn D. Starkman und Jeffrey R. Weeks, „ls Space Finite?“, in: Scientific American, April 1999.
Neil Gershenfeld und Isaac L. Cuang, „Quantum Computing with Molecules“, in: Scientific American, Juni 1998.