We send u happiness
BerichtDie Wittener Tage für neue Kammermusik 2025
Die 57. Ausgabe des Festivals vom 2. bis 4. Mai, veranstaltet von Kulturforum Witten und WDR3, widmete sich offiziell dem Thema „Upcycling“.
Wie so häufig bei Festivals dieses Alters (1936 gegründet, seit 1969 maßgeblich vom WDR gestaltet und zuletzt 34 Jahre lang von Harry Vogt geleitet) wechseln sich eingeschliffene und altbekannte Programmstationen mit Konzepten ab, die den Staub der vergangenen Jahre abzuschütteln versuchen. Es kamen also wie üblich: der fulminante Eröffnungsabend des etablierten Ensemble Musikfabrik in Zusammenarbeit mit dem neuen Ensemble Scope, das Porträtkonzert am Vormittag mit dem Quatuor Bozzini, ein Nachwuchskonzert mit der Internationalen Ensemble Modern Akademie und Stücken junger Komponist:innen sowie Elektronik am späten Abend von Pascale Criton und – wer hätte das gedacht – von Pauline Oliveros, schließlich noch das Abschlusskonzert mit dem WDR Sinfonieorchester. Dazwischen ein Kopfhörerkonzert von Sara Glojnarić, eine Performance/Ausstellung zum Thema „Seufzen“ von Johannes Kreidler inklusive Aktionen und Growling von Giordano Bruno do Nascimento, ein Gastauftritt des Trickster Orchestra, Klaviermusik vom GrauSchumacher Piano Duo mit dem SWR Experimentalstudio sowie vokale Kammermusik mit dem Ensemble EXAUDI plus Streichtrio. Wie der Ablauf und das Konzertformat zeigte sich auch der Rahmen insgesamt wohlig in gleichem Gewand: Nach alter Manier tingelte das Publikum zwischen Saalbau, Märkischem Museum, Rudolf Steiner Schule, Werk°Stadt und Johanniskirche hin und her, diesmal ohne Ausflug ins nahe Grüne, dafür aber optional mit Community-Kochen und gemeinsamem Möbelbau mit lokalen Wittener Aktiven aus dem Wiesenviertel.

Die Kuration der Programme durch Patrick Hahn, der nach kurzer Wirkungszeit beim WDR nun ab Juni zum Ensemble intercontemporain wechselt, zeigte eine eher lose Bindung an das Festivalthema. Vielmehr hallte die Vielfalt der Formate nach. Würde man den eingeschliffenen Festivalnamen beim Wort nehmen, könnte man – auch das nichts Neues – die Frage stellen, ob sich die Wittener Tage wirklich exklusiv der neuen Kammermusik widmen und ob dieses Label in Anbetracht der kammermusikalischen DNA der neuen Musik überhaupt noch notwendig ist.
Cassandra Miller

Porträtkomponistin der Wittener Tage 2025 war die Kanadierin Cassandra Miller, deren Werke in drei der insgesamt zehn Konzerte zu hören waren. Höhepunkt ihrer Vorstellung war die deutsche Erstaufführung einer Gemeinschaftsarbeit mit Silvia Tarozzi, „Bismillah meets the Creator in Springtime“, im Abschlusskonzert. Ausgangspunkte dieser engen Zusammenarbeit waren prägende Musikereignisse und -stücke, darunter eine Performance des Oboisten Bismillah Khan sowie das Album „The Creator Has a Masterplan“ von Pharoah Sanders. Die italienische Geigerin, Sängerin und Komponistin Tarozzi legt einen Schwerpunkt auf kollaborative Prozesse und Improvisation. Und so standen nun auch beide Komponist:innen selbst improvisierend auf der Bühne, mal mit, mal ohne Text singend („We send you happiness“), während sich die Musiker:innen des WDR Sinfonieorchesters unter Leitung von Elena Schwarz paarweise im Raum verteilten. Das Ergebnis war abwechslungsreich, klangsinnlich und hörbar geprägt von musikalischen Einflüssen verschiedenster Traditionen. Vor allem aber entstand tatsächlich das Gefühl, das beide evozieren wollten: „The feeling like you have to improvise“. Ebenfalls zu hören war mit dem WDR-Orchester das Cellokonzert „Quinta Materia“ von Malika Kishino, eine Arbeit zur Elementenlehre, kompositorisch durchwirkt von gelenkter Energie und durch das von Nicolas Altstaedt virtuos gespielte Violoncello gleichsam verkörpert.
Intermedialer Zeitgeist
Die Multidimensionalität zeitgenössischer Musik stellte der Opener „#FILTER“ direkt unter Beweis. Das intermediale Konzert entstand für das Ensemble Musikfabrik unter Ägide der Komponist:innen Lucia Kilger und Clemens K. Thomas sowie der Dirigentin Friederike Scheunchen. Aussehen, Ablauf und Inhalt des Formats entsprangen offensichtlich dem aktuellen Zeitgeist, was für manche Zuschauende eine Feststellung, für manche aber auch schon eine Wertung gewesen sein dürfte. Nacheinander wurden überwiegend Uraufführungen unter teils körperlichem Einsatz des Instrumentalensembles präsentiert, mit im Hintergrund projizierten Videos und flankiert von einer Performance von Ria Rehfuß, sowie dramaturgisch eingebettet durch Licht, Ton und Video des Ensemble Scope. Gut integriert war die Triggerwarnung vor Stroboskop und Gewaltdarstellungen. Das durchgearbeitete Konzept gestaltete mit medialen Mitteln fließende Übergänge zwischen den Stücken. Wie in Rock- und Popkonzerten gab es immer Bewegung, immer Sound, immer Action, Ansprache des Publikums. Das kam von der Ästhetik her ungewohnt gewohnt aus einer anderen Alltagssphäre um die Ecke und half im Grunde dabei, die sehr unterschiedlich gearteten Werke irgendwie auf Linie zu bringen.

Nach dem agilen „Scrunchy Touch Sweetly to Fall“ von Alex Paxton schichteten sich in Kilgers „shavryon“ dunkle Klänge, Pulse und Flächen, gefolgt von „Take Me to Funkytown“ von Clemens K. Thomas. Das Stück ist eine „persönliche Auseinandersetzung mit medial vermittelter Gewalt und ihrer Wirkung“. Dass das Internet unendlich viel Platz für ekelhaften Voyeurismus bereithält, ist nichts Neues. Auch nicht, dass durch Nacherzählungen von Gewalt genau diese reproduziert wird, auch wenn diese Nacherzählungen ihrerseits nochmals nacherzählt werden (sonst wäre die Triggerwarnung umsonst gewesen, wenngleich die Gewalt nicht gezeigt wurde). Nach Jessie Marinos „NO SALT.“ ballerte schließlich Nicolas Berge mit „Terminally Online Aliens (curating your timeline for 15 mins straight)“ game-inspiriertes Bewegtbild in den Saal, wild collagiert, Beat-lastig, mit Autotune, Kinosound und in seiner Atemlosigkeit auf die Dauer ermüdender Hektik. Die Musiker:innen der Musikfabrik stellten sich nicht nur erfolgreich der Herausforderung, ein mediales Konzert mit der nötigen Energie und auch Ausdauer zu bestreiten, sondern integrierten sich nahtlos in den Sound des Abends, Singen im Chor und Tanzen inklusive. Die dramaturgisch gut inszenierte Performance von Ria Rehfuß, die in den Zwischen-Acts zusätzlich als digitales Alter Ego auf Leinwand zu sehen war, verband die Ästhetik der einzelnen Werke durch eine sanfte und zurückhaltende Performance. Erwähnenswert sind auch das szenische Gespür und das wunderschöne Kostümbild. Die erwartbare Kritik an dem Abend: Vor lauter Bildern, Drones, Aktionen, gepitchten Beats und Medienbezügen sei die Musik zu wenig zur Geltung gekommen oder habe die Musik an sich nicht genug hergegeben, weil zu repetitiv, zu banal, zu erwartbar. Unabhängig von der Bewertung der einzelnen Stücke war aber gerade die Medialität stückimmanent. Video, Performance, Aktion, Licht sind keine Add-ons, sondern müssen mitbedacht werden in der Betrachtung. Wenn auch die aufgezählten Elemente ohne die Musik nur halb wirken, dann darf auch die Musik ohne die aufgezählten Elemente unvollständig sein. Intermediale Konzerte stellen das Primat der Musik infrage, und auf diesem Festival wohl auch die Flexibilität des Wittener Fachpublikums für neue Musik. Allerdings schien der Theatersaal für das laute und bildgewaltige Konzert unpassend, hätte doch eine Clubatmosphäre dem Duktus besser entsprochen.
Stockhausen in Stockhausen
So ziemlich das Gegenteil davon war das Konzert „Plus or Minus“ mit dem gleichnamigen Werk von Ming Tsao für zwei Klaviere und Elektronik, namentlich mit Andreas Grau und Götz Schumacher an zwei Flügeln sowie Michael Acker und Eleni Ralli vom SWR Experimentalstudio mit der Klangregie. Der Komponist realisierte die zweimal sieben Partiturseiten „Plus-Minus“ von Karlheinz Stockhausen von 1963 (für variable Dauer und Besetzung) in zwei Schichten. Schon zum fünfzigjährigen Jubiläum des Werks 2013 erstellte Ming Tsao eine Fassung für Klarinette, Trompete, Posaune, Gitarre, Klavier, Violoncello, Akkordeon und Schlagwerk, die in Witten uraufgeführt wurde. Über die Grenzen des seriellen Denkens hinausgehend wurde nun aus „Plus-Minus“ „Plus or Minus“: Tsao stellt, metaphorisch gesprochen, eine Wahl (nicht hörbar) und integriert dabei nicht etwa Außermusikalisches, sondern Fragmente von Stockhausens Klavierduo „Mantra“ von 1970 – Stockhausen in Stockhausen sozusagen. Was für eingefleischte Fans sicherlich einen Höhepunkt darstellte, auch in Anbetracht der präzisen, zugleich wonnevollen und hochkonzentrierten Interpretation des GrauSchumacher Piano Duos, war für andere Zuhörende eine Prüfung von Geduld und Konzentrationsfähigkeit angesichts der nicht ablassenden Figuren, Läufe, Intervallketten und andauernden Repetitionen, ergänzt um elektronische Klänge, die durch Rückkopplung das permanent mutierende Klanggebilde unaufgeregt erweiterten.
Trickster Orchester
Dem Anlass entsprechend ein wenig zu unaufgeregt wirkte hingegen die Preisverleihung des WDR Liminal Music Prize an das Trickster Orchestra und George Lewis für „musikalisch innovative Arbeit, die traditionelle und kulturelle Grenzen überschreitet“, so die Pressemeldung des WDR. Spät am Abend nach einem vollen Festivaltag und dem Konzert des Preisträgerensembles wurde der immerhin mit 10.000 EUR dotierte Preis – soweit zumindest aus der Ferne erkennbar – herzlich, aber rasch in Form eines ungerahmten Blattes Papier übergeben, bevor dann der noch verbliebene Teil des Publikums zum Sekt strebte. Für die Zukunft wäre es wünschenswert, die Würdigung dieser musikalisch-kulturellen Arbeit auch im Rahmen der Verleihung selbst spürbar werden zu lassen. Lange Reden sind nervig, aber das Sitzfleisch ist trainiert – gerade bei einem Preis wie diesem, mit dem ausnahmsweise nicht die üblichen Preisverdächtigen wie Exzellenz, Nachwuchsarbeit oder Lebenswerk ausgezeichnet werden, sondern eben aktive transkulturelle Arbeit, ist die Ausgestaltung des Wie untrennbarer Teil der Belobigung.

Als „postmigrantisches Klangkaleidoskop“ beschreibt Cymin Samawatie das Trickster Orchestra, das sie gemeinsam mit Ketan Bhatti gegründet hat: ein basisdemokratisch arbeitendes Kollektiv mit flexibler Besetzung und Hintergründen aus Klassik, Jazz, neuer Musik und musikalischen Traditionen verschiedenster Kulturen weltweit. An diesem Abend flochten sich vier komponierte Werke von Samawatie und Bhatti, George Lewis und Ondřej Adámek in den Musikfluss mehrerer Improvisationen. Je nach Stück hätte man sich ein wenig mehr spielerische Freiheit gewünscht, gerne noch länger freie Improvisation dieses kreativen Klangkörpers gehört. Eine eindrucksvolle Wiederentdeckung war an diesem Abend die chinesische Mundorgel Sheng, die in „Nomads“ von George Lewis mit ihrem außergewöhnlichen Klang (und der spektakulären Spieltechnik) eine Sonderrolle erhielt und diese, gespielt von Wu Wei, famos ausfüllte. Stirnrunzeln erweckte die „Performance“ von Adámek, der dem Publikum, sehr nahekommend und offen zugewandt Texte rezitierte, deren pseudoschamanistischer Sinn vielen nicht zuletzt wegen sprachlicher Hürden verschlossen blieb. Das kann man als fehlende Übersetzungsleistung betrachten, man kann es aber auch als einen Beitrag zum transkulturellen Thema verstehen: Nicht immer ist ein gefühltes „Wir“ (was auch immer das sein mag) die Gruppe, die alles versteht.

Live-Podcast
Vom Wir zum Ich führte das Kopfhörerkonzert „Songs for the End of the World“ von Sara Glojnarić. In Form einer Show führte Sarah Maria Sun als Sängerin und vor allem Moderatorin das Publikum gemeinsam mit dem Kuss Quartett durch eine Stunde Hörzeit zum Thema (Welt-)Untergangsmusik. Angefangen bei der sagenumwobenen Band der untergehenden Titanic über Zeitzeugeninterviews und Hintergrundfakten zum Schiffsunglück sowie dem Lied „Nearer my god to thee“ kamen schließlich nicht nur die Musiker:innen des Quartetts, sondern auch das Publikum selbst zu Wort, Stichwort: Abgesang. Welche Musik wünscht man sich zum Ende der Welt oder zur eigenen Beerdigung? Da wurde es persönlich, intim und menschelte ganz wunderbar: die qualitativ beste live produzierte Podcast-Show seit langem. Damit trifft die Programmleitung einen Trend: die Erweiterung der Kleinkunstbühne heißt Live-Podcast. Im Vordergrund des kompakten Showformats standen die Zuhörenden und ihre ganz eigenen Musikwelten, die auf Wunsch ausschnitthaft eingespielt wurden; daher auch der Untertitel „Eine Playlist für midifiziertes Streichquartett und Stimme“. Und einmal mehr stand die Frage im Raum, wo hier eigentlich der Zusammenhang zum Festival zum einen und zur zeitgenössischen Musik zum anderen liegt. Dabei machte das Konzert durch seine unmittelbare Erfahrbarkeit deutlich, dass auch ein Festival wie die Wittener Tage im Kern wie alle anderen Festivals eine soziale Angelegenheit ist, im besten Falle auch mal feierlich und tragisch-heiter.