Wagnis des Neuen

Fundstück

Dankrede zum Beethovenpreis 1970

Sehr verehrter Herr Oberbürgermeister, verehrte Anwesende,

die Verleihung des Beethoven-Preises im Beethoven-Jahr in Bonn ist für mich eine außerordentliche Ehrung und unvergeßliche Freude, und ich danke der Stadt und Ihnen allen herzlich für das Vertrauen in meine Musik, in die Zukunft der Musik.

Sie sagten, daß ich in meinen “Tenebrae“ eine differenzierte Kompositionstechnik dem menschlichen Ausdrucksbedürfnis dienstbar gemacht habe.

Überraschend ist vielleicht, daß sich hier mein subjektives Ausdrucksbedürfnis eines ziemlich großen Orchesters bedient, daß es sich über das komplexe Medium eines Kollektivs von Musikern aussprechen möchte.

Hierin kann ich tatsächlich eine gewisse Linie zu Beethoven hin sehen: Er war der erste, welcher den objektiven Orchesterklang seinem außergewöhnlichen Ausdrucksbedürfnis unterwarf, die Orchestermusik extrem subjektivierte, ganz neue Klangfarben und polare Gegensätzlichkeit (auch in der Dynamik) einführte und damit die Emanzipation des Orchesters in der abendländischen Musik – nach Monteverdi – durchgesetzt hat.

Als ich „Tenebrae“ niederschrieb, stand ich unter einem gewaltigen inneren Druck: Meine Vorstellungen kreisten um das Symbol „Sonnenfinsternis“, „Verfinsterung des Lebens“: Nicht im Sinne einer Stifter‘schen Beschreibung mit Mitteln der Musik, sondern viel eher in jenem Sinne der Anrufung eines uralten Menschheitssymbols, das durch eine gewaltige Pression bis in die innersten Tiefen menschlicher Existenz einzudringen vermag. Es ist daher möglich, ja wahrscheinlich, daß die Instrumente des ­Orchesters unter einem ähnlichen Druck stehen, wie ich ihn während der Arbeit an „Tenebrae“ auszuhalten hatte.

Jahrtausendealte östliche Denkweisen machen keinerlei grundsätzliche Trennung zwischen dem Menschen und der Natur, dem Kosmos. Beides ist geborgen als Ganzheit. Unser abendländisches Weltbild ist aber seit langer Zeit extrem homozentrisch. Alles, was uns nicht rational durchschaubar erscheint, empfinden wir spontan als uns feindlich. Auch und gerade in der Musik.

Es gibt eine unvergleichliche Vision bei Jean Paul: „Der Traum vom All“. Ein Bote führt den Dichter durch alle unbegrenzten Räume des Kosmos. Der Mensch erlebt diese Geistreise – die übrigens spätere Erkenntnisse der Astronomie antizipiert – mit Angst, Schrecken, aber auch mit Hoffnung. Eben diese Vision, über die ich viel meditiert habe, beeinflußte die Komposition meiner „­Tenebrae“.

Noch ein Wort zur Interpretation: Für jeden ist klar, daß Beethoven nur interpretieren kann, wer sich in den Geist von Beethovens Musik hineinarbeitet, hineinfühlt. Weniger bekannt ist es, daß die Interpretation eines noch nicht bekannten, stilistisch neuen Werkes – auch und gerade bei Orchestermusik – voraussetzt, daß jeder Musiker versucht, sich in den Geist dieser Musik hineinzuarbeiten. Selbst bei souveräner Beherrschung und tiefem Verständnis der Partitur durch den Dirigenten bleibt es leider unmöglich, auch nur in die Nähe einer authentischen Interpretation zu gelangen, wenn der Musiker nicht mitgeht. Immer vorausgesetzt, daß dem Komponisten noch am opus perfectum gelegen ist.

Daß nicht jeder Orchestermusiker, auch dann, wenn er dazu durchaus befähigt wäre, aus freien Stücken, gar aus eigener Überzeugung sich in das Wagnis des Neuen stürzt, ist wohl immer so gewesen und bleibt eine Binsenwahrheit.

Obwohl manchem das Dilemma unauflösbar erscheint, ist die Lösung dennoch viel näherliegend, als man erwartet: Ehrliche Unvoreingenommenheit, Konzentration auf die musikalische Aufgabe, ein bißchen Arbeitsethos und Gewissenhaftigkeit reichen aus, um erstaunliche Aufführungen zustande kommen zu lassen.

Seien wir doch weniger voreingenommen!

Interpretation bedeutet dann zuallererst einmal: guten Willen.

Auch wenn jemand zu mir in einer Sprache spricht, die ich überhaupt nicht verstehe, darf ich nicht von vornherein unterstellen, daß er mich beschimpft. Es könnte doch sein, daß er mir etwas sehr Wesentliches sagen will; mir vielleicht dankt …

Noch einmal meinen herzlichen Dank für Ihr Vertrauen.

Klaus Huber erhielt im Jahr 1970 den Beethoven-Preis der Stadt Bonn für sein Orchesterwerk „Tenebrae“. Wir haben seine Dankesrede hervorgeholt, die auch in „Umgepflügte Zeit“, einer Sammlung von Texten von und Gesprächen mit Klaus Huber, nachzulesen ist. (Klaus Huber, „Umgepflügte Zeit. Schriften und Gespräche“, hrsg. von Max Nyffeler (= Edition MusikTexte 006, hrsg. von Gisela Gronemeyer und Reinhard Oehlschlägel), Köln 1999, S. 370f. Erstabdruck in: „Neue Zürcher Zeitung“, 29. November 1970)