MELENCOLIA

Werkbetrachtung

Brigitta Muntendorfs Show gegen die Gleichgültigkeit des Universums

Das Verschwimmen der Grenzen mehrerer paralleler Welten zieht die Zuschauer:innen unmittelbar mit dem Betreten des Konzerthauses und noch vor dem Eintritt in den Konzertsaal in den Bann. Umringt von Aufstellern mit QR-Codes, die beim Scannen kleine virtuelle Gestalten in den Raum projizieren, daneben ein virtueller Chor, gestaltet durch die Zuschauenden, sehen sich die Hörer:innen mit einem ersten Infragestellen dessen konfrontiert, was eigentlich dem eigenen Realitätsverständnis inbegriffen ist.

Im Konzertsaal: eine Welt voller geschäftigem Treiben. Musiker:innen liegen auf dem Boden, einige gehen mit einer AR-Brille über die Bühne, andere spiegeln das Publikum mit einer „Zuschauer:innen-Kamera“, ein silbern glänzender Polyeder in der Mitte der Bühne, im Hintergrund Geräusche aus einem Videospiel.

Inmitten dieser Szenerie aus Musiker:innen, die teilweise als Engel verkleidet sind, ein Roboterhund neben einem Sessel, der mit einem Wolkenmuster überzogen ist, das sich in eine der vielen Projektionsflächen und Greenscreens im Hintergrund ergießt. Auf dem Boden der Bühne zerfließen die Ränder des Greenscreens und verwandeln ihn in ein grünes Meer aus ständig wechselnden Mustern.

Es ist ein permanenter Perspektivwechsel zweier Welten, die zu einem immersiven Raum werden, eine laute, bunte und halb erstickt schreiende Welten, die ständig ihr zerbrechliches Innerstes nach außen kehrt und dabei die Grenzen von Raum und Zeit verschwimmen lässt. Aus den Lautsprechern ertönt ein Zitat aus Siegmund Freuds „Trauer und Melancholie" (1917):

„[Bei dem Versuch, das Wesen der Melancholie zu erhellen,] werden wir den Anspruch auf allgemeine Gültigkeit unserer Ergebnisse von vornherein fallen lassen und uns mit der Erwägung trösten, dass wir mit unseren gegenwärtigen Forschungsmitteln kaum etwas finden können, was typisch wäre.“

Daneben Texte von unter anderem Robert Burton und Jean-Philippe Toussaint, die die Zuschauer:innen mal leise flüsternd und mal laut schreiend auf die Gnadenlosigkeit des „Jetzt“ und die Widersprüchlichkeiten der eigenen Existenz aufmerksam machen.

Die Musiktheatershow von Brigitta Muntendorf, unter der dramaturgischen Leitung von Moritz Lobeck, ist eine multimediale Musiktheaterinstallation mit einem beeindruckenden Narrativ. Die Grundlage der Inspiration bildet Albrecht Dürers Bild „Melencolia I“ mit dem rätselhaften Polyeder auf der linken Seite des Bildes, dem das Werk auch seinen Titel verdankt. Gerade Kanten treffen auf geschwungene Linien und Symmetrie verliert sich in der Weite. Diese Widersprüche werden zum Sinnbild der menschlichen Sehnsucht nach Erlösung vor dem Hintergrund des Unerlösbaren.[1]

Uraufgeführt wurde das Auftragswerk des Ensemble Modern, gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes, bei den Bregenzer Festspielen 2022 und erfuhr unter anderem 2025 in Berlin bei der MaerzMusik eine Wiederaufführung.

MELENCOLIA ist mit 14 Musiker:innen des Ensemble Modern besetzt, die ebenfalls szenisch agieren, mehrere Chorsänger:innen im realen und virtuellen Raum, daneben digitale Gäste wie den iranischen Ney-anban-Virtuosen Saeid Shanbehzadeh und KI-Stimmklone. Diese beeindruckend vielschichtige und sehr wandelbare Besetzung durchschreitet die Grenzen zwischen realen und virtuellen Welten mit bemerkenswerter Mühelosigkeit und erzeugt auf der Bedeutungsebene eine Erfahrung von hohem philosophischem Tiefgang, die noch lange nach dem Verlassen des Konzertsaals bleibt und zum Nachdenken anregt.

Ergänzt wird die Theatershow durch eine Vinylfassung. Dieses „postdigitale Medley“[2] erweitert das Werk – bestehend beispielsweise aus Audiomaterial aus den Shows – um die „Sadness-Meditation“ und die „Hope Cores“ mit Texten des Medientheoretikers Geert Lovink, welcher ebenfalls eine zentrale Rolle bei der Konzeption des Werks gespielt hat und zudem als Sprecher seiner eigenen Texte agiert. Die Veröffentlichung sei vor allem als bewusster Gegenpol zur digitalen Schnelllebigkeit gedacht, als eine „Insel der Entschleunigung“[3], die der Kolonialisierung unserer inneren Welten entgegenwirken soll, so Muntendorf.

Doch was bleibt musikalisch, wenn die Bedeutungsebene in den Hintergrund rückt?

„Statt eines klar konturierten Reflexionsraums eröffnete sich ein assoziatives Geflecht, das mehr durch formale Vielfalt als durch inhaltliche Tiefe bestach. Das Übermaß an Reizen führte stellenweise zu einer Überlagerung, bei der sich introspektive Momente nicht voll entfalten konnten. So blieb das Erlebnis trotz starker Einzelkomponenten eher an der Oberfläche – mehr ästhetisches Spiel als tiefgreifende Erkundung.“[4] Die „formale Vielfalt“, die Hannah Otto anspricht, zeigt sich vor allem in den insgesamt sieben Tableaus[5], die das Stück gliedern und wie Szenen nebeneinanderstehen. Diese Tableaus grenzen sich nicht nur inhaltlich voneinander ab, indem sie jedes Mal das Phänomen der Melancholie aus einem neuen Blickwinkel betrachten, sondern stehen auch musikalisch jeweils in sehr unterschiedlichen Welten. Diese Welten verweisen auf unterschiedliche Musiktraditionen, wie direkt zu Beginn in der „Sadness Meditation“ (Tableau I) das Aufeinanderprallen von elektronischer Musik mit virtuellen Stimmen, die immer mehr durchsetzt werden von instrumentalen Gesten, daneben die Überbleibsel einer Fugenstruktur beim „Cellokonzert“ in „Planet Norn“ (3. Tableau), vor drei virtuellen Gestalten, die einen Refrain singen oder die Struktur des Lovesongs „Daisy, Daisy“ (2. Tableau), dessen formale Hülle als Genreverweis zurückbleibt, jedoch durch die Art des Vortags (geschrien) völlig entfremdet wird.

Diese Formen von Verfremdungen von Ausgangsmaterial, mit dem Ziel der Gewinnung einer weiteren, gänzlich neuen Bedeutungsebene, spiegeln den Kern der Werkimmanenz dieses Stücks wider, die in der Art und Beschaffenheit des musikalischen Materials ansonsten eher vergeblich gesucht wird. Die Frage an die Musik könnte lauten: Was sagt in einem anderen Kontext etwas anderes aus?

Den musikalischen Kern des Stücks bilden hier Materialien, die meist wie Stilzitate wirken oder besser: wie „vertrautes Material mit Eigenleben“[6]. In kurzer Zeit werden Stereotype von beispielsweise Melodiebildung in der Popmusik bei „Daisy, Daisy“ (2. Tableau), barocken Formtypen im „Cellokonzert“ bei „Planet Norn“ (3. Tableau) und Impressionismus mit Mixturklängen aus halbverminderten Dreiklängen bedient (3.Tableau). Insgesamt zeigen sich harmonische Strukturen vorwiegend terzgeschichtet, vor metrisch klar sitzenden rhythmischen Patterns.

Ein Obertonspektrum mit ausgestelltem Durseptakkord entfaltet sich in „Le Chant de Zizane“ (4. Tableau) im Ensemble, während im Hintergrund im virtuellen Raum Jubelgesänge aus einem Fußballstadion über die Lautsprecher zugespielt werden. Die Blechbläser spielen hier eine unendlich lange herabsteigende Linie, während der Chor unentwegt „…a Little longer.“ fleht. Alles verblasst und laute Nebengeräusche aus der Aufnahme der Jubelgesänge ergießen sich als endloses Rauschen in Elektronik und Ensemble.  

In Nekropolis (5. Tableau) findet sich der virtuelle Host (Saeid Shanbehzadeh) mit der eigenen Einsamkeit in einer leeren Stadt wieder. Die Stimmgruppen des Ensembles teilen sich auf, die Violinen sitzen plötzlich bei der Trompete, die Oboe bei den Blechbläsern, zu denen sich ein Kontrabass gesellt. Zwei Engel spielen singende Säge und sehen dabei aus, als würden sie sich ineinander spiegeln.

In der virtuellen Welt schiebt sich Mikrotonalität auf der Ney-anban immer weiter nach vorne. Die ganze Szenerie wird eröffnet durch ein hämmerndes rhythmisches Motiv, welches wie eine Parodie auf Beethovens „Schicksalssinfonie“ wirkt. Es prallen in diesem Tableau unterschiedliche tonale Welten und musikalische Traditionen aufeinander. Doch diese Welten wirken immer wie kleine Glitches und eine Inkongruenz bleibt zurück, die sich auch in der Positionierung der Musiker:innen auf der Bühne zeigt. Aus den Lautsprechern:

„Wo kommst du her? … vielleicht weißt du es selbst nicht.“

Der Komponistin geht es dabei primär um Muster, die auf mehreren Ebenen stattfinden.[7] Musikalische Materialen müssen für sie vor allem einen starken Eigencharakter haben.

„[…] das Zitat an sich interessiert mich gar nicht so. […] es sind eher die Welten, von denen man meinen könnte, dass sie daraus stammen.“[8]

Für die Komponistin wichtige Kriterien bei der Suche des Ausgangsmaterials sind dabei eine hohe Flexibilität und Beweglichkeit. Die Anlage an sich muss, trotz der klaren Herkunft aus einer Tradition, in sich selbst hybride Anlagen haben, wie beispielsweise das Instrument Ney-anban des Spielers Saeid Shanbehzadeh, dessen Klangfarbe sowohl analog verankert ist als auch in Richtung Elektronik schaut. Es war der Komponistin ein Anliegen, Welten von Monumentalität zusammenzubringen, wozu es klarer Genreverweise bedürfe.[9]

Da Muntendorf hauptsächlich mit Stilzitaten arbeitet, die allerdings von ihr selbst stammen und keine Schnipsel aus anderen Werken sind, stellt sich die Frage nach einer Collagetechnik in einem etwas anderen Licht. Sie selbst sieht ihr Stück nicht in der Collage-Tradition. In der Collage gehe es vorrangig darum, Einzelteile zu etwas Neuem zusammenzufügen, wohingegen in MELENCOLIA in das Material hineingegangen werde und es darum gehe, was mit dem Material gemacht werde. Genau das, wie Dinge miteinander verbunden sind, ist hier der Kern des musikalischen Arbeitens.

Immer wieder fällt auf, dass die Musik in ihren inneren Strukturen eher einfach gehalten ist. Wer auf der Suche nach mehrdimensionalen Bezugsgeflechten und ausschweifenden Klangausdeutungen ist, kommt in diesem Werk nicht auf seine Kosten. Diese Klarheit der musikalischen Struktur findet ihre Begründung in ihrer dramaturgischen Funktion.

Häufig sind es die Zwischenspiele der wechselnden Szenen, die in ihrer Struktur einen höheren Komplexitätsgrad aufweisen und sich mitunter zu spannenden Klanggebilden verzweigen, die auf nichts verweisen als auf sich selbst. In diesen Momenten des „Dazwischen“ entstehen Zeit(zwischen)räume, die hier unendliche Möglichkeiten der Perspektivwechsel zwischen unterschiedlichen musikalischen Welten zelebrieren.

In MELENCOLIA geht es musikalisch vor allem um assoziative Welten, bei denen klare Konnotationen neu kontextualisiert werden. Die sieben Tableaus verweisen alle auf bestimmte Musiktraditionen und verlassen sie aber ebenso schnell wieder zwischen den Szenen. Formal ist dieses Werk sehr viel klarer angelegt als in seinem inneren strukturellen Arbeiten, was sich häufig nur an der Oberfläche wahrnehmen lässt und sich mehr zu einem Denken in verschiedenen Klangwelten als in komplexen Bezugsgeflechten entwickelt.

Was ist aber nun mit der Zeit, wenn die Form so klar sitzt? In diesem Werk vergeht die Zeit kaum linear und ebenso wenig spiralförmig. Vielmehr spannt sich ein Raum mit vielen Seitenansichten von Gleichem auf, der ständig den Bezugspunkt wechselt und wieder neue Räume schafft. Hiermit wird eine sehr spannende Schräglage zwischen der Komplexität der Materialen und der zeitlichen Ebene geschaffen. Es mutet beinahe an wie ein Aufzeigen der Diskrepanz zwischen dem Zeiterleben in der digitalen und in der realen Welt.

Vielleicht fasst es der Untertitel des Werks ganz gut zusammen: „Eine Show gegen die Gleichgültigkeit des Universums". 

Diese Gleichgültigkeit scheint sehr endgültig und klar auf den Schultern des „melancholischen Ichs“ zu lasten und spiegelt sich auch in den deutlichen Umrissen der musikalischen Materialien wider. Material ist hier etwas, das zunächst einfach nur ist und erst eine Bedeutung bekommt im Auseinanderziehen und Verändern. 

Dabei ist eine weitere Kernfrage: Woher kommen die Dinge, wofür stehen sie und wo kann ich sie in einem anderen Kontext sichtbar machen?

MELENCOLIA ist ein Stück, das sich extrem angreifbar macht. Entweder man lässt sich auf die Art und Weise, wie es funktioniert, ein oder es fällt leicht auseinander, wenn andere Kriterien zugrunde gelegt werden.“[10]

Genau diese Fallhöhe, die Muntendorf hier benennt, macht die Theatershow an vielen Stellen so interessant. Es ist ein Werk, das durch sein tiefsinniges Narrativ besticht, ständig wechselnde Perspektiven musikalischer Welten einnimmt und die Leere und Sinnhaftigkeit von Realität und Existenzen hinterfragt. Dabei müssen die Hörer:innen sich und ihre musikalischen Vorprägungen ständig hinterfragen und neu kalibrieren, um Raum für neue Bedeutungsebenen zu schaffen.

1 Vgl.: Ensemble Modern, MELENCOLIA. https://www.ensemble-modern.com/de/projekte/gegenwart-begreifen-2020. Letzter Zugriff: 22.05.2025.
2 Ensemble Modern, NEW VINYL RELEASE ›MELENCOLIC MEDLEY‹, März 2025. https://www.ensemble-modern.com/en/news/2025-03-17/new-vinyl-release-melencolic-medley. Letzter Zugriff: 22.05.2025.
3 Ensemble Modern, Presseinformation, Februar 2025. https://www.ophelias-pr.com/fileadmin/user_upload/kuenstler-projekte/ensemble_modern/pressemeldungen/pm_em_album_melencolic_medley.pdf. Letzter Zugriff: 22.05.2025.
4 Hannah Otto, Wo der Atem spricht, in: MusikTexte, Ausgabe April 2025. https://www.musiktexte.online/ausgaben/april-2025/wo-der-atem-spricht. Letzter Zugriff: 22.05.2025.
5 Eigenbezeichnung der Komponistin bei der Beschreibung der einzelnen Szenen/Teile, mit dem Ziel die Nähe der Musikwelt zur Bildwelt aufzuzeigen.
6 in: MaerzMusik, Vertrautes Material mit Eigenleben. Brigitta Muntendorf im Gespräch mit Julia Decker, März 2025. https://mediathek.berlinerfestspiele.de/de/maerzmusik/2025/vertrautes-material-mit-eigenleben. Letzter Zugriff: 22.05.2025.
7 Interview mit Brigitta Muntendorf, geführt von der Autorin am 11.04.2025.
8 Ebenda.
9 Ebenda.
10 Ebenda.